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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Der deutsche Idealismus

Carlyle hat später oft anerkannt, daß ihm die deutsche Literatur und
Philosophie bei der Ausbildung seiner Weltanschauung ganz unschätzbare Dienste
geleistet habe. Ein gewaltig umfassendes Studium hat er ihr gewidmet. Seine
zahlreichen Schriften über die deutsche Literatur und Übersetzungen deutscher
Dichtungen beweisen, daß er erstaunlich tief in das Verständnis für die fremde
Kultur einzudringen vermochte: viel tiefer als irgendeiner seiner Landsleute vor
ihm. Und die Vermittlung deutscher Literaturwerke und deutscher Gedanken an
die angelsächsische Kultur gilt, wie man weiß, geradezu als sein hervorragendstes
literarisches Verdienst.

Über die Bedeutung des deutschen Einflusses für seine eigene geistige Ent¬
wicklung sind freilich auch abweichende Urteile laut geworden*). Und in der Tat
ist anzuerkennen, daß Carlyle die Grundentscheidung zu einer anti¬
materialistischen Weltbetrachtung ganz aus eigener Kraft gewann. Seine Empörung
gegen den Materialismus ist durchaus original; und auch die spätere Über¬
nahme der deutschen Ideen erfolgte mit größter Selbständigkeit: nur was er
sür seine Bedürfnisse brauchen konnte, nahm er an; alles andere stieß er un¬
bedenklich ab. Dennoch kann die Bedeutung dieser Beziehungen nach seinen
eigenen Bekenntnissen, wie viel er den Deutschen, zumal Goethe, verdanke,
schwerlich überschätzt werden.

Schon aus unserer bisherigen Betrachtung ergibt sich, warum Carlyle von
den deutschen Dichtern und Denkern so stark angezogen werden mußte, warum
die Beschäftigung mit ihnen schon bald viel mehr für ihn bedeutete, als eine
bloße Bereicherung seiner literarischen Bildung, er fand ja bei ihnen lebendig,
was er selbst erst mühsam erstrebte: eine Weltauffassung, die auf dem Boden
des modernen Wissens ruhte und doch weit hinauswies über die Wirklichkeit der
Alltagserfahrung; die den Geist als freien Herrn der Natur statt als ihren
Sklaven begriff. So wurde der deutsche Idealismus dem Suchenden zum tröst¬
lichen Lichte, das ihm den Weg in der Dunkelheit wies.

Carlyle begann mit der Lektüre der deutschen Dichter, der Klassiker und
Romantiker. Erst später trat das Studium einiger philosophischer Schriften
hinzu; ein Versuch mit Kants Kritik mißlang allerdings ziemlich bald, dafür
wurden aber Herder, Fichtes kleine "populäre" Schriften, auch Schelling mit
Eifer, wenn auch ohne tieferes Eindringen, gelesen. In der Hauptsache freilich
lernte er die Grundgedanken des Idealismus nicht aus den Philosophen
selbst, sondern aus Goethe, Schiller, Novalis und Schlegel kennen. Carlyle
war ja nichts weniger als ein systematischer Denker: seine Ideen entwickeln sich
durchaus aphoristisch, aus praktischen Anlässen, in halb zufälligen Zusammen¬
hängen. Gewisse Stellen seines Tagebuchs und der Essay "Ltmracten8die8"
zeigen deutlich seine Geringschätzung der rein theoretischen Spekulation, die er



*) Die folgende Darstellung steht in bewußtem Gegensatz zu der Auffassung Taines
und des Franzosen F. F. Dandell (Th, Carlyle, Lilie 1906), der die Bedeutung des deutschen
Einflusses herabzumindern sucht.
Der deutsche Idealismus

Carlyle hat später oft anerkannt, daß ihm die deutsche Literatur und
Philosophie bei der Ausbildung seiner Weltanschauung ganz unschätzbare Dienste
geleistet habe. Ein gewaltig umfassendes Studium hat er ihr gewidmet. Seine
zahlreichen Schriften über die deutsche Literatur und Übersetzungen deutscher
Dichtungen beweisen, daß er erstaunlich tief in das Verständnis für die fremde
Kultur einzudringen vermochte: viel tiefer als irgendeiner seiner Landsleute vor
ihm. Und die Vermittlung deutscher Literaturwerke und deutscher Gedanken an
die angelsächsische Kultur gilt, wie man weiß, geradezu als sein hervorragendstes
literarisches Verdienst.

Über die Bedeutung des deutschen Einflusses für seine eigene geistige Ent¬
wicklung sind freilich auch abweichende Urteile laut geworden*). Und in der Tat
ist anzuerkennen, daß Carlyle die Grundentscheidung zu einer anti¬
materialistischen Weltbetrachtung ganz aus eigener Kraft gewann. Seine Empörung
gegen den Materialismus ist durchaus original; und auch die spätere Über¬
nahme der deutschen Ideen erfolgte mit größter Selbständigkeit: nur was er
sür seine Bedürfnisse brauchen konnte, nahm er an; alles andere stieß er un¬
bedenklich ab. Dennoch kann die Bedeutung dieser Beziehungen nach seinen
eigenen Bekenntnissen, wie viel er den Deutschen, zumal Goethe, verdanke,
schwerlich überschätzt werden.

