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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Im alten Serail von Stambul

Und die Harems des Kaiserpalastes? Die Baulichkeiten, die heute als
solche bezeichnet werden, wecken Gefühle des Mitleids sür deren Bewohner, "die
wie in einem großen Kloster lebten, wo das Vergnügen die Religion war und
der Sultan Gott". Wieviel mag hier geliebt und gelitten worden sein, wie
viele Worte der Leidenschaft, des Hasses und der bittersten Klage müssen diese
Mauern erstickt haben!

Aber war die große Familie des Sultans nicht glücklich? Hatte sie nicht
alles, wonach ihr Trachten stand? Gewiß. Aber die Zeiten waren damals
nicht weniger wandelbar als heute. -- Hier in diesem weißen Kiosk wohnt eine
der Lieblings stauen des Padischah. Sie hat ihr kleines Reich für sich, und
darin geht es immer fröhlich zu, vom ersten Lachen der spielenden Kinder
drunten im Blumengarten bis zur abendlichen Istar-Mahlzeit mit ihrer Freundin,
der kleinen Kaukasierin. Als "Taschengeld" bezieht sie die Einnahmen einer
ganzen Provinz, wodurch ihr die Möglichkeit wird, sich alle Wünsche zu erfüllen.
So kann ihr Glück nie ein Ende haben.

Da ist eine Jüdin, die mit kaiserlicher Erlaubnis im Serail Juwelen zum
Verkauf anbieten darf. Sie bringt kostbare Steine, und -- oft auch Nachrichten
aus der großen Welt jenseit der Haremsmauern. Da gibt es also auch noch
Männer? Und was für welche; kluge, mächtige Paschas! Das kleine Herz
schlägt stürmisch, und eines Tages -- die Jüdin war wieder da gewesen --
ist auch ein Brieflein gekommen. -- Daß es nur geheim bliebe! Ach, diese
Angst! Weiß der Gebieter davon, ahnt er's vielleicht? Heute war er nicht wie
sonst. -- Ich bin ihm nichts mehr! -- Allah ist gerecht; die kleine Kaukasierin I

Selbst die Politik hat sich Eingang in die Harems zu verschaffen gewußt.
Die Küsse einer Roxalana brachten zwei Großwesiren den Tod, Frauenmacht
sandte Tausende von Janitscharen in Krieg und Verderben, und zuzeiten hat der
ganze Ministerrat eines Sultans dem Frauengebot sich gefügt.

Beim Verlassen des alten Serail drängt sich einem unwillkürlich die Frage
auf: Wie haben hier Jahrhunderte hindurch Verbrechen auf Verbrechen gehäuft
werden können ohne ausgleichende Vergeltung? Und die Frage bleibt ungelöst.
Aber etwas wie Gerechtigkeit muß es auch an dieser Stätte gegeben haben.
Denn die, die ungestraft freveln durften, "regierten mit dem Schwert, aber
das Schwert diktierte ihnen das Gesetz".




Grenzbote" I 191310
Im alten Serail von Stambul

Und die Harems des Kaiserpalastes? Die Baulichkeiten, die heute als
solche bezeichnet werden, wecken Gefühle des Mitleids sür deren Bewohner, „die
wie in einem großen Kloster lebten, wo das Vergnügen die Religion war und
der Sultan Gott". Wieviel mag hier geliebt und gelitten worden sein, wie
viele Worte der Leidenschaft, des Hasses und der bittersten Klage müssen diese
Mauern erstickt haben!

Aber war die große Familie des Sultans nicht glücklich? Hatte sie nicht
alles, wonach ihr Trachten stand? Gewiß. Aber die Zeiten waren damals
nicht weniger wandelbar als heute. — Hier in diesem weißen Kiosk wohnt eine
der Lieblings stauen des Padischah. Sie hat ihr kleines Reich für sich, und
darin geht es immer fröhlich zu, vom ersten Lachen der spielenden Kinder
drunten im Blumengarten bis zur abendlichen Istar-Mahlzeit mit ihrer Freundin,
der kleinen Kaukasierin. Als „Taschengeld" bezieht sie die Einnahmen einer
ganzen Provinz, wodurch ihr die Möglichkeit wird, sich alle Wünsche zu erfüllen.
So kann ihr Glück nie ein Ende haben.

