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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Das Grotesk

Wird NUN die abendländische Kunst, die Phidias, Raffael, Rembrandt
hervorgebracht hat, zu einer Kunst der Mexikaner zurücksinken, die Architektur,
die an griechischen Tempeln, gotischen Domen und italienischen Palästen geschult
ist, uns den indischen Pagoden ähnliche Formlosigkeiten bescheren?

Wir wollen das nicht befürchten; und zwar, neben allen anderen Gründen,
auch deshalb: mag immerhin die lebendige Kunst, die stets ein Ausdruck ihrer
Zeit sein will, sich gedrängt fühlen, unseren Zustand der Sinnlosigkeit, des
Nietzscheschen Nihilismus ästhetisch wiederzugeben; diese Kunst des Unsinns --
die kein Unsinn der Kunst zu sein braucht -- ist kein Ziel, sondern ein Über¬
gang; denn der Zustand, den sie ausdrückt, ist ein Übergang und wird über¬
wunden werden. Wir streben' ja gerade aus der Sinnlosigkeit nach einem neuen
Sinn, aus der Zwecklosigkeit der Zwecke nach einem letzten Zweck. Das Be¬
dürfnis nach ästhetischer Objektivierung ist selbst ein Zeichen dieses Strebens, ein
erster Versuch, die Qual loszuwerden.

Auch ist Kunst der Sinnlosigkeit ein Widerspruch in sich selbst. Höchste
Kunst ist Überwindung aller Sinnlosigkeit, ist vollkommener Sinn, Harmonie,
Kosmos. Jenen neuen Stil werden also gerade die besten Künstler am
kräftigsten zu vermeiden streben; seine Entwicklung scheint mehr den Talenten,
mehr den genialischer als den genialen Naturen obzuliegen, mehr jenem Künstler¬
typus, der von der Klassizität weg anstatt zu ihr hin strebt. Ein gewisser
Mangel echter Künstlerschaft ist unzweifelhaft den Vertretern des Neuen eigen.
Bezeichnend hierfür ist -- neben dem noch immer verdächtigen Scheerbarth --
der wohl jetzt endgültig legitimierte Wedekind. Man kann das Schaffen dieses
schwer zu begreifenden Dichters zusammenfassen als den immer wiederholten
Versuch, den absoluten Unsinn des Lebens, den bald lächerlichen, bald grausigen
Wahnsinn des Daseins dramatisch zu formulieren. Und gerade bei ihm
ist der Mangel des letzten und echten Gestaltungsvermögens fast immer peinlich
fühlbar.

Noch etwas anderes spricht gegen den Stil des Unsinns: diese Kunst ist
Stadtkunst, genauer Großstadtkunst, ja in nicht geringem Maße berlinische Kunst,
im üblen Sinne des Wortes; (nicht umsonst pflegen manche Essayisten den
saloppen Berliner Straßenjargon.) Kein Wunder! Das, was hier nach Aus¬
druck strebt und was man noch vor kurzem Dekadencc nannte, setzt Hyperkultur,
Naturserne, Naturfremdheit voraus. Die große Kunst aber wird immer wieder
die große Natur suchen und sich nach ihr orientieren. Dem Menschen jedoch,
zu dem das Meer, der Wald, der Sternenhimmel vernehmlich sprechen, kann
die Sinnlosigkeit des Daseins vielleicht ein Erkenntnisproblem, nimmer aber ein
Lebensgefühl werden.

Seien wir immerhin darauf gefaßt, daß der Stil des Grotesken und
Bizarren, des Wahnsinns und der Perverston Mode wird und sich sehr laut
macht: die große Linie der Entwicklung wird, über diesen Zeitstil hinweg oder
darunter verborgen, ganz anders verlaufen. Denn unser Kunstwille strebt nach


Das Grotesk

Wird NUN die abendländische Kunst, die Phidias, Raffael, Rembrandt
hervorgebracht hat, zu einer Kunst der Mexikaner zurücksinken, die Architektur,
die an griechischen Tempeln, gotischen Domen und italienischen Palästen geschult
ist, uns den indischen Pagoden ähnliche Formlosigkeiten bescheren?

Wir wollen das nicht befürchten; und zwar, neben allen anderen Gründen,
auch deshalb: mag immerhin die lebendige Kunst, die stets ein Ausdruck ihrer
Zeit sein will, sich gedrängt fühlen, unseren Zustand der Sinnlosigkeit, des
Nietzscheschen Nihilismus ästhetisch wiederzugeben; diese Kunst des Unsinns —
die kein Unsinn der Kunst zu sein braucht — ist kein Ziel, sondern ein Über¬
gang; denn der Zustand, den sie ausdrückt, ist ein Übergang und wird über¬
wunden werden. Wir streben' ja gerade aus der Sinnlosigkeit nach einem neuen
Sinn, aus der Zwecklosigkeit der Zwecke nach einem letzten Zweck. Das Be¬
dürfnis nach ästhetischer Objektivierung ist selbst ein Zeichen dieses Strebens, ein
erster Versuch, die Qual loszuwerden.

