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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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"eher und Jesuit

Haus aus tiefes Naturell besagen nichts. Und doch ist klar, daß mindestens
eine brauchbare Vermutung an diese Stelle gesetzt werden müßte. Luther war
Studierender der Philosophie und angehender Jurist. Sein Herz dachte nicht
an Kirchendienst. Und nach vier Jahren des Studiums war er fertig zum
Niederbruch. Wieviel junge Erfurter Juristen mit bestandenen Vorprüfungen,
gesellschaftlichen Ansehen und wohlhabenden Elternhause hätte wohl ein Blitz
ins Kloster gebracht? Was war bei ihm also Besonderes? Nichts anderes,
als die niederschmetternder Eindrücke des Universitätsstudiums. Wo andere
fröhlich oder schimpfend paukten, da mußte er aufhören, weil er erstickte. Sagt
mir doch, so fleht er, um Gotteswillen nur überhaupt was ein Ding ist,
aber so, daß ich damit leben und denkend die Welt nachfühlen kann! Aber
ihr steht stumpfinnig vor dem Schauspiel der Welt und fühlt nicht, wie die Tier-
und Menschheit leidet und nach Lösung schreit. Luther schrie um Liebe zu
der Wissenschaft und da sie seinem Gefühle unangreifbar blieb, warf er sich
lechzend vor die Speise der anderen großen Lebensspenderin, der Kirche. Was
war das anderes als Gottsuchen schon in der Wissenschaft? Wie beleuchtet
das die Art und die Allgegenwart seines Zwanges zu Gott! -- Das alles
hätte Grisar aus dem Buch entnehmen können, dem er ein Drittel seiner sieben¬
hundert Seiten widmet, Luthers Nömerbrieferklärung aus den Jahren 1515/16.

Diese Erfahrungen waren es, die sein Urteil über die Scholastik bestimmten.
Grisar glaubt, im Heiligen Thomas hätte Luther Erquickung gefunden. Er
wird sich damit irren. Leben, wie Luther es brauchte, hatte Thomas ebenso¬
wenig wie Okkam oder Gabriel Viel. Luther suchte den Pulsschlag der Welt
und nicht die Irrungen nach einer eingebildeten Nicht-Welt.

Der Humanismus versprach wirkliches Leben, hielt aber zuletzt auch nicht
stand, weil Erasmus und die Seinen sich doch vor dem frostigen Nichts des
Kirchenglaubens beugten. So erklärt sich Luthers Zuneigung zu dieser großen
Neben- und Neuerscheinung in der geistigen Nährwelt und sein Bruch mit ihr.
Grisar zeichnet Luthers Stellung zumHumanismus unsicher, weil er nicht sehen kann,
wie bestimmt Luther von Anfang an bei den Humanisten dasselbe vermißt hat,
wie bei den Mönchen und Priestern: einen Gott. Er sieht deshalb nur eine
Annäherung Luthers an die ihm geistverwandten Zerstörer des Kirchen glaub eus
und daß sie ihn fallen ließen, als er Pflicht und Gewissen leugnete und Re¬
volution und allgemeine Sittenlosigkeit seine Spur zu zeichnen schienen. Tat¬
sächlich äußerte Luther von Anfang an starke Bedenken, die Grisar aber nicht
wertet. An dieser Stelle, vor Luthers Eintritt ins Kloster, sucht man die
Schilderung von Scholastik und Humanismus, fest gestaltet an dem Punkte, wo
sie in Wirkung treten. Bei Grisar zerfließt diese und die folgende Entwicklungs-
fchilderung in eine Wirrsäligkeit von Elementen und Vorelementen und endlichen
Ereignissen, bald mit sachlichen Zusammenstellungen, bald in chronologischer oder
quellenkritischer Auflösung, und wirkt oft nur noch wie ein Haufe Sammelbogen.
Überall findet man Stücke, nie die ganze Meinung.