Da ist eine Jüdin, die mit kaiserlicher Erlaubnis im Serail Juwelen zum
Verkauf anbieten darf. Sie bringt kostbare Steine, und — oft auch Nachrichten
aus der großen Welt jenseit der Haremsmauern. Da gibt es also auch noch
Männer? Und was für welche; kluge, mächtige Paschas! Das kleine Herz
schlägt stürmisch, und eines Tages — die Jüdin war wieder da gewesen —
ist auch ein Brieflein gekommen. — Daß es nur geheim bliebe! Ach, diese
Angst! Weiß der Gebieter davon, ahnt er's vielleicht? Heute war er nicht wie
sonst. — Ich bin ihm nichts mehr! — Allah ist gerecht; die kleine Kaukasierin I

Selbst die Politik hat sich Eingang in die Harems zu verschaffen gewußt.
Die Küsse einer Roxalana brachten zwei Großwesiren den Tod, Frauenmacht
sandte Tausende von Janitscharen in Krieg und Verderben, und zuzeiten hat der
ganze Ministerrat eines Sultans dem Frauengebot sich gefügt.

Beim Verlassen des alten Serail drängt sich einem unwillkürlich die Frage
auf: Wie haben hier Jahrhunderte hindurch Verbrechen auf Verbrechen gehäuft
werden können ohne ausgleichende Vergeltung? Und die Frage bleibt ungelöst.
Aber etwas wie Gerechtigkeit muß es auch an dieser Stätte gegeben haben.
Denn die, die ungestraft freveln durften, „regierten mit dem Schwert, aber
das Schwert diktierte ihnen das Gesetz".




Grenzbote» I 191310
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[0149] Im alten Serail von Stambul Und die Harems des Kaiserpalastes? Die Baulichkeiten, die heute als solche bezeichnet werden, wecken Gefühle des Mitleids sür deren Bewohner, „die wie in einem großen Kloster lebten, wo das Vergnügen die Religion war und der Sultan Gott". Wieviel mag hier geliebt und gelitten worden sein, wie viele Worte der Leidenschaft, des Hasses und der bittersten Klage müssen diese Mauern erstickt haben! Aber war die große Familie des Sultans nicht glücklich? Hatte sie nicht alles, wonach ihr Trachten stand? Gewiß. Aber die Zeiten waren damals nicht weniger wandelbar als heute. — Hier in diesem weißen Kiosk wohnt eine der Lieblings stauen des Padischah. Sie hat ihr kleines Reich für sich, und darin geht es immer fröhlich zu, vom ersten Lachen der spielenden Kinder drunten im Blumengarten bis zur abendlichen Istar-Mahlzeit mit ihrer Freundin, der kleinen Kaukasierin. Als „Taschengeld" bezieht sie die Einnahmen einer ganzen Provinz, wodurch ihr die Möglichkeit wird, sich alle Wünsche zu erfüllen. So kann ihr Glück nie ein Ende haben. Da ist eine Jüdin, die mit kaiserlicher Erlaubnis im Serail Juwelen zum Verkauf anbieten darf. Sie bringt kostbare Steine, und — oft auch Nachrichten aus der großen Welt jenseit der Haremsmauern. Da gibt es also auch noch Männer? Und was für welche; kluge, mächtige Paschas! Das kleine Herz schlägt stürmisch, und eines Tages — die Jüdin war wieder da gewesen — ist auch ein Brieflein gekommen. — Daß es nur geheim bliebe! Ach, diese Angst! Weiß der Gebieter davon, ahnt er's vielleicht? Heute war er nicht wie sonst. — Ich bin ihm nichts mehr! — Allah ist gerecht; die kleine Kaukasierin I Selbst die Politik hat sich Eingang in die Harems zu verschaffen gewußt. Die Küsse einer Roxalana brachten zwei Großwesiren den Tod, Frauenmacht sandte Tausende von Janitscharen in Krieg und Verderben, und zuzeiten hat der ganze Ministerrat eines Sultans dem Frauengebot sich gefügt. Beim Verlassen des alten Serail drängt sich einem unwillkürlich die Frage auf: Wie haben hier Jahrhunderte hindurch Verbrechen auf Verbrechen gehäuft werden können ohne ausgleichende Vergeltung? Und die Frage bleibt ungelöst. Aber etwas wie Gerechtigkeit muß es auch an dieser Stätte gegeben haben. Denn die, die ungestraft freveln durften, „regierten mit dem Schwert, aber das Schwert diktierte ihnen das Gesetz". Grenzbote» I 191310

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/149>, abgerufen am 29.06.2024.