Auch ist Kunst der Sinnlosigkeit ein Widerspruch in sich selbst. Höchste
Kunst ist Überwindung aller Sinnlosigkeit, ist vollkommener Sinn, Harmonie,
Kosmos. Jenen neuen Stil werden also gerade die besten Künstler am
kräftigsten zu vermeiden streben; seine Entwicklung scheint mehr den Talenten,
mehr den genialischer als den genialen Naturen obzuliegen, mehr jenem Künstler¬
typus, der von der Klassizität weg anstatt zu ihr hin strebt. Ein gewisser
Mangel echter Künstlerschaft ist unzweifelhaft den Vertretern des Neuen eigen.
Bezeichnend hierfür ist — neben dem noch immer verdächtigen Scheerbarth —
der wohl jetzt endgültig legitimierte Wedekind. Man kann das Schaffen dieses
schwer zu begreifenden Dichters zusammenfassen als den immer wiederholten
Versuch, den absoluten Unsinn des Lebens, den bald lächerlichen, bald grausigen
Wahnsinn des Daseins dramatisch zu formulieren. Und gerade bei ihm
ist der Mangel des letzten und echten Gestaltungsvermögens fast immer peinlich
fühlbar.

Noch etwas anderes spricht gegen den Stil des Unsinns: diese Kunst ist
Stadtkunst, genauer Großstadtkunst, ja in nicht geringem Maße berlinische Kunst,
im üblen Sinne des Wortes; (nicht umsonst pflegen manche Essayisten den
saloppen Berliner Straßenjargon.) Kein Wunder! Das, was hier nach Aus¬
druck strebt und was man noch vor kurzem Dekadencc nannte, setzt Hyperkultur,
Naturserne, Naturfremdheit voraus. Die große Kunst aber wird immer wieder
die große Natur suchen und sich nach ihr orientieren. Dem Menschen jedoch,
zu dem das Meer, der Wald, der Sternenhimmel vernehmlich sprechen, kann
die Sinnlosigkeit des Daseins vielleicht ein Erkenntnisproblem, nimmer aber ein
Lebensgefühl werden.

Seien wir immerhin darauf gefaßt, daß der Stil des Grotesken und
Bizarren, des Wahnsinns und der Perverston Mode wird und sich sehr laut
macht: die große Linie der Entwicklung wird, über diesen Zeitstil hinweg oder
darunter verborgen, ganz anders verlaufen. Denn unser Kunstwille strebt nach


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[0196] Das Grotesk Wird NUN die abendländische Kunst, die Phidias, Raffael, Rembrandt hervorgebracht hat, zu einer Kunst der Mexikaner zurücksinken, die Architektur, die an griechischen Tempeln, gotischen Domen und italienischen Palästen geschult ist, uns den indischen Pagoden ähnliche Formlosigkeiten bescheren? Wir wollen das nicht befürchten; und zwar, neben allen anderen Gründen, auch deshalb: mag immerhin die lebendige Kunst, die stets ein Ausdruck ihrer Zeit sein will, sich gedrängt fühlen, unseren Zustand der Sinnlosigkeit, des Nietzscheschen Nihilismus ästhetisch wiederzugeben; diese Kunst des Unsinns — die kein Unsinn der Kunst zu sein braucht — ist kein Ziel, sondern ein Über¬ gang; denn der Zustand, den sie ausdrückt, ist ein Übergang und wird über¬ wunden werden. Wir streben' ja gerade aus der Sinnlosigkeit nach einem neuen Sinn, aus der Zwecklosigkeit der Zwecke nach einem letzten Zweck. Das Be¬ dürfnis nach ästhetischer Objektivierung ist selbst ein Zeichen dieses Strebens, ein erster Versuch, die Qual loszuwerden. Auch ist Kunst der Sinnlosigkeit ein Widerspruch in sich selbst. Höchste Kunst ist Überwindung aller Sinnlosigkeit, ist vollkommener Sinn, Harmonie, Kosmos. Jenen neuen Stil werden also gerade die besten Künstler am kräftigsten zu vermeiden streben; seine Entwicklung scheint mehr den Talenten, mehr den genialischer als den genialen Naturen obzuliegen, mehr jenem Künstler¬ typus, der von der Klassizität weg anstatt zu ihr hin strebt. Ein gewisser Mangel echter Künstlerschaft ist unzweifelhaft den Vertretern des Neuen eigen. Bezeichnend hierfür ist — neben dem noch immer verdächtigen Scheerbarth — der wohl jetzt endgültig legitimierte Wedekind. Man kann das Schaffen dieses schwer zu begreifenden Dichters zusammenfassen als den immer wiederholten Versuch, den absoluten Unsinn des Lebens, den bald lächerlichen, bald grausigen Wahnsinn des Daseins dramatisch zu formulieren. Und gerade bei ihm ist der Mangel des letzten und echten Gestaltungsvermögens fast immer peinlich fühlbar. Noch etwas anderes spricht gegen den Stil des Unsinns: diese Kunst ist Stadtkunst, genauer Großstadtkunst, ja in nicht geringem Maße berlinische Kunst, im üblen Sinne des Wortes; (nicht umsonst pflegen manche Essayisten den saloppen Berliner Straßenjargon.) Kein Wunder! Das, was hier nach Aus¬ druck strebt und was man noch vor kurzem Dekadencc nannte, setzt Hyperkultur, Naturserne, Naturfremdheit voraus. Die große Kunst aber wird immer wieder die große Natur suchen und sich nach ihr orientieren. Dem Menschen jedoch, zu dem das Meer, der Wald, der Sternenhimmel vernehmlich sprechen, kann die Sinnlosigkeit des Daseins vielleicht ein Erkenntnisproblem, nimmer aber ein Lebensgefühl werden. Seien wir immerhin darauf gefaßt, daß der Stil des Grotesken und Bizarren, des Wahnsinns und der Perverston Mode wird und sich sehr laut macht: die große Linie der Entwicklung wird, über diesen Zeitstil hinweg oder darunter verborgen, ganz anders verlaufen. Denn unser Kunstwille strebt nach

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/196>, abgerufen am 22.12.2024.