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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr.

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Der König von Sachalin

Die russische Tapferkeit entschied für das letztere, aber wie es nun einmal geht,
den: tapferen Entschluß fehlte die tatkräftige Durchführung. Jeder hatte eine
andere Meinung, und keiner setzte die seine durch. Einer kam auf den schlauen
Gedanken, die Zuchthäuser aufzumachen, damit man aus den zahlreichen Ver¬
brechern Freiwilligenkorps errichten könne. Kaum hatten sich die Palissaden¬
zäune den Verbrechern geöffnet, da hatten die meisten nichts eiligeres zu tun,
als sich fürchterlich zu betrinken, die Zuchthäuser niederzureißen und anzu¬
stecken und sich auf und davon zu machen. Viele Zuchthäusler versuchten, das
Festland zu gewinnen, andere fingen an, auf der Insel zu morden und zu
plündern. Nur der Energie Pawel Feodorowitschs gelang es, einige Hundert
Verbrecher zu einem fliegenden Korps zusammenzufassen. Der verwegene Pawel
wollte sich im Hauptort selbst verteidigen, der Kommandant der Sachaliner
Garnison aber beschloß, einen der Pässe über das Engnspalgebirge nach dem
Innern der Insel zu halten. Pawel mußte unter diesen Umständen vor dem ersten
energischen Landungsversuch der Japaner zurückweichen und besetzte einen anderen
der Pässe. Unterdessen hatten die Japaner die Küste der Insel genommen und
räumten fürchterlich unter den vagabundierenden Verbrechern auf. Sie sollen
absichtlich möglichst viel Branntwein auf die Insel geschafft und die widersetz¬
lichen Betrunkenen an die Bäume gestellt und schonungslos niedergeknallt haben.
Wahrscheinlich rechneten sie damals damit, die ganze Insel zu bekommen, und
wollten nicht gezwungen sein, die Verbrecherkolonie mit zu übernehmen. Die
Russen auf den Pässen warteten einige Tage vergeblich auf den Feind, bis er
endlich von hinten angriff. Die Japaner hatten sich durch einen als unpassierbar
geltenden Sumpf einen Weg über das Gebirge gebahnt und die Dörfer im
Innern besetzt. Da gab man auf russischer Seite den Widerstand auf.

Man war aber in Petersburg trotzdem gerührt über den Versuch, die Insel
zu verteidigen. Allen Verbrechern, die sich in das Freiwilligenkorps hatten
einreihen lassen, gewährte man volle Begnadigung. Pawel erhielt Adel und
Titel zurück und hat sogar das Georgskreuz für Tapferkeit bekommen.

Im Besitz der vollen Freiheit hat er eine Zeitlang geschwankt, ob er nach
Petersburg zurückkehren solle, hat sich aber doch für Sachalin entschieden. Einige
Reisen nach Europa werden ihm gezeigt haben, daß es so besser für ihn sei.
Er trägt sich aber jetzt mit großen Plänen für die Insel: Holzgewinnung,
Fischerei, Kohlenbergbau schweben ihm vor. Augenblicklich ist er in Petersburg.
Man hat ihn zum Agenten der Freiwilligen-Flotte gemacht, und er hatte als
solcher dieser Tage sogar eine Audienz beim Handelsminister. Er wohnt im
Europäischen Hof; wenn Sie ihn kennen lernen wollen, ich melde Sie bei ihm
an. Jedenfalls ein Mensch mit außergewöhnlicher Energie, dieser Pawel
Feodorowitsch. Er ist noch in den besten Jahren. Er kann es noch weit
bringen." Herr Stürgens schloß und blickte gedankenvoll ins Weite. ----

Es war Mitternacht geworden; eine leichte Dämmerung legte sich über die
Erde. Ungeschwächt flutete draußen das Leben der weißen Nacht vorüber.


Der König von Sachalin

Die russische Tapferkeit entschied für das letztere, aber wie es nun einmal geht,
den: tapferen Entschluß fehlte die tatkräftige Durchführung. Jeder hatte eine
andere Meinung, und keiner setzte die seine durch. Einer kam auf den schlauen
Gedanken, die Zuchthäuser aufzumachen, damit man aus den zahlreichen Ver¬
brechern Freiwilligenkorps errichten könne. Kaum hatten sich die Palissaden¬
zäune den Verbrechern geöffnet, da hatten die meisten nichts eiligeres zu tun,
als sich fürchterlich zu betrinken, die Zuchthäuser niederzureißen und anzu¬
stecken und sich auf und davon zu machen. Viele Zuchthäusler versuchten, das
Festland zu gewinnen, andere fingen an, auf der Insel zu morden und zu
plündern. Nur der Energie Pawel Feodorowitschs gelang es, einige Hundert
Verbrecher zu einem fliegenden Korps zusammenzufassen. Der verwegene Pawel
wollte sich im Hauptort selbst verteidigen, der Kommandant der Sachaliner
Garnison aber beschloß, einen der Pässe über das Engnspalgebirge nach dem
Innern der Insel zu halten. Pawel mußte unter diesen Umständen vor dem ersten
energischen Landungsversuch der Japaner zurückweichen und besetzte einen anderen
der Pässe. Unterdessen hatten die Japaner die Küste der Insel genommen und
räumten fürchterlich unter den vagabundierenden Verbrechern auf. Sie sollen
absichtlich möglichst viel Branntwein auf die Insel geschafft und die widersetz¬
lichen Betrunkenen an die Bäume gestellt und schonungslos niedergeknallt haben.
Wahrscheinlich rechneten sie damals damit, die ganze Insel zu bekommen, und
wollten nicht gezwungen sein, die Verbrecherkolonie mit zu übernehmen. Die
Russen auf den Pässen warteten einige Tage vergeblich auf den Feind, bis er
endlich von hinten angriff. Die Japaner hatten sich durch einen als unpassierbar
geltenden Sumpf einen Weg über das Gebirge gebahnt und die Dörfer im
Innern besetzt. Da gab man auf russischer Seite den Widerstand auf.