»eher und Jesuit

Haus aus tiefes Naturell besagen nichts. Und doch ist klar, daß mindestens
eine brauchbare Vermutung an diese Stelle gesetzt werden müßte. Luther war
Studierender der Philosophie und angehender Jurist. Sein Herz dachte nicht
an Kirchendienst. Und nach vier Jahren des Studiums war er fertig zum
Niederbruch. Wieviel junge Erfurter Juristen mit bestandenen Vorprüfungen,
gesellschaftlichen Ansehen und wohlhabenden Elternhause hätte wohl ein Blitz
ins Kloster gebracht? Was war bei ihm also Besonderes? Nichts anderes,
als die niederschmetternder Eindrücke des Universitätsstudiums. Wo andere
fröhlich oder schimpfend paukten, da mußte er aufhören, weil er erstickte. Sagt
mir doch, so fleht er, um Gotteswillen nur überhaupt was ein Ding ist,
aber so, daß ich damit leben und denkend die Welt nachfühlen kann! Aber
ihr steht stumpfinnig vor dem Schauspiel der Welt und fühlt nicht, wie die Tier-
und Menschheit leidet und nach Lösung schreit. Luther schrie um Liebe zu
der Wissenschaft und da sie seinem Gefühle unangreifbar blieb, warf er sich
lechzend vor die Speise der anderen großen Lebensspenderin, der Kirche. Was
war das anderes als Gottsuchen schon in der Wissenschaft? Wie beleuchtet
das die Art und die Allgegenwart seines Zwanges zu Gott! — Das alles
hätte Grisar aus dem Buch entnehmen können, dem er ein Drittel seiner sieben¬
hundert Seiten widmet, Luthers Nömerbrieferklärung aus den Jahren 1515/16.

Diese Erfahrungen waren es, die sein Urteil über die Scholastik bestimmten.
Grisar glaubt, im Heiligen Thomas hätte Luther Erquickung gefunden. Er
wird sich damit irren. Leben, wie Luther es brauchte, hatte Thomas ebenso¬
wenig wie Okkam oder Gabriel Viel. Luther suchte den Pulsschlag der Welt
und nicht die Irrungen nach einer eingebildeten Nicht-Welt.

Der Humanismus versprach wirkliches Leben, hielt aber zuletzt auch nicht
stand, weil Erasmus und die Seinen sich doch vor dem frostigen Nichts des
Kirchenglaubens beugten. So erklärt sich Luthers Zuneigung zu dieser großen
Neben- und Neuerscheinung in der geistigen Nährwelt und sein Bruch mit ihr.
Grisar zeichnet Luthers Stellung zumHumanismus unsicher, weil er nicht sehen kann,
wie bestimmt Luther von Anfang an bei den Humanisten dasselbe vermißt hat,
wie bei den Mönchen und Priestern: einen Gott. Er sieht deshalb nur eine
Annäherung Luthers an die ihm geistverwandten Zerstörer des Kirchen glaub eus
und daß sie ihn fallen ließen, als er Pflicht und Gewissen leugnete und Re¬
volution und allgemeine Sittenlosigkeit seine Spur zu zeichnen schienen. Tat¬
sächlich äußerte Luther von Anfang an starke Bedenken, die Grisar aber nicht
wertet. An dieser Stelle, vor Luthers Eintritt ins Kloster, sucht man die
Schilderung von Scholastik und Humanismus, fest gestaltet an dem Punkte, wo
sie in Wirkung treten. Bei Grisar zerfließt diese und die folgende Entwicklungs-
fchilderung in eine Wirrsäligkeit von Elementen und Vorelementen und endlichen
Ereignissen, bald mit sachlichen Zusammenstellungen, bald in chronologischer oder
quellenkritischer Auflösung, und wirkt oft nur noch wie ein Haufe Sammelbogen.
Überall findet man Stücke, nie die ganze Meinung.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/74>, abgerufen am 15.01.2025.