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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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daß dort in den letzten Jahren eine ganze
Reihe von Büchern über ihn erschienen ist,
und unter diesen nimmt das Werk von
Florence May zweifellos einen ersten Platz
ein. Doppelt erfreulich ist es, daß dieses
Buch, mag es sich auch gelegentlich zu weit
in Einzelheiten verlieren, geeignet ist, auch
dein Vaterlande des Meisters zugute zu
kommen, Dr. R, Hohenemser in Berlin

Aünstlerische Erziehung

Heller"". In der letzten Großen Kunst¬
ausstellung in Dresden traten drei oder
vier Säle aus dem Rahmen der anderen her¬
aus. Hodler und Egger-Lienz beherrschten sie.
Und man fühlte in ihnen: hier ist ein absolut
neuer mächtiger Stil nach all dem übrigen
Mittelgut. Ein Stil, der dem unruhigen
Experimentieren der sich jagenden Strömungen
entrückt ist und doch zu antworten scheint auf
die innerste Sehnsucht der Zeit. Auf ihre
Sehnsucht nach Synthese, nach heroischer Kraft,
die doch die ganze Bewegtheit, Feinfühligkeit
und den farbigen Reichtum dieser Tage in sich
aufgenommen hat.

Die künstlerische Lebensstimmung, die diese
Werke beherrscht, ist es, die auch von der
Gartenstadt Hellerau bei Dresden ausgeht
und von ihrem musikalischen Zentrum, der
Dalcrozeschen Bildungsanstalt für rhythmische
Gymnastik. Mit Schulfesten, nicht mit Fest¬
spielen trat diese Akademie, die unserm Leben
etwas von griechischer Totalität wiedergeben
will, dieses Jahr vor die größere Öffentlich¬
keit. Den Begriff einer neuen Schönheit muß
der Besucher von diesen Festspielen mit sich
nehmen und das Erlebnis wirklicher Weihe¬
stunden. Ein Symbol moderner Kultur, ein
Brennpunkt ihrer produktiven Kräfte, das ist
der Gesamteindruck von Hellerau.

Eine ganze Reihe von Znkunftstendenzen
findet in dieser freudigen Gartenstadt ihre
Erfüllung. Nur der zusammenfassende Aus¬
druck eines bestimmten kulmrellen Lebens ist
die Schule des Professors Dalcroze; diese
Kunst scheint emporgewachsen aus dem ein¬
heitlichen Lebensgefühle des sozialen Organis¬
mus, den dieses Jdealstädtchen bildet. Da ist
zunächst der große soziale Gedanke, den
Hellerau verwirklicht. In abstrakto scheint die
Lösung der sozialen Frage auf dem Wege der

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ästhetischen Erziehung wie ideologisches Gerede.
Aber in Hellerau sehen wir die gesunden billigen
Arbeiterwohnungen, die von den ersten modernen
Architekten geschaffen wurden; Wir sehen Ar¬
beiterfamilien in Muthesiushäusern wohnen;
diese winzigen Häuser, die in ihrer organi¬
schen Verbindung den modernen Städtebauer
entzücken, wirken unendlich viel vornehmer
als die Uberladenheit mancher Millionärs¬
paläste. So ist in Hellerau tatsächlich etwas
von jener hochfliegenden Idee verwirklicht.
Alle Trostlosigkeit der uniformen Arbeiter¬
viertel der Großstadt scheint hier versunken wie
ein trauriger Traum. Hier wächst besonders
das Arbeiterkind in schöner Umgebung undunter
Eindrücken auf, die seine Sinne bilden:
meist geht es auch schon in den "Rhythmus"
zu dem genialen Erzieher, der sich den Helle-
rauer Kindern mit besonderer Liebe widmet.
Wie in Hellerau alles seinen Plastischen Aus¬
druck findet, so ist der Gedanke eines neuen
vornehmen Arbeiterstandes gleichfalls in einem
mächtigen Gebäude verkörpert. Wie ein Palast
wirken in der Anmut der Gartenstadt die
"Deutschen Werkstätten". Aber wie ein Palast
der Arbeit: voll jener herben Freundlichkeit,
die eine helle Atmosphäre von Praktischer
Intelligenz, von Gesundheit und Lebensfreude
verbreitet. Arbeit ist Lebensfreude, Arbeit ist
Adel, das ruft uns dieser eigenartige Fabrik¬
bau zu. Die moderne Fabrik beherrscht
Hellerau und teilt diese Herrschaft mit dem
modernen Tempel der rhythmischen Kunst.
"Arbeit und Rhythmus" grüßen sich hier in
stolzen Symbolen und schaffen gemeinsam an
einer neuen sozialen Gemeinschaft.

