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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Grundsätze moderner Ringinszenierung

dirigent von der Metronomtätigkeit des Taktschlägers emanzipiert hat. Er hat
sich seit Reinhardt (dessen größtes Verdienst vielleicht auf diesem Felde liegt)
das Recht erworben, auch während des Spiels in ständigen Konnex mit seinen
Spielern zu bleiben, sie gewissermaßen zu dirigieren. Durch bestimmte Hand¬
bewegungen des in der Seitengasse stehenden Leiters wird heute der Rhythmus
geregelt, in dem sich im Faust die Begleiterinnen der Helena niederlegen. Die
Verse, mit denen Euphorion und der Chor einander ablösen, besonders bei
dem eigenartigen Rhythmus der Ikarus-Episode, sind der dynamischen und
rhythmischen Leitung so erschlossen, wie uur irgendein Konzertieren eines Solo¬
instruments mit dem Orchester. Das Beispiel allerdings zeigt schon die Schranken
dieser Dirigententätigkeit des Regisseurs. Sie muß, abgesehen von den stilistischen
Grenzen, die der Stoff um sie zieht, sich auf die Leitung von Chören und
Massen beschränken und vor dem Spiel des Solisten Halt machen-- wenigstens
während der Ausführung.

Wohl aber kann bei den Wagnerschen Musikdramen, bei denen die Spieler
und ihr Handeln aus der Bühne so eng mit der Motivkonstruktion des Werkes
verbunden sind, ihre Bewegung im Rhythmus der Musik noch sehr erweitert
werden. Ich werde nie eine Erda-Wotanszene vergessen, die ich auf der Wei¬
marer Bühne erlebte. Bei den Worten:


"Doch wenn ich schlafe,
Wachen Nornen,
Sie weben das Seil usw."

hob Erda langsam, ganz unbewußt, im aufsteigenden Rhythmus des im Orchester
erklingenden Naturmotives den Arm. Der weite, weiße Ärmel fiel zurück, und
je mehr sich das Motiv zu seiner Höhe hob, desto mehr schien dieses Weib
zur Riesengröße der Weltenmutter zu erwachsen. So, daß Wotan, unwillkürlich
einen Schritt zurücktretend, wie in leisem Grauen die Worte sang:


". ... sie können nichts wenden noch wandeln.
Doch deiner Weisheit
Danke' ich den Rat wohl,
Wie zu hemmen ein rollendes Rad?"

Das sind freilich Einzelheiten. Und nicht jedes Motiv erlaubt die Bewegung
im Rhythmus so sehr, wie dieses. Aber ganz gewiß sind die Anregungen auf
diesem Gebiete (das Model vom Dirigentenpulte aus in den Proben sehr
pflegte und auf dem er äußerst unnachstchtlich war) noch viel zu wenig be^
obachtet.

Noch einmal muß ich auf die Dinge zurückkommen, von denen ich bei
den Bühnenbildern sprach. Was in ihnen von Unwahrem und Posierendem
ist, verstärkt sich in den Vorschriften für das Spiel, für Beleuchtungen usw. in
noch peinlicherer Weise. Es ist merkwürdig, wie oft er, der doch seine Götter
in ihrem Lachen und Leiden menschlich sein ließ, plötzlich in kleinen Einzelheiten
immer wieder einen Sprung ins Theatralisch-Übersinnliche macht. Es scheint


Grundsätze moderner Ringinszenierung

dirigent von der Metronomtätigkeit des Taktschlägers emanzipiert hat. Er hat
sich seit Reinhardt (dessen größtes Verdienst vielleicht auf diesem Felde liegt)
das Recht erworben, auch während des Spiels in ständigen Konnex mit seinen
Spielern zu bleiben, sie gewissermaßen zu dirigieren. Durch bestimmte Hand¬
bewegungen des in der Seitengasse stehenden Leiters wird heute der Rhythmus
geregelt, in dem sich im Faust die Begleiterinnen der Helena niederlegen. Die
Verse, mit denen Euphorion und der Chor einander ablösen, besonders bei
dem eigenartigen Rhythmus der Ikarus-Episode, sind der dynamischen und
rhythmischen Leitung so erschlossen, wie uur irgendein Konzertieren eines Solo¬
instruments mit dem Orchester. Das Beispiel allerdings zeigt schon die Schranken
dieser Dirigententätigkeit des Regisseurs. Sie muß, abgesehen von den stilistischen
Grenzen, die der Stoff um sie zieht, sich auf die Leitung von Chören und
Massen beschränken und vor dem Spiel des Solisten Halt machen— wenigstens
während der Ausführung.