Man war aber in Petersburg trotzdem gerührt über den Versuch, die Insel
zu verteidigen. Allen Verbrechern, die sich in das Freiwilligenkorps hatten
einreihen lassen, gewährte man volle Begnadigung. Pawel erhielt Adel und
Titel zurück und hat sogar das Georgskreuz für Tapferkeit bekommen.

Im Besitz der vollen Freiheit hat er eine Zeitlang geschwankt, ob er nach
Petersburg zurückkehren solle, hat sich aber doch für Sachalin entschieden. Einige
Reisen nach Europa werden ihm gezeigt haben, daß es so besser für ihn sei.
Er trägt sich aber jetzt mit großen Plänen für die Insel: Holzgewinnung,
Fischerei, Kohlenbergbau schweben ihm vor. Augenblicklich ist er in Petersburg.
Man hat ihn zum Agenten der Freiwilligen-Flotte gemacht, und er hatte als
solcher dieser Tage sogar eine Audienz beim Handelsminister. Er wohnt im
Europäischen Hof; wenn Sie ihn kennen lernen wollen, ich melde Sie bei ihm
an. Jedenfalls ein Mensch mit außergewöhnlicher Energie, dieser Pawel
Feodorowitsch. Er ist noch in den besten Jahren. Er kann es noch weit
bringen." Herr Stürgens schloß und blickte gedankenvoll ins Weite. —--

Es war Mitternacht geworden; eine leichte Dämmerung legte sich über die
Erde. Ungeschwächt flutete draußen das Leben der weißen Nacht vorüber.


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[0105] Der König von Sachalin Die russische Tapferkeit entschied für das letztere, aber wie es nun einmal geht, den: tapferen Entschluß fehlte die tatkräftige Durchführung. Jeder hatte eine andere Meinung, und keiner setzte die seine durch. Einer kam auf den schlauen Gedanken, die Zuchthäuser aufzumachen, damit man aus den zahlreichen Ver¬ brechern Freiwilligenkorps errichten könne. Kaum hatten sich die Palissaden¬ zäune den Verbrechern geöffnet, da hatten die meisten nichts eiligeres zu tun, als sich fürchterlich zu betrinken, die Zuchthäuser niederzureißen und anzu¬ stecken und sich auf und davon zu machen. Viele Zuchthäusler versuchten, das Festland zu gewinnen, andere fingen an, auf der Insel zu morden und zu plündern. Nur der Energie Pawel Feodorowitschs gelang es, einige Hundert Verbrecher zu einem fliegenden Korps zusammenzufassen. Der verwegene Pawel wollte sich im Hauptort selbst verteidigen, der Kommandant der Sachaliner Garnison aber beschloß, einen der Pässe über das Engnspalgebirge nach dem Innern der Insel zu halten. Pawel mußte unter diesen Umständen vor dem ersten energischen Landungsversuch der Japaner zurückweichen und besetzte einen anderen der Pässe. Unterdessen hatten die Japaner die Küste der Insel genommen und räumten fürchterlich unter den vagabundierenden Verbrechern auf. Sie sollen absichtlich möglichst viel Branntwein auf die Insel geschafft und die widersetz¬ lichen Betrunkenen an die Bäume gestellt und schonungslos niedergeknallt haben. Wahrscheinlich rechneten sie damals damit, die ganze Insel zu bekommen, und wollten nicht gezwungen sein, die Verbrecherkolonie mit zu übernehmen. Die Russen auf den Pässen warteten einige Tage vergeblich auf den Feind, bis er endlich von hinten angriff. Die Japaner hatten sich durch einen als unpassierbar geltenden Sumpf einen Weg über das Gebirge gebahnt und die Dörfer im Innern besetzt. Da gab man auf russischer Seite den Widerstand auf. Man war aber in Petersburg trotzdem gerührt über den Versuch, die Insel zu verteidigen. Allen Verbrechern, die sich in das Freiwilligenkorps hatten einreihen lassen, gewährte man volle Begnadigung. Pawel erhielt Adel und Titel zurück und hat sogar das Georgskreuz für Tapferkeit bekommen. Im Besitz der vollen Freiheit hat er eine Zeitlang geschwankt, ob er nach Petersburg zurückkehren solle, hat sich aber doch für Sachalin entschieden. Einige Reisen nach Europa werden ihm gezeigt haben, daß es so besser für ihn sei. Er trägt sich aber jetzt mit großen Plänen für die Insel: Holzgewinnung, Fischerei, Kohlenbergbau schweben ihm vor. Augenblicklich ist er in Petersburg. Man hat ihn zum Agenten der Freiwilligen-Flotte gemacht, und er hatte als solcher dieser Tage sogar eine Audienz beim Handelsminister. Er wohnt im Europäischen Hof; wenn Sie ihn kennen lernen wollen, ich melde Sie bei ihm an. Jedenfalls ein Mensch mit außergewöhnlicher Energie, dieser Pawel Feodorowitsch. Er ist noch in den besten Jahren. Er kann es noch weit bringen." Herr Stürgens schloß und blickte gedankenvoll ins Weite. —-- Es war Mitternacht geworden; eine leichte Dämmerung legte sich über die Erde. Ungeschwächt flutete draußen das Leben der weißen Nacht vorüber.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_324869/105>, abgerufen am 22.12.2024.