Das von Tessenow erbaute Haus der
Bildungsanstalt setzt den Stil der Garten¬
stadt fort, um ihn weit über sich selbst hinaus
zu steigern. Freundlich grüßt uns die "Musik¬
scheune", wie die Soldaten vom Exerzierplatz
in derNühe HellerauS den "Rhythmus" nennen,
über die Kornfelder hin. Stehen wir aber
unmittelbar davor, so wirkt das Gebäude
Tessenows streng, feierlich und erhaben. Die
puritanische Einfachheit der nackten, rechteckigen,
ohne jegliche Verschnörkelung in glatter Ver¬
tikale emporgeführtcn Säulen ist überwältigend.
Etwas von der unerbittlichen Gesetzlichkeit des
musikalischen Rhythmus Prägt sich in der ihm
geweihten Akademie aus. Aber gerade durch

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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daß dort in den letzten Jahren eine ganze
Reihe von Büchern über ihn erschienen ist,
und unter diesen nimmt das Werk von
Florence May zweifellos einen ersten Platz
ein. Doppelt erfreulich ist es, daß dieses
Buch, mag es sich auch gelegentlich zu weit
in Einzelheiten verlieren, geeignet ist, auch
dein Vaterlande des Meisters zugute zu
kommen, Dr. R, Hohenemser in Berlin

Aünstlerische Erziehung

Heller«». In der letzten Großen Kunst¬
ausstellung in Dresden traten drei oder
vier Säle aus dem Rahmen der anderen her¬
aus. Hodler und Egger-Lienz beherrschten sie.
Und man fühlte in ihnen: hier ist ein absolut
neuer mächtiger Stil nach all dem übrigen
Mittelgut. Ein Stil, der dem unruhigen
Experimentieren der sich jagenden Strömungen
entrückt ist und doch zu antworten scheint auf
die innerste Sehnsucht der Zeit. Auf ihre
Sehnsucht nach Synthese, nach heroischer Kraft,
die doch die ganze Bewegtheit, Feinfühligkeit
und den farbigen Reichtum dieser Tage in sich
aufgenommen hat.

Die künstlerische Lebensstimmung, die diese
Werke beherrscht, ist es, die auch von der
Gartenstadt Hellerau bei Dresden ausgeht
und von ihrem musikalischen Zentrum, der
Dalcrozeschen Bildungsanstalt für rhythmische
Gymnastik. Mit Schulfesten, nicht mit Fest¬
spielen trat diese Akademie, die unserm Leben
etwas von griechischer Totalität wiedergeben
will, dieses Jahr vor die größere Öffentlich¬
keit. Den Begriff einer neuen Schönheit muß
der Besucher von diesen Festspielen mit sich
nehmen und das Erlebnis wirklicher Weihe¬
stunden. Ein Symbol moderner Kultur, ein
Brennpunkt ihrer produktiven Kräfte, das ist
der Gesamteindruck von Hellerau.

Eine ganze Reihe von Znkunftstendenzen
findet in dieser freudigen Gartenstadt ihre
Erfüllung. Nur der zusammenfassende Aus¬
druck eines bestimmten kulmrellen Lebens ist
die Schule des Professors Dalcroze; diese
Kunst scheint emporgewachsen aus dem ein¬
heitlichen Lebensgefühle des sozialen Organis¬
mus, den dieses Jdealstädtchen bildet. Da ist
zunächst der große soziale Gedanke, den
Hellerau verwirklicht. In abstrakto scheint die
Lösung der sozialen Frage auf dem Wege der

