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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Das Grotesk

glänzender rechtfertigen, als wenn wir in ihnen das Gegenteil alles sinnvollen,
Natürlichen, Harmonischen entdecken.

Man wird glauben, ich ironisiere hochmütig. Man mißversteht mich. Zwar
weiß ich nicht, ob ein einziges dieser Originalge^ich ernst zu nehmen ist; aber
liaß die Bewegung, deren Führer oder Werkzeug sie sind, ernst genommen
werden will, davon bin ich ganz durchdrungen.

Diese Zukünftigen so obenhin abzufertigen, sollte man schon aus einigen
äußerlichen Gründen sich hüten. Es gibt zu denken, daß die Bewegung, die
beinahe den Eindruck einer Geisteskrankheit macht, gleichzeitig an verschiedenen,
weit auseinanderliegenden Orten auftaucht. Noch auffälliger ist, daß sie gleich--
zeitig in verschiedenen Künsten sich regt; am deutlichsten in der Literatur; aber
auch in Zeichnung und Malerei, unter mancherlei Namen und mit anderen
Strebungen vermischt. Ihre Vertreter haben den Drang, sich zu geschlossener
Phalanx zu gruppieren; sie bilden Schulen, und so werden sie, nach allen
früheren Erfahrungen, Schule machen. Diese Symptome, wie gesagt, sollten uns
Philister zur Vorsicht mahnen. Es kommt aber noch eine innere Rechtfertigung
hinzu. Was da unter uns vorgeht, ist ein tiefes Symbol der Zeit. Und so,
als Ausdruck unserer Existenz in Europa am Anfang des zwanzigsten Jahr¬
hunderts, können wir nicht umhin, den Unsinn wichtig zu nehmen, es mag
uns nun passen oder nicht.

Indem wir darangehen, die allerjüngste Kunst aus den Tiefen der Gegen¬
wart herzuleiten, müssen wir freilich befürchten, Dinge auszusprechen und den
Jungen Absichten unterzuschieben, an die ihre Künstlerseelen nie gedacht haben.
Aber das schadet nichts. Schrieb doch selbst Goethe an Schiller: "Fahren Sie
fort, mich mit meinem eigenen Werke bekannt zu machen." Und wenn die
Herren zu ihrer Überraschung sehen werden, wie tief sie sind, so werden sie
uns das gewiß nicht übel nehmen.

Nietzsche -- der arme Mann, der für so vieles, was sich absurd gebärdet,
herhalten muß -- Nietzsche also hat in seinem letzten, unvollendet gebliebenen
großen Werke "Der Wille zur Macht" eine Krisis vorausgesagt, die er euro¬
päischen Nihilismus nennt. Gemeine ist der krankhafte, schmerzende, unerträgliche
Zustand von Leere, welcher nach Meinung des Philosophen notwendig eintritt
als Folge der fortschreitenden Religionslosigkeit Europas. Indem wir mehr
und mehr den persönlichen Gott aus der Welt eliminieren, nehmen wir sozu¬
sagen den König aus dem Schachspiel; die Figuren haben keine Beziehung
mehr zueinander; die Welt, die sich zweitausend Jahre lang gewöhnt hat, alle
ihre Wertungen auf diesen persönlichen Gott zu beziehen, und der noch niemand
Ersatz zu bieten wußte, hat ihren Zweck verloren; sie ist sinnlos geworden.

Nietzsches Meinung ist, daß wir durch diesen Zustand einer vollständigen
Zweck- und Sinnlosigkeit des Daseins, durch dieses Stadium der Krankheit und
Verzweiflung hindurch müßten, um zu einem neuen Sinn und Zweck zu gelangen.
Und er scheint richtig prophezeit zu haben: wir sind im europäischen nisi-


Das Grotesk

glänzender rechtfertigen, als wenn wir in ihnen das Gegenteil alles sinnvollen,
Natürlichen, Harmonischen entdecken.

Man wird glauben, ich ironisiere hochmütig. Man mißversteht mich. Zwar
weiß ich nicht, ob ein einziges dieser Originalge^ich ernst zu nehmen ist; aber
liaß die Bewegung, deren Führer oder Werkzeug sie sind, ernst genommen
werden will, davon bin ich ganz durchdrungen.

Diese Zukünftigen so obenhin abzufertigen, sollte man schon aus einigen
äußerlichen Gründen sich hüten. Es gibt zu denken, daß die Bewegung, die
beinahe den Eindruck einer Geisteskrankheit macht, gleichzeitig an verschiedenen,
weit auseinanderliegenden Orten auftaucht. Noch auffälliger ist, daß sie gleich--
zeitig in verschiedenen Künsten sich regt; am deutlichsten in der Literatur; aber
auch in Zeichnung und Malerei, unter mancherlei Namen und mit anderen
Strebungen vermischt. Ihre Vertreter haben den Drang, sich zu geschlossener
Phalanx zu gruppieren; sie bilden Schulen, und so werden sie, nach allen
früheren Erfahrungen, Schule machen. Diese Symptome, wie gesagt, sollten uns
Philister zur Vorsicht mahnen. Es kommt aber noch eine innere Rechtfertigung
hinzu. Was da unter uns vorgeht, ist ein tiefes Symbol der Zeit. Und so,
als Ausdruck unserer Existenz in Europa am Anfang des zwanzigsten Jahr¬
hunderts, können wir nicht umhin, den Unsinn wichtig zu nehmen, es mag
uns nun passen oder nicht.

Indem wir darangehen, die allerjüngste Kunst aus den Tiefen der Gegen¬
wart herzuleiten, müssen wir freilich befürchten, Dinge auszusprechen und den
Jungen Absichten unterzuschieben, an die ihre Künstlerseelen nie gedacht haben.
Aber das schadet nichts. Schrieb doch selbst Goethe an Schiller: „Fahren Sie
fort, mich mit meinem eigenen Werke bekannt zu machen." Und wenn die
Herren zu ihrer Überraschung sehen werden, wie tief sie sind, so werden sie
uns das gewiß nicht übel nehmen.

Nietzsche — der arme Mann, der für so vieles, was sich absurd gebärdet,
herhalten muß — Nietzsche also hat in seinem letzten, unvollendet gebliebenen
großen Werke „Der Wille zur Macht" eine Krisis vorausgesagt, die er euro¬
päischen Nihilismus nennt. Gemeine ist der krankhafte, schmerzende, unerträgliche
Zustand von Leere, welcher nach Meinung des Philosophen notwendig eintritt
als Folge der fortschreitenden Religionslosigkeit Europas. Indem wir mehr
und mehr den persönlichen Gott aus der Welt eliminieren, nehmen wir sozu¬
sagen den König aus dem Schachspiel; die Figuren haben keine Beziehung
mehr zueinander; die Welt, die sich zweitausend Jahre lang gewöhnt hat, alle
ihre Wertungen auf diesen persönlichen Gott zu beziehen, und der noch niemand
Ersatz zu bieten wußte, hat ihren Zweck verloren; sie ist sinnlos geworden.

Nietzsches Meinung ist, daß wir durch diesen Zustand einer vollständigen
Zweck- und Sinnlosigkeit des Daseins, durch dieses Stadium der Krankheit und
Verzweiflung hindurch müßten, um zu einem neuen Sinn und Zweck zu gelangen.
Und er scheint richtig prophezeit zu haben: wir sind im europäischen nisi-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/193>, abgerufen am 22.12.2024.