Schon aus unserer bisherigen Betrachtung ergibt sich, warum Carlyle von
den deutschen Dichtern und Denkern so stark angezogen werden mußte, warum
die Beschäftigung mit ihnen schon bald viel mehr für ihn bedeutete, als eine
bloße Bereicherung seiner literarischen Bildung, er fand ja bei ihnen lebendig,
was er selbst erst mühsam erstrebte: eine Weltauffassung, die auf dem Boden
des modernen Wissens ruhte und doch weit hinauswies über die Wirklichkeit der
Alltagserfahrung; die den Geist als freien Herrn der Natur statt als ihren
Sklaven begriff. So wurde der deutsche Idealismus dem Suchenden zum tröst¬
lichen Lichte, das ihm den Weg in der Dunkelheit wies.

Carlyle begann mit der Lektüre der deutschen Dichter, der Klassiker und
Romantiker. Erst später trat das Studium einiger philosophischer Schriften
hinzu; ein Versuch mit Kants Kritik mißlang allerdings ziemlich bald, dafür
wurden aber Herder, Fichtes kleine „populäre" Schriften, auch Schelling mit
Eifer, wenn auch ohne tieferes Eindringen, gelesen. In der Hauptsache freilich
lernte er die Grundgedanken des Idealismus nicht aus den Philosophen
selbst, sondern aus Goethe, Schiller, Novalis und Schlegel kennen. Carlyle
war ja nichts weniger als ein systematischer Denker: seine Ideen entwickeln sich
durchaus aphoristisch, aus praktischen Anlässen, in halb zufälligen Zusammen¬
hängen. Gewisse Stellen seines Tagebuchs und der Essay „Ltmracten8die8"
zeigen deutlich seine Geringschätzung der rein theoretischen Spekulation, die er



*) Die folgende Darstellung steht in bewußtem Gegensatz zu der Auffassung Taines
und des Franzosen F. F. Dandell (Th, Carlyle, Lilie 1906), der die Bedeutung des deutschen
Einflusses herabzumindern sucht.
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[0131] Der deutsche Idealismus Carlyle hat später oft anerkannt, daß ihm die deutsche Literatur und Philosophie bei der Ausbildung seiner Weltanschauung ganz unschätzbare Dienste geleistet habe. Ein gewaltig umfassendes Studium hat er ihr gewidmet. Seine zahlreichen Schriften über die deutsche Literatur und Übersetzungen deutscher Dichtungen beweisen, daß er erstaunlich tief in das Verständnis für die fremde Kultur einzudringen vermochte: viel tiefer als irgendeiner seiner Landsleute vor ihm. Und die Vermittlung deutscher Literaturwerke und deutscher Gedanken an die angelsächsische Kultur gilt, wie man weiß, geradezu als sein hervorragendstes literarisches Verdienst. Über die Bedeutung des deutschen Einflusses für seine eigene geistige Ent¬ wicklung sind freilich auch abweichende Urteile laut geworden*). Und in der Tat ist anzuerkennen, daß Carlyle die Grundentscheidung zu einer anti¬ materialistischen Weltbetrachtung ganz aus eigener Kraft gewann. Seine Empörung gegen den Materialismus ist durchaus original; und auch die spätere Über¬ nahme der deutschen Ideen erfolgte mit größter Selbständigkeit: nur was er sür seine Bedürfnisse brauchen konnte, nahm er an; alles andere stieß er un¬ bedenklich ab. Dennoch kann die Bedeutung dieser Beziehungen nach seinen eigenen Bekenntnissen, wie viel er den Deutschen, zumal Goethe, verdanke, schwerlich überschätzt werden. Schon aus unserer bisherigen Betrachtung ergibt sich, warum Carlyle von den deutschen Dichtern und Denkern so stark angezogen werden mußte, warum die Beschäftigung mit ihnen schon bald viel mehr für ihn bedeutete, als eine bloße Bereicherung seiner literarischen Bildung, er fand ja bei ihnen lebendig, was er selbst erst mühsam erstrebte: eine Weltauffassung, die auf dem Boden des modernen Wissens ruhte und doch weit hinauswies über die Wirklichkeit der Alltagserfahrung; die den Geist als freien Herrn der Natur statt als ihren Sklaven begriff. So wurde der deutsche Idealismus dem Suchenden zum tröst¬ lichen Lichte, das ihm den Weg in der Dunkelheit wies. Carlyle begann mit der Lektüre der deutschen Dichter, der Klassiker und Romantiker. Erst später trat das Studium einiger philosophischer Schriften hinzu; ein Versuch mit Kants Kritik mißlang allerdings ziemlich bald, dafür wurden aber Herder, Fichtes kleine „populäre" Schriften, auch Schelling mit Eifer, wenn auch ohne tieferes Eindringen, gelesen. In der Hauptsache freilich lernte er die Grundgedanken des Idealismus nicht aus den Philosophen selbst, sondern aus Goethe, Schiller, Novalis und Schlegel kennen. Carlyle war ja nichts weniger als ein systematischer Denker: seine Ideen entwickeln sich durchaus aphoristisch, aus praktischen Anlässen, in halb zufälligen Zusammen¬ hängen. Gewisse Stellen seines Tagebuchs und der Essay „Ltmracten8die8" zeigen deutlich seine Geringschätzung der rein theoretischen Spekulation, die er *) Die folgende Darstellung steht in bewußtem Gegensatz zu der Auffassung Taines und des Franzosen F. F. Dandell (Th, Carlyle, Lilie 1906), der die Bedeutung des deutschen Einflusses herabzumindern sucht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/131>, abgerufen am 22.07.2024.