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ästhetischen Erziehung wie ideologisches Gerede.
Aber in Hellerau sehen wir die gesunden billigen
Arbeiterwohnungen, die von den ersten modernen
Architekten geschaffen wurden; Wir sehen Ar¬
beiterfamilien in Muthesiushäusern wohnen;
diese winzigen Häuser, die in ihrer organi¬
schen Verbindung den modernen Städtebauer
entzücken, wirken unendlich viel vornehmer
als die Uberladenheit mancher Millionärs¬
paläste. So ist in Hellerau tatsächlich etwas
von jener hochfliegenden Idee verwirklicht.
Alle Trostlosigkeit der uniformen Arbeiter¬
viertel der Großstadt scheint hier versunken wie
ein trauriger Traum. Hier wächst besonders
das Arbeiterkind in schöner Umgebung undunter
Eindrücken auf, die seine Sinne bilden:
meist geht es auch schon in den „Rhythmus"
zu dem genialen Erzieher, der sich den Helle-
rauer Kindern mit besonderer Liebe widmet.
Wie in Hellerau alles seinen Plastischen Aus¬
druck findet, so ist der Gedanke eines neuen
vornehmen Arbeiterstandes gleichfalls in einem
mächtigen Gebäude verkörpert. Wie ein Palast
wirken in der Anmut der Gartenstadt die
„Deutschen Werkstätten". Aber wie ein Palast
der Arbeit: voll jener herben Freundlichkeit,
die eine helle Atmosphäre von Praktischer
Intelligenz, von Gesundheit und Lebensfreude
verbreitet. Arbeit ist Lebensfreude, Arbeit ist
Adel, das ruft uns dieser eigenartige Fabrik¬
bau zu. Die moderne Fabrik beherrscht
Hellerau und teilt diese Herrschaft mit dem
modernen Tempel der rhythmischen Kunst.
„Arbeit und Rhythmus" grüßen sich hier in
stolzen Symbolen und schaffen gemeinsam an
einer neuen sozialen Gemeinschaft.

Das von Tessenow erbaute Haus der
Bildungsanstalt setzt den Stil der Garten¬
stadt fort, um ihn weit über sich selbst hinaus
zu steigern. Freundlich grüßt uns die „Musik¬
scheune", wie die Soldaten vom Exerzierplatz
in derNühe HellerauS den „Rhythmus" nennen,
über die Kornfelder hin. Stehen wir aber
unmittelbar davor, so wirkt das Gebäude
Tessenows streng, feierlich und erhaben. Die
puritanische Einfachheit der nackten, rechteckigen,
ohne jegliche Verschnörkelung in glatter Ver¬
tikale emporgeführtcn Säulen ist überwältigend.
Etwas von der unerbittlichen Gesetzlichkeit des
musikalischen Rhythmus Prägt sich in der ihm
geweihten Akademie aus. Aber gerade durch