Wohl aber kann bei den Wagnerschen Musikdramen, bei denen die Spieler
und ihr Handeln aus der Bühne so eng mit der Motivkonstruktion des Werkes
verbunden sind, ihre Bewegung im Rhythmus der Musik noch sehr erweitert
werden. Ich werde nie eine Erda-Wotanszene vergessen, die ich auf der Wei¬
marer Bühne erlebte. Bei den Worten:


„Doch wenn ich schlafe,
Wachen Nornen,
Sie weben das Seil usw."

hob Erda langsam, ganz unbewußt, im aufsteigenden Rhythmus des im Orchester
erklingenden Naturmotives den Arm. Der weite, weiße Ärmel fiel zurück, und
je mehr sich das Motiv zu seiner Höhe hob, desto mehr schien dieses Weib
zur Riesengröße der Weltenmutter zu erwachsen. So, daß Wotan, unwillkürlich
einen Schritt zurücktretend, wie in leisem Grauen die Worte sang:


„. ... sie können nichts wenden noch wandeln.
Doch deiner Weisheit
Danke' ich den Rat wohl,
Wie zu hemmen ein rollendes Rad?"

Das sind freilich Einzelheiten. Und nicht jedes Motiv erlaubt die Bewegung
im Rhythmus so sehr, wie dieses. Aber ganz gewiß sind die Anregungen auf
diesem Gebiete (das Model vom Dirigentenpulte aus in den Proben sehr
pflegte und auf dem er äußerst unnachstchtlich war) noch viel zu wenig be^
obachtet.

Noch einmal muß ich auf die Dinge zurückkommen, von denen ich bei
den Bühnenbildern sprach. Was in ihnen von Unwahrem und Posierendem
ist, verstärkt sich in den Vorschriften für das Spiel, für Beleuchtungen usw. in
noch peinlicherer Weise. Es ist merkwürdig, wie oft er, der doch seine Götter
in ihrem Lachen und Leiden menschlich sein ließ, plötzlich in kleinen Einzelheiten
immer wieder einen Sprung ins Theatralisch-Übersinnliche macht. Es scheint


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[0155] Grundsätze moderner Ringinszenierung dirigent von der Metronomtätigkeit des Taktschlägers emanzipiert hat. Er hat sich seit Reinhardt (dessen größtes Verdienst vielleicht auf diesem Felde liegt) das Recht erworben, auch während des Spiels in ständigen Konnex mit seinen Spielern zu bleiben, sie gewissermaßen zu dirigieren. Durch bestimmte Hand¬ bewegungen des in der Seitengasse stehenden Leiters wird heute der Rhythmus geregelt, in dem sich im Faust die Begleiterinnen der Helena niederlegen. Die Verse, mit denen Euphorion und der Chor einander ablösen, besonders bei dem eigenartigen Rhythmus der Ikarus-Episode, sind der dynamischen und rhythmischen Leitung so erschlossen, wie uur irgendein Konzertieren eines Solo¬ instruments mit dem Orchester. Das Beispiel allerdings zeigt schon die Schranken dieser Dirigententätigkeit des Regisseurs. Sie muß, abgesehen von den stilistischen Grenzen, die der Stoff um sie zieht, sich auf die Leitung von Chören und Massen beschränken und vor dem Spiel des Solisten Halt machen— wenigstens während der Ausführung. Wohl aber kann bei den Wagnerschen Musikdramen, bei denen die Spieler und ihr Handeln aus der Bühne so eng mit der Motivkonstruktion des Werkes verbunden sind, ihre Bewegung im Rhythmus der Musik noch sehr erweitert werden. Ich werde nie eine Erda-Wotanszene vergessen, die ich auf der Wei¬ marer Bühne erlebte. Bei den Worten: „Doch wenn ich schlafe, Wachen Nornen, Sie weben das Seil usw." hob Erda langsam, ganz unbewußt, im aufsteigenden Rhythmus des im Orchester erklingenden Naturmotives den Arm. Der weite, weiße Ärmel fiel zurück, und je mehr sich das Motiv zu seiner Höhe hob, desto mehr schien dieses Weib zur Riesengröße der Weltenmutter zu erwachsen. So, daß Wotan, unwillkürlich einen Schritt zurücktretend, wie in leisem Grauen die Worte sang: „. ... sie können nichts wenden noch wandeln. Doch deiner Weisheit Danke' ich den Rat wohl, Wie zu hemmen ein rollendes Rad?" Das sind freilich Einzelheiten. Und nicht jedes Motiv erlaubt die Bewegung im Rhythmus so sehr, wie dieses. Aber ganz gewiß sind die Anregungen auf diesem Gebiete (das Model vom Dirigentenpulte aus in den Proben sehr pflegte und auf dem er äußerst unnachstchtlich war) noch viel zu wenig be^ obachtet. Noch einmal muß ich auf die Dinge zurückkommen, von denen ich bei den Bühnenbildern sprach. Was in ihnen von Unwahrem und Posierendem ist, verstärkt sich in den Vorschriften für das Spiel, für Beleuchtungen usw. in noch peinlicherer Weise. Es ist merkwürdig, wie oft er, der doch seine Götter in ihrem Lachen und Leiden menschlich sein ließ, plötzlich in kleinen Einzelheiten immer wieder einen Sprung ins Theatralisch-Übersinnliche macht. Es scheint

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/155>, abgerufen am 04.07.2024.