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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Das Grotesk

lismus mitten drinnen. Eine Unzahl von Einzel- und Teilzwecken werden mit
grandioser Energie verfolgt, mit riesig aufgespeicherten Mitteln und nie erlebtem
Können erreicht -- aber der Zweck aller dieser Zwecke fehlt. Das Menschen¬
geschlecht müht und plagt sich, arbeitet, erfindet, entdeckt, häuft und sammelt,
es setzt die ganze Natur nach seinem Willen in Bewegung, und schließlich weiß
doch keiner, wozu. Für den nun, der die letzte Sinn- und Ziellosigkeit des
heutigen Europa deutlich empfindet, hat dieser geschäftige Eifer etwas Grausig-
Lächerliches. Die Menschheit scheint einen Narrentanz aufzuführen, mit albern
übertriebenen Gebärden und sinnlosen Verrenkungen. Zu den vielen Zeichen,
daß wir nach einer Erneuerung der Religion als nach einer neuen Recht¬
fertigung des Daseins lechzen, gehört diese heute weitverbreitete Empfindung
des Unsinnigen unseres Lebenszuschnittes.

Das Gefühl des Verkehrten, Unhaltbaren des gegenwärtigen Zustandes
hat nun bereits eine solche Stärke gewonnen, daß es nach ästhetischem Ausdruck,
nach Objektivierung durch die Kunst verlangt. Die Sinnlosigkeit, ins Ästhetische
projiziert, ergibt das Groteske. Grotesk ist die als ästhetisch reizvoll empfundene
Ziel- und Zwecklosigkeit. Grotesk ist nicht das Fehlen des Zusammenhangs,
sondern sein Vermeiden. Grotesk ist die Schönheit des Unsinns.

Und damit haben wir die Formel gefunden für eine allerjüngste und
zukünftige Kunst, die unter mancherlei Namen, und noch nicht ganz ihrer selbst
bewußt, hier und da sichtbar wird. Was da in unserer Mitte vorgeht, ent¬
springt dem starken Drange zu stilisieren, aber nicht ins sogenannte Schöne
oder Heroische oder Idyllische, sondern ins Bizarre, Wahnsinnige, in die Phan¬
tasie des Angsttraumes, der das Alpdrücken begleitet, ins Perverse und Groteske.

Daß es sich -- unserem Gefühle zum Trotz -- um Kunst handelt, beweist
der energische Wille zum Stil, wenn es auch der Stil der Verrücktheit ist. Und
daß dieser Wille nicht erklügelter Originalitätssucht entspringt, sondern daß ein
bestimmtes und allgemeines Lebensgefühl nach Ausdruck ringt, das wird uns
klar, wenn wir bedenken, eine wie große Rolle das Groteske auch sonst und
schon längst in unserem Leben spielt.

Der Zusammenhang unserer Kultur oder Unkultur mit dem Vari6t6 ist
oft bemerkt worden. Und das Variötö, in das bis vor kurzem alle Welt lief,
ist der System gewordene Unsinn. Mit innigem Behagen haben wir jenen
englischen Exzentrikkomikern zugesehen, die im Kostüm eines Verrückten eine
halbe Stunde lang mit großem Aufwand von Apparaten absoluten Unsinn
produzieren durften. Mit einer Art Wollust betreiben wir die kindischen Ver¬
gnügungen, die uns der Lunapark bietet. Die Tänze unserer Eltern werden
verdrängt durch neue, die von den vertrackten Bewegungen tanzender Wilder
abgeleitet scheinen, nicht etwa aus ethnologischen oder kolonialen Interessen
unserer Gesellschaft, sondern aus Freude an der Sinnlosigkeit. Nicht zuletzt auch
am Perversen. Das Perverse -- im Vertrauen gesagt -- spielt nicht nur in
Gerichtssälen und Zeitungen, sondern auch in Haltung, Bewegung und Kleidung


Das Grotesk

lismus mitten drinnen. Eine Unzahl von Einzel- und Teilzwecken werden mit
grandioser Energie verfolgt, mit riesig aufgespeicherten Mitteln und nie erlebtem
Können erreicht — aber der Zweck aller dieser Zwecke fehlt. Das Menschen¬
geschlecht müht und plagt sich, arbeitet, erfindet, entdeckt, häuft und sammelt,
es setzt die ganze Natur nach seinem Willen in Bewegung, und schließlich weiß
doch keiner, wozu. Für den nun, der die letzte Sinn- und Ziellosigkeit des
heutigen Europa deutlich empfindet, hat dieser geschäftige Eifer etwas Grausig-
Lächerliches. Die Menschheit scheint einen Narrentanz aufzuführen, mit albern
übertriebenen Gebärden und sinnlosen Verrenkungen. Zu den vielen Zeichen,
daß wir nach einer Erneuerung der Religion als nach einer neuen Recht¬
fertigung des Daseins lechzen, gehört diese heute weitverbreitete Empfindung
des Unsinnigen unseres Lebenszuschnittes.

Das Gefühl des Verkehrten, Unhaltbaren des gegenwärtigen Zustandes
hat nun bereits eine solche Stärke gewonnen, daß es nach ästhetischem Ausdruck,
nach Objektivierung durch die Kunst verlangt. Die Sinnlosigkeit, ins Ästhetische
projiziert, ergibt das Groteske. Grotesk ist die als ästhetisch reizvoll empfundene
Ziel- und Zwecklosigkeit. Grotesk ist nicht das Fehlen des Zusammenhangs,
sondern sein Vermeiden. Grotesk ist die Schönheit des Unsinns.

