Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.Luther und Jesuit Die Wissenschaft hatte keinen Gott, weil die Kirche keinen hatte. Diesen Luther und Jesuit Die Wissenschaft hatte keinen Gott, weil die Kirche keinen hatte. Diesen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0075" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322476"/> <fw type="header" place="top"> Luther und Jesuit</fw><lb/> <p xml:id="ID_283"> Die Wissenschaft hatte keinen Gott, weil die Kirche keinen hatte. Diesen<lb/> Zusammenhang sah Luther zuerst nicht, suchte Gott im Kloster und kam hier dem<lb/> Mangel auf den Grund. Man wies ihn, wie nicht anders möglich, auf das<lb/> unsinnliche Nichts, von dem beide Kirchen reden. Er fühlte, daß es keinen<lb/> Hauch ertrage und wollte sich ihm ohne sinnliche Empfindung geben. Je tiefer<lb/> er aber in sich hineinsah, um so aufgeregter wurde er. Und als er im Schrecken<lb/> über sich selbst zerbrechen wollte, da erlebte er den Schwindel dieser Gotteslehre.<lb/> Sein Glaube schlug um zu der Wirklichkeit. Die Sinne wurden Gottes Greifer.<lb/> Er sah die Lüge der Entsinnlichung, die sich in die Ecke einer Zwischenzustands¬<lb/> lehre zwischen sinnlich und unsinnlich bis zum heutigen Tag geflüchtet hat und<lb/> den Katholiken zumutet, ihr Atmen und Essen und Lieben, kurz des Menschen<lb/> Körperlichkeit, die alles ist, als gleichgültig anzusehen und ihr Wesen zu leugnen,<lb/> um von Schuld frei zu sein. Die Empörung über diese Falschheit und<lb/> die Rückführung des Menschen zur Wahrheit seines Wesens und seiner Götter<lb/> wurde Luthers Lebenswerk. Grisar setzt ihm ohne Scheu die Ausrede seiner<lb/> Schullehre entgegen. Die ergreifendsten Kämpfe und Siege, die rührendsten<lb/> Klagen Luthers prallen an dieser Stirn ab. Luther weiß von Zeiten, wo<lb/> ihm vor Pein das Augenlicht ausging. Kann das jemand von einem jungen<lb/> Menschen lesen, ohne gebannt zu sein und wenigstens das Leiden zu verehren?<lb/> Grisar aber nennt das Bekenntnis einen „Erguß", den Luther „einmal zu einer<lb/> Zeit, da er sich innerlich gepreßt fühlen mußte, einfließen ließ." (Seite 53.) Uns,<lb/> die ihren Geist nicht nach der Vorschrift abgetötet haben, erscheint solches Vor¬<lb/> übergehen als herzlos. So hätte Luther nach der Meinung dieses wohlbestehenden<lb/> Mönchs auch werden sollen, und daß er das nicht wollte, wird ihm zum eigentlichen<lb/> Vergehen gemacht. „So oft und so viel er auch von diesem verworrenen Geistes¬<lb/> gang im Kloster redet, man erfährt nicht, daß er sich auf innere Verdemütigung und<lb/> auf kindliches vertrauensvolles Gebet, um den Ausgang zu finden, verlegt hätte."<lb/> (Seite 13.) Nein, aber wenn er betete, so sprach er Auge in Auge mit Gott. Nur<lb/> war das Herz oft zu schwer. Es verlege sich einer auf Goethe, um ein Dichter<lb/> zu werden! Wahrscheinlich bleibt er beim Notwcintrinken. Es verlege sich einer<lb/> auf gedruckte Worte, um ein Beter zu werden! Am wahrscheinlichsten wird er<lb/> ein Betrüger. Das ist der Geist dieses Lutherverständigen fast Seite für Seite.<lb/> Nicht einmal die zartesten Selbstanklagen, die gewissenhaftesten Zweifel Luthers<lb/> am eigenen Werk machen Eindruck. In aller Welt nimmt man sonst an, daß<lb/> Selbstvorwürfe der Weg zur Besserung sind. Grisar dagegen quittiert sie dankend<lb/> mit der Bemerkung, daß der Angeklagte sich offenbar richtig gezeichnet habe. So<lb/> bleibt ihm Luthers Entwicklung begreiflicherweise verworren; nur die Abweichungen<lb/> von den Zwangsgewalten in Lehre und Leben kommen scharf heraus. Der<lb/> allwirkenden Kraft gegenüber gibt es nicht Zustimmen und Ablehnen, sondern nur<lb/> Erleben. Aber das Lebensgefühl erleidet Hemmungen. Wir machen sie nicht<lb/> selbst und lösen sie noch weniger. Beides kommt über uns, und kein Augen¬<lb/> blick, in dem wir über unser künftiges Schicksal etwas sagen könnten.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0075]
Luther und Jesuit
Die Wissenschaft hatte keinen Gott, weil die Kirche keinen hatte. Diesen
Zusammenhang sah Luther zuerst nicht, suchte Gott im Kloster und kam hier dem
Mangel auf den Grund. Man wies ihn, wie nicht anders möglich, auf das
unsinnliche Nichts, von dem beide Kirchen reden. Er fühlte, daß es keinen
Hauch ertrage und wollte sich ihm ohne sinnliche Empfindung geben. Je tiefer
er aber in sich hineinsah, um so aufgeregter wurde er. Und als er im Schrecken
über sich selbst zerbrechen wollte, da erlebte er den Schwindel dieser Gotteslehre.
