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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Deutschland und die Erschließung Lhinas

nur in der westeuropäisch-amerikanischen, der abendländischen Kultur ruhen
kann und soll. Daß es in diesem Zeichen siegen werde, hofft China heute
wie es vor ihm Japan getan hat. Diese Hoffnung, die die intellektuellen
Kreise des Reiches beseelt, hat ihren typischen Ausdruck gefunden in den
Worten, die vor einer Reihe von Jahren ein hoher chinesischer Würdenträger
einem Vertreter dieses Kulturkreises zurief: "Helfen Sie uns bei der Reorgani¬
sation unseres Landes."

Haben die Staaten, an die diese Worte gerichtet waren, ein Interesse daran,
diesem Rufe zu folgen und dem Reiche der Mitte die erbetene Unterstützung
bei seinen Reformen angedeihen zu lassen? Auf diese Frage kann es meines
Erachtens sowohl vom ideellen wie vom materiellen, das will sagen vom
kulturellen und wirtschaftlichen Standpunkt aus nur ein bedingungsloses "Ja"
geben. Dieses "Ja" haben andere Staaten, allen voran die amerikanische Union
und Großbritannien, in kluger Erkenntnis der oben wiedergegebenen Worte
unseres Friedrich List längst ausgesprochen und sich demgemäß betätigt. Wir
Deutschen haben zwar auch den Ruf vernommen, aber er war uns zunächst
nur ein Schall; erst allmählich und zögernd begreifen wir, daß er auch an
uns gerichtet war.

Zwar ist es deutsche Art, abzuwarten und nicht allzu viel auf's Spiel zu
setzen, wenn nicht mit einiger Sicherheit auf einen entsprechenden Gewinn
gerechnet werden kann. Aber ich glaube, wir haben in bezug auf China genug
überlegt und gezögert. Die Zeit ist gekommen, um zur Tat zu schreiten.
Bedenken wir doch, daß es sich darum handelt, ein Land, dessen Boden un¬
ermeßliche Schätze birgt und von mehr als 400 Millionen Menschen bevölkert
ist, deutscher Zivilisation zugänglich zu machen. Ein großes reiches Gebiet,
von einer Geschlossenheit und einer Siedelungsintensität wie kein anderes der
Erde, bietet sich der kulturellen und damit zugleich der wirtschaftlichen Erschließung
dar. Die Früchte, die eine Betätigung auf diesem ungeheuren Arbeitsfelde in
Aussicht stellt, dürfen wir nicht allein denen überlassen, die zwar früher als
wir, aber mit keinem größeren Recht als wir, begonnen haben, in China Fuß
zu fassen. Die deutsche Kultur steht der anglo-amerikanischen zum mindesten
ebenbürtig zur Seite, und an ihrer Ausbreitung haben wir ein gleich großes
Interesse wie die Engländer und Amerikaner an der Erweiterung der Einflu߬
sphäre ihrer Art. Aber das ist ja nur die eine Seite des Problems. Von
entscheidender Bedeutung sollte doch für uns die Erwägung sein, daß China
das größte und wahrscheinlich auch in absehbarer Zeit das aufnahmefähigste
Absatzgebiet der Erde sein wird. In einer Zeit, in der in Europa und
Amerika, ja selbst im Osten (Japan) die Staaten sich mehr und mehr mit
hohen Zollschutzmauern umgeben und die Wettbewerbsfähigkeit landfremder
Industrien zu mindern trachten, hat jeder auf den Fabrikatenexport angewiesene
Industriestaat das größte Interesse an der Erschließung neuer Absatzgebiete.
Dieser allgemeine Satz gilt in erster Linie auch für Deutschland. Aus diesem


Deutschland und die Erschließung Lhinas

nur in der westeuropäisch-amerikanischen, der abendländischen Kultur ruhen
kann und soll. Daß es in diesem Zeichen siegen werde, hofft China heute
wie es vor ihm Japan getan hat. Diese Hoffnung, die die intellektuellen
Kreise des Reiches beseelt, hat ihren typischen Ausdruck gefunden in den
Worten, die vor einer Reihe von Jahren ein hoher chinesischer Würdenträger
einem Vertreter dieses Kulturkreises zurief: „Helfen Sie uns bei der Reorgani¬
sation unseres Landes."

Haben die Staaten, an die diese Worte gerichtet waren, ein Interesse daran,
diesem Rufe zu folgen und dem Reiche der Mitte die erbetene Unterstützung
bei seinen Reformen angedeihen zu lassen? Auf diese Frage kann es meines
Erachtens sowohl vom ideellen wie vom materiellen, das will sagen vom
kulturellen und wirtschaftlichen Standpunkt aus nur ein bedingungsloses „Ja"
geben. Dieses „Ja" haben andere Staaten, allen voran die amerikanische Union
und Großbritannien, in kluger Erkenntnis der oben wiedergegebenen Worte
unseres Friedrich List längst ausgesprochen und sich demgemäß betätigt. Wir
Deutschen haben zwar auch den Ruf vernommen, aber er war uns zunächst
nur ein Schall; erst allmählich und zögernd begreifen wir, daß er auch an
uns gerichtet war.

