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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Max Dreyer

soziale Frage -- dies Dreigestirn, das über die Geister herrschte, leuchtete auch
in Dreyers Schaffen hinein. Trotzdem ist es falsch, sein erstes Drama: "Drei"
lediglich als eine epigonenhafte Frucht Jbsenschen Einflusses zu nehmen. In
alle Werke dieser Zeit "Geschichte einer Denkerin", "Hunger", "Jochen Jürgens",
"Winterschlaf" leuchten die großen Fragen des Tages hinein: die soziale, die
Frauenfrage, die freie Ehe. Aber nicht diese Bewegungen an sich will er als
dichterischer Geschichtsschreiber gestalten -- mehr interessiert ihn das rein
Menschliche, das Einzelschicksal und die Einzelpersönlichkeit, der aus dem Strome
der Zeit der Konflikt erwächst. Und bei dem einzelnen das Eigene -- der
eigene Wille und die eigene Art, die eigene Wege geht. Fest in sich selbst,
gerade, aufrecht und klar, selbständig bis zur Selbstgenügsamkeit und eigenwillig
bis zum Eigensinn sind seine Menschen, dabei von ursprünglicher Natürlichkeit
und frischem Frohmut.

Und ganz früh schon das, was man die "ideale Forderung" Dreyers nennen
könnte: Die Forderung der Frau nach einem starken Manne, der ihr Achtung
abzwingt. Hier haben wir das zweite Hauptmotiv der Dreyerschen Kunst:
die Frau, uni deren Bild er kämpft, deren Ergründung er in immer neuen
Gestalten sucht. Nicht das weiche, ergebungsfreudige Weib, die starke, spröde
Frau, die ihr Selbst und ihr Eigenes wahrt, bis der Eroberer ihr Besseres
gibt. -- In vielerlei Wechsel, in immer neuen Bildern und Gestalten kommt
dieser Gedanke zum Ausdruck.

"Wer geht ist Herr, wer fährt ist Knecht," von diesem eigenwilligen Wort
des Hans Meinle ("Winterschlaf") bis zum stolzen Wanderspruch des Peter
Brandt: "Wer sucht, der hat, wer findet, der verliert," ist eine weite Strecke
Wegs, auf welchem Max Dreyer eine Fülle besonderer Ideen, krauser und
lustiger und wirklich ernst gemeinter anhäuft. Manch Schrullenhaftes findet
sich und vieles, das ganz gewaltig anfechtbar ist. Doch ist es immer eigen¬
artig. Ob er mit aller Strenge für eine Lieblingsidee kämpft, ob er im liebens¬
würdigen Scherzspiel seine krausen und absurden Einfälle schieben läßt, ob er
endlich als erbarmungsloser Fechter die Dinge auf seines Degens Spitze stellt.
Seine Neigung zum parabolischen, zum widerspruchsvollen, zum radikalen, seine
fröhliche Lust am Bluff kommt hier zum Ausdruck. Mit allem, was die Zeit
ihm bringt, setzt Dreyer sich in ganz persönlicher Weise auseinander. Im
Großen wie im Kleinen. Mit der sozialen Frage, mit der Wünschelrute wie dem
Radium, mit der Kindererziehung wie mit einzelnen politischen und religiösen Fragen.

Hin und wieder hat Dreyer auch mit raschem Griff an Dinge sich gewagt, die
ihm nicht aus dem Herzen kamen, die ihn nur reizten, und denen seine Bildner¬
kraft leicht beizukommen glaubte. Oder er hat mit schnellen Bildnerhänden einen
Stoff, auch einen, der ihm nahe war, bewältigt. In großen Zügen stand das
Werk nun da -- doch unfertig, und der Dichter hatte das Interesse daran ver¬
loren. Seine Seele hat er dann nicht hineingegeben.




Max Dreyer

soziale Frage — dies Dreigestirn, das über die Geister herrschte, leuchtete auch
in Dreyers Schaffen hinein. Trotzdem ist es falsch, sein erstes Drama: „Drei"
lediglich als eine epigonenhafte Frucht Jbsenschen Einflusses zu nehmen. In
alle Werke dieser Zeit „Geschichte einer Denkerin", „Hunger", „Jochen Jürgens",
„Winterschlaf" leuchten die großen Fragen des Tages hinein: die soziale, die
Frauenfrage, die freie Ehe. Aber nicht diese Bewegungen an sich will er als
dichterischer Geschichtsschreiber gestalten — mehr interessiert ihn das rein
Menschliche, das Einzelschicksal und die Einzelpersönlichkeit, der aus dem Strome
der Zeit der Konflikt erwächst. Und bei dem einzelnen das Eigene — der
eigene Wille und die eigene Art, die eigene Wege geht. Fest in sich selbst,
gerade, aufrecht und klar, selbständig bis zur Selbstgenügsamkeit und eigenwillig
bis zum Eigensinn sind seine Menschen, dabei von ursprünglicher Natürlichkeit
und frischem Frohmut.

Und ganz früh schon das, was man die „ideale Forderung" Dreyers nennen
könnte: Die Forderung der Frau nach einem starken Manne, der ihr Achtung
abzwingt. Hier haben wir das zweite Hauptmotiv der Dreyerschen Kunst:
die Frau, uni deren Bild er kämpft, deren Ergründung er in immer neuen
Gestalten sucht. Nicht das weiche, ergebungsfreudige Weib, die starke, spröde
Frau, die ihr Selbst und ihr Eigenes wahrt, bis der Eroberer ihr Besseres
gibt. — In vielerlei Wechsel, in immer neuen Bildern und Gestalten kommt
dieser Gedanke zum Ausdruck.

