Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.Der Brief des Dichters und das Rezept des Landcimmanns Doch nahm auch diesmal die Natur, nur scherzend mit einem Zufall statt Die Frau hatte unterdessen seitab gestanden, wie wenn sie als die einzige Der Brief mit seinem Siegel war längst in hundert Strudeln geweicht Und da erst war der Dichter weit genug, aus dem Rezept des alten Der Brief des Dichters und das Rezept des Landcimmanns Doch nahm auch diesmal die Natur, nur scherzend mit einem Zufall statt Die Frau hatte unterdessen seitab gestanden