Zwar ist es deutsche Art, abzuwarten und nicht allzu viel auf's Spiel zu
setzen, wenn nicht mit einiger Sicherheit auf einen entsprechenden Gewinn
gerechnet werden kann. Aber ich glaube, wir haben in bezug auf China genug
überlegt und gezögert. Die Zeit ist gekommen, um zur Tat zu schreiten.
Bedenken wir doch, daß es sich darum handelt, ein Land, dessen Boden un¬
ermeßliche Schätze birgt und von mehr als 400 Millionen Menschen bevölkert
ist, deutscher Zivilisation zugänglich zu machen. Ein großes reiches Gebiet,
von einer Geschlossenheit und einer Siedelungsintensität wie kein anderes der
Erde, bietet sich der kulturellen und damit zugleich der wirtschaftlichen Erschließung
dar. Die Früchte, die eine Betätigung auf diesem ungeheuren Arbeitsfelde in
Aussicht stellt, dürfen wir nicht allein denen überlassen, die zwar früher als
wir, aber mit keinem größeren Recht als wir, begonnen haben, in China Fuß
zu fassen. Die deutsche Kultur steht der anglo-amerikanischen zum mindesten
ebenbürtig zur Seite, und an ihrer Ausbreitung haben wir ein gleich großes
Interesse wie die Engländer und Amerikaner an der Erweiterung der Einflu߬
sphäre ihrer Art. Aber das ist ja nur die eine Seite des Problems. Von
entscheidender Bedeutung sollte doch für uns die Erwägung sein, daß China
das größte und wahrscheinlich auch in absehbarer Zeit das aufnahmefähigste
Absatzgebiet der Erde sein wird. In einer Zeit, in der in Europa und
Amerika, ja selbst im Osten (Japan) die Staaten sich mehr und mehr mit
hohen Zollschutzmauern umgeben und die Wettbewerbsfähigkeit landfremder
Industrien zu mindern trachten, hat jeder auf den Fabrikatenexport angewiesene
Industriestaat das größte Interesse an der Erschließung neuer Absatzgebiete.
Dieser allgemeine Satz gilt in erster Linie auch für Deutschland. Aus diesem


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[0172] Deutschland und die Erschließung Lhinas nur in der westeuropäisch-amerikanischen, der abendländischen Kultur ruhen kann und soll. Daß es in diesem Zeichen siegen werde, hofft China heute wie es vor ihm Japan getan hat. Diese Hoffnung, die die intellektuellen Kreise des Reiches beseelt, hat ihren typischen Ausdruck gefunden in den Worten, die vor einer Reihe von Jahren ein hoher chinesischer Würdenträger einem Vertreter dieses Kulturkreises zurief: „Helfen Sie uns bei der Reorgani¬ sation unseres Landes." Haben die Staaten, an die diese Worte gerichtet waren, ein Interesse daran, diesem Rufe zu folgen und dem Reiche der Mitte die erbetene Unterstützung bei seinen Reformen angedeihen zu lassen? Auf diese Frage kann es meines Erachtens sowohl vom ideellen wie vom materiellen, das will sagen vom kulturellen und wirtschaftlichen Standpunkt aus nur ein bedingungsloses „Ja" geben. Dieses „Ja" haben andere Staaten, allen voran die amerikanische Union und Großbritannien, in kluger Erkenntnis der oben wiedergegebenen Worte unseres Friedrich List längst ausgesprochen und sich demgemäß betätigt. Wir Deutschen haben zwar auch den Ruf vernommen, aber er war uns zunächst nur ein Schall; erst allmählich und zögernd begreifen wir, daß er auch an uns gerichtet war. Zwar ist es deutsche Art, abzuwarten und nicht allzu viel auf's Spiel zu setzen, wenn nicht mit einiger Sicherheit auf einen entsprechenden Gewinn gerechnet werden kann. Aber ich glaube, wir haben in bezug auf China genug überlegt und gezögert. Die Zeit ist gekommen, um zur Tat zu schreiten. Bedenken wir doch, daß es sich darum handelt, ein Land, dessen Boden un¬ ermeßliche Schätze birgt und von mehr als 400 Millionen Menschen bevölkert ist, deutscher Zivilisation zugänglich zu machen. Ein großes reiches Gebiet, von einer Geschlossenheit und einer Siedelungsintensität wie kein anderes der Erde, bietet sich der kulturellen und damit zugleich der wirtschaftlichen Erschließung dar. Die Früchte, die eine Betätigung auf diesem ungeheuren Arbeitsfelde in Aussicht stellt, dürfen wir nicht allein denen überlassen, die zwar früher als wir, aber mit keinem größeren Recht als wir, begonnen haben, in China Fuß zu fassen. Die deutsche Kultur steht der anglo-amerikanischen zum mindesten ebenbürtig zur Seite, und an ihrer Ausbreitung haben wir ein gleich großes Interesse wie die Engländer und Amerikaner an der Erweiterung der Einflu߬ sphäre ihrer Art. Aber das ist ja nur die eine Seite des Problems. Von entscheidender Bedeutung sollte doch für uns die Erwägung sein, daß China das größte und wahrscheinlich auch in absehbarer Zeit das aufnahmefähigste Absatzgebiet der Erde sein wird. In einer Zeit, in der in Europa und Amerika, ja selbst im Osten (Japan) die Staaten sich mehr und mehr mit hohen Zollschutzmauern umgeben und die Wettbewerbsfähigkeit landfremder Industrien zu mindern trachten, hat jeder auf den Fabrikatenexport angewiesene Industriestaat das größte Interesse an der Erschließung neuer Absatzgebiete. Dieser allgemeine Satz gilt in erster Linie auch für Deutschland. Aus diesem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/172>, abgerufen am 22.12.2024.