Und damit haben wir die Formel gefunden für eine allerjüngste und
zukünftige Kunst, die unter mancherlei Namen, und noch nicht ganz ihrer selbst
bewußt, hier und da sichtbar wird. Was da in unserer Mitte vorgeht, ent¬
springt dem starken Drange zu stilisieren, aber nicht ins sogenannte Schöne
oder Heroische oder Idyllische, sondern ins Bizarre, Wahnsinnige, in die Phan¬
tasie des Angsttraumes, der das Alpdrücken begleitet, ins Perverse und Groteske.

Daß es sich — unserem Gefühle zum Trotz — um Kunst handelt, beweist
der energische Wille zum Stil, wenn es auch der Stil der Verrücktheit ist. Und
daß dieser Wille nicht erklügelter Originalitätssucht entspringt, sondern daß ein
bestimmtes und allgemeines Lebensgefühl nach Ausdruck ringt, das wird uns
klar, wenn wir bedenken, eine wie große Rolle das Groteske auch sonst und
schon längst in unserem Leben spielt.

Der Zusammenhang unserer Kultur oder Unkultur mit dem Vari6t6 ist
oft bemerkt worden. Und das Variötö, in das bis vor kurzem alle Welt lief,
ist der System gewordene Unsinn. Mit innigem Behagen haben wir jenen
englischen Exzentrikkomikern zugesehen, die im Kostüm eines Verrückten eine
halbe Stunde lang mit großem Aufwand von Apparaten absoluten Unsinn
produzieren durften. Mit einer Art Wollust betreiben wir die kindischen Ver¬
gnügungen, die uns der Lunapark bietet. Die Tänze unserer Eltern werden
verdrängt durch neue, die von den vertrackten Bewegungen tanzender Wilder
abgeleitet scheinen, nicht etwa aus ethnologischen oder kolonialen Interessen
unserer Gesellschaft, sondern aus Freude an der Sinnlosigkeit. Nicht zuletzt auch
am Perversen. Das Perverse — im Vertrauen gesagt — spielt nicht nur in
Gerichtssälen und Zeitungen, sondern auch in Haltung, Bewegung und Kleidung


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[0194] Das Grotesk lismus mitten drinnen. Eine Unzahl von Einzel- und Teilzwecken werden mit grandioser Energie verfolgt, mit riesig aufgespeicherten Mitteln und nie erlebtem Können erreicht — aber der Zweck aller dieser Zwecke fehlt. Das Menschen¬ geschlecht müht und plagt sich, arbeitet, erfindet, entdeckt, häuft und sammelt, es setzt die ganze Natur nach seinem Willen in Bewegung, und schließlich weiß doch keiner, wozu. Für den nun, der die letzte Sinn- und Ziellosigkeit des heutigen Europa deutlich empfindet, hat dieser geschäftige Eifer etwas Grausig- Lächerliches. Die Menschheit scheint einen Narrentanz aufzuführen, mit albern übertriebenen Gebärden und sinnlosen Verrenkungen. Zu den vielen Zeichen, daß wir nach einer Erneuerung der Religion als nach einer neuen Recht¬ fertigung des Daseins lechzen, gehört diese heute weitverbreitete Empfindung des Unsinnigen unseres Lebenszuschnittes. Das Gefühl des Verkehrten, Unhaltbaren des gegenwärtigen Zustandes hat nun bereits eine solche Stärke gewonnen, daß es nach ästhetischem Ausdruck, nach Objektivierung durch die Kunst verlangt. Die Sinnlosigkeit, ins Ästhetische projiziert, ergibt das Groteske. Grotesk ist die als ästhetisch reizvoll empfundene Ziel- und Zwecklosigkeit. Grotesk ist nicht das Fehlen des Zusammenhangs, sondern sein Vermeiden. Grotesk ist die Schönheit des Unsinns. Und damit haben wir die Formel gefunden für eine allerjüngste und zukünftige Kunst, die unter mancherlei Namen, und noch nicht ganz ihrer selbst bewußt, hier und da sichtbar wird. Was da in unserer Mitte vorgeht, ent¬ springt dem starken Drange zu stilisieren, aber nicht ins sogenannte Schöne oder Heroische oder Idyllische, sondern ins Bizarre, Wahnsinnige, in die Phan¬ tasie des Angsttraumes, der das Alpdrücken begleitet, ins Perverse und Groteske. Daß es sich — unserem Gefühle zum Trotz — um Kunst handelt, beweist der energische Wille zum Stil, wenn es auch der Stil der Verrücktheit ist. Und daß dieser Wille nicht erklügelter Originalitätssucht entspringt, sondern daß ein bestimmtes und allgemeines Lebensgefühl nach Ausdruck ringt, das wird uns klar, wenn wir bedenken, eine wie große Rolle das Groteske auch sonst und schon längst in unserem Leben spielt. Der Zusammenhang unserer Kultur oder Unkultur mit dem Vari6t6 ist oft bemerkt worden. Und das Variötö, in das bis vor kurzem alle Welt lief, ist der System gewordene Unsinn. Mit innigem Behagen haben wir jenen englischen Exzentrikkomikern zugesehen, die im Kostüm eines Verrückten eine halbe Stunde lang mit großem Aufwand von Apparaten absoluten Unsinn produzieren durften. Mit einer Art Wollust betreiben wir die kindischen Ver¬ gnügungen, die uns der Lunapark bietet. Die Tänze unserer Eltern werden verdrängt durch neue, die von den vertrackten Bewegungen tanzender Wilder abgeleitet scheinen, nicht etwa aus ethnologischen oder kolonialen Interessen unserer Gesellschaft, sondern aus Freude an der Sinnlosigkeit. Nicht zuletzt auch am Perversen. Das Perverse — im Vertrauen gesagt — spielt nicht nur in Gerichtssälen und Zeitungen, sondern auch in Haltung, Bewegung und Kleidung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/194>, abgerufen am 22.12.2024.