Sein Glaube schlug um zu der Wirklichkeit. Die Sinne wurden Gottes Greifer.
Er sah die Lüge der Entsinnlichung, die sich in die Ecke einer Zwischenzustands¬
lehre zwischen sinnlich und unsinnlich bis zum heutigen Tag geflüchtet hat und
den Katholiken zumutet, ihr Atmen und Essen und Lieben, kurz des Menschen
Körperlichkeit, die alles ist, als gleichgültig anzusehen und ihr Wesen zu leugnen,
um von Schuld frei zu sein. Die Empörung über diese Falschheit und
die Rückführung des Menschen zur Wahrheit seines Wesens und seiner Götter
wurde Luthers Lebenswerk. Grisar setzt ihm ohne Scheu die Ausrede seiner
Schullehre entgegen. Die ergreifendsten Kämpfe und Siege, die rührendsten
Klagen Luthers prallen an dieser Stirn ab. Luther weiß von Zeiten, wo
ihm vor Pein das Augenlicht ausging. Kann das jemand von einem jungen
Menschen lesen, ohne gebannt zu sein und wenigstens das Leiden zu verehren?
Grisar aber nennt das Bekenntnis einen „Erguß", den Luther „einmal zu einer
Zeit, da er sich innerlich gepreßt fühlen mußte, einfließen ließ." (Seite 53.) Uns,
die ihren Geist nicht nach der Vorschrift abgetötet haben, erscheint solches Vor¬
übergehen als herzlos. So hätte Luther nach der Meinung dieses wohlbestehenden
Mönchs auch werden sollen, und daß er das nicht wollte, wird ihm zum eigentlichen
Vergehen gemacht. „So oft und so viel er auch von diesem verworrenen Geistes¬
gang im Kloster redet, man erfährt nicht, daß er sich auf innere Verdemütigung und
auf kindliches vertrauensvolles Gebet, um den Ausgang zu finden, verlegt hätte."
(Seite 13.) Nein, aber wenn er betete, so sprach er Auge in Auge mit Gott. Nur
war das Herz oft zu schwer. Es verlege sich einer auf Goethe, um ein Dichter
zu werden! Wahrscheinlich bleibt er beim Notwcintrinken. Es verlege sich einer
auf gedruckte Worte, um ein Beter zu werden! Am wahrscheinlichsten wird er
ein Betrüger. Das ist der Geist dieses Lutherverständigen fast Seite für Seite.
Nicht einmal die zartesten Selbstanklagen, die gewissenhaftesten Zweifel Luthers
am eigenen Werk machen Eindruck. In aller Welt nimmt man sonst an, daß
Selbstvorwürfe der Weg zur Besserung sind. Grisar dagegen quittiert sie dankend
mit der Bemerkung, daß der Angeklagte sich offenbar richtig gezeichnet habe. So
bleibt ihm Luthers Entwicklung begreiflicherweise verworren; nur die Abweichungen
von den Zwangsgewalten in Lehre und Leben kommen scharf heraus. Der
allwirkenden Kraft gegenüber gibt es nicht Zustimmen und Ablehnen, sondern nur
Erleben. Aber das Lebensgefühl erleidet Hemmungen. Wir machen sie nicht
selbst und lösen sie noch weniger. Beides kommt über uns, und kein Augen¬
blick, in dem wir über unser künftiges Schicksal etwas sagen könnten.
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