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[0210] Maßgebliches und Unmaßgebliches daß dort in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Büchern über ihn erschienen ist, und unter diesen nimmt das Werk von Florence May zweifellos einen ersten Platz ein. Doppelt erfreulich ist es, daß dieses Buch, mag es sich auch gelegentlich zu weit in Einzelheiten verlieren, geeignet ist, auch dein Vaterlande des Meisters zugute zu kommen, Dr. R, Hohenemser in Berlin Aünstlerische Erziehung Heller«». In der letzten Großen Kunst¬ ausstellung in Dresden traten drei oder vier Säle aus dem Rahmen der anderen her¬ aus. Hodler und Egger-Lienz beherrschten sie. Und man fühlte in ihnen: hier ist ein absolut neuer mächtiger Stil nach all dem übrigen Mittelgut. Ein Stil, der dem unruhigen Experimentieren der sich jagenden Strömungen entrückt ist und doch zu antworten scheint auf die innerste Sehnsucht der Zeit. Auf ihre Sehnsucht nach Synthese, nach heroischer Kraft, die doch die ganze Bewegtheit, Feinfühligkeit und den farbigen Reichtum dieser Tage in sich aufgenommen hat. Die künstlerische Lebensstimmung, die diese Werke beherrscht, ist es, die auch von der Gartenstadt Hellerau bei Dresden ausgeht und von ihrem musikalischen Zentrum, der Dalcrozeschen Bildungsanstalt für rhythmische Gymnastik. Mit Schulfesten, nicht mit Fest¬ spielen trat diese Akademie, die unserm Leben etwas von griechischer Totalität wiedergeben will, dieses Jahr vor die größere Öffentlich¬ keit. Den Begriff einer neuen Schönheit muß der Besucher von diesen Festspielen mit sich nehmen und das Erlebnis wirklicher Weihe¬ stunden. Ein Symbol moderner Kultur, ein Brennpunkt ihrer produktiven Kräfte, das ist der Gesamteindruck von Hellerau. Eine ganze Reihe von Znkunftstendenzen findet in dieser freudigen Gartenstadt ihre Erfüllung. Nur der zusammenfassende Aus¬ druck eines bestimmten kulmrellen Lebens ist die Schule des Professors Dalcroze; diese Kunst scheint emporgewachsen aus dem ein¬ heitlichen Lebensgefühle des sozialen Organis¬ mus, den dieses Jdealstädtchen bildet. Da ist zunächst der große soziale Gedanke, den Hellerau verwirklicht. In abstrakto scheint die Lösung der sozialen Frage auf dem Wege der ästhetischen Erziehung wie ideologisches Gerede. Aber in Hellerau sehen wir die gesunden billigen Arbeiterwohnungen, die von den ersten modernen Architekten geschaffen wurden; Wir sehen Ar¬ beiterfamilien in Muthesiushäusern wohnen; diese winzigen Häuser, die in ihrer organi¬ schen Verbindung den modernen Städtebauer entzücken, wirken unendlich viel vornehmer als die Uberladenheit mancher Millionärs¬ paläste. So ist in Hellerau tatsächlich etwas von jener hochfliegenden Idee verwirklicht. Alle Trostlosigkeit der uniformen Arbeiter¬ viertel der Großstadt scheint hier versunken wie ein trauriger Traum. Hier wächst besonders das Arbeiterkind in schöner Umgebung undunter Eindrücken auf, die seine Sinne bilden: meist geht es auch schon in den „Rhythmus" zu dem genialen Erzieher, der sich den Helle- rauer Kindern mit besonderer Liebe widmet. Wie in Hellerau alles seinen Plastischen Aus¬ druck findet, so ist der Gedanke eines neuen vornehmen Arbeiterstandes gleichfalls in einem mächtigen Gebäude verkörpert. Wie ein Palast wirken in der Anmut der Gartenstadt die „Deutschen Werkstätten". Aber wie ein Palast der Arbeit: voll jener herben Freundlichkeit, die eine helle Atmosphäre von Praktischer Intelligenz, von Gesundheit und Lebensfreude verbreitet. Arbeit ist Lebensfreude, Arbeit ist Adel, das ruft uns dieser eigenartige Fabrik¬ bau zu. Die moderne Fabrik beherrscht Hellerau und teilt diese Herrschaft mit dem modernen Tempel der rhythmischen Kunst. „Arbeit und Rhythmus" grüßen sich hier in stolzen Symbolen und schaffen gemeinsam an einer neuen sozialen Gemeinschaft. Das von Tessenow erbaute Haus der Bildungsanstalt setzt den Stil der Garten¬ stadt fort, um ihn weit über sich selbst hinaus zu steigern. Freundlich grüßt uns die „Musik¬ scheune", wie die Soldaten vom Exerzierplatz in derNühe HellerauS den „Rhythmus" nennen, über die Kornfelder hin. Stehen wir aber unmittelbar davor, so wirkt das Gebäude Tessenows streng, feierlich und erhaben. Die puritanische Einfachheit der nackten, rechteckigen, ohne jegliche Verschnörkelung in glatter Ver¬ tikale emporgeführtcn Säulen ist überwältigend. Etwas von der unerbittlichen Gesetzlichkeit des musikalischen Rhythmus Prägt sich in der ihm geweihten Akademie aus. Aber gerade durch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/210>, abgerufen am 26.06.2024.