„Wer geht ist Herr, wer fährt ist Knecht," von diesem eigenwilligen Wort
des Hans Meinle („Winterschlaf") bis zum stolzen Wanderspruch des Peter
Brandt: „Wer sucht, der hat, wer findet, der verliert," ist eine weite Strecke
Wegs, auf welchem Max Dreyer eine Fülle besonderer Ideen, krauser und
lustiger und wirklich ernst gemeinter anhäuft. Manch Schrullenhaftes findet
sich und vieles, das ganz gewaltig anfechtbar ist. Doch ist es immer eigen¬
artig. Ob er mit aller Strenge für eine Lieblingsidee kämpft, ob er im liebens¬
würdigen Scherzspiel seine krausen und absurden Einfälle schieben läßt, ob er
endlich als erbarmungsloser Fechter die Dinge auf seines Degens Spitze stellt.
Seine Neigung zum parabolischen, zum widerspruchsvollen, zum radikalen, seine
fröhliche Lust am Bluff kommt hier zum Ausdruck. Mit allem, was die Zeit
ihm bringt, setzt Dreyer sich in ganz persönlicher Weise auseinander. Im
Großen wie im Kleinen. Mit der sozialen Frage, mit der Wünschelrute wie dem
Radium, mit der Kindererziehung wie mit einzelnen politischen und religiösen Fragen.

Hin und wieder hat Dreyer auch mit raschem Griff an Dinge sich gewagt, die
ihm nicht aus dem Herzen kamen, die ihn nur reizten, und denen seine Bildner¬
kraft leicht beizukommen glaubte. Oder er hat mit schnellen Bildnerhänden einen
Stoff, auch einen, der ihm nahe war, bewältigt. In großen Zügen stand das
Werk nun da — doch unfertig, und der Dichter hatte das Interesse daran ver¬
loren. Seine Seele hat er dann nicht hineingegeben.




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[0099] Max Dreyer soziale Frage — dies Dreigestirn, das über die Geister herrschte, leuchtete auch in Dreyers Schaffen hinein. Trotzdem ist es falsch, sein erstes Drama: „Drei" lediglich als eine epigonenhafte Frucht Jbsenschen Einflusses zu nehmen. In alle Werke dieser Zeit „Geschichte einer Denkerin", „Hunger", „Jochen Jürgens", „Winterschlaf" leuchten die großen Fragen des Tages hinein: die soziale, die Frauenfrage, die freie Ehe. Aber nicht diese Bewegungen an sich will er als dichterischer Geschichtsschreiber gestalten — mehr interessiert ihn das rein Menschliche, das Einzelschicksal und die Einzelpersönlichkeit, der aus dem Strome der Zeit der Konflikt erwächst. Und bei dem einzelnen das Eigene — der eigene Wille und die eigene Art, die eigene Wege geht. Fest in sich selbst, gerade, aufrecht und klar, selbständig bis zur Selbstgenügsamkeit und eigenwillig bis zum Eigensinn sind seine Menschen, dabei von ursprünglicher Natürlichkeit und frischem Frohmut. Und ganz früh schon das, was man die „ideale Forderung" Dreyers nennen könnte: Die Forderung der Frau nach einem starken Manne, der ihr Achtung abzwingt. Hier haben wir das zweite Hauptmotiv der Dreyerschen Kunst: die Frau, uni deren Bild er kämpft, deren Ergründung er in immer neuen Gestalten sucht. Nicht das weiche, ergebungsfreudige Weib, die starke, spröde Frau, die ihr Selbst und ihr Eigenes wahrt, bis der Eroberer ihr Besseres gibt. — In vielerlei Wechsel, in immer neuen Bildern und Gestalten kommt dieser Gedanke zum Ausdruck. „Wer geht ist Herr, wer fährt ist Knecht," von diesem eigenwilligen Wort des Hans Meinle („Winterschlaf") bis zum stolzen Wanderspruch des Peter Brandt: „Wer sucht, der hat, wer findet, der verliert," ist eine weite Strecke Wegs, auf welchem Max Dreyer eine Fülle besonderer Ideen, krauser und lustiger und wirklich ernst gemeinter anhäuft. Manch Schrullenhaftes findet sich und vieles, das ganz gewaltig anfechtbar ist. Doch ist es immer eigen¬ artig. Ob er mit aller Strenge für eine Lieblingsidee kämpft, ob er im liebens¬ würdigen Scherzspiel seine krausen und absurden Einfälle schieben läßt, ob er endlich als erbarmungsloser Fechter die Dinge auf seines Degens Spitze stellt. Seine Neigung zum parabolischen, zum widerspruchsvollen, zum radikalen, seine fröhliche Lust am Bluff kommt hier zum Ausdruck. Mit allem, was die Zeit ihm bringt, setzt Dreyer sich in ganz persönlicher Weise auseinander. Im Großen wie im Kleinen. Mit der sozialen Frage, mit der Wünschelrute wie dem Radium, mit der Kindererziehung wie mit einzelnen politischen und religiösen Fragen. Hin und wieder hat Dreyer auch mit raschem Griff an Dinge sich gewagt, die ihm nicht aus dem Herzen kamen, die ihn nur reizten, und denen seine Bildner¬ kraft leicht beizukommen glaubte. Oder er hat mit schnellen Bildnerhänden einen Stoff, auch einen, der ihm nahe war, bewältigt. In großen Zügen stand das Werk nun da — doch unfertig, und der Dichter hatte das Interesse daran ver¬ loren. Seine Seele hat er dann nicht hineingegeben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/99>, abgerufen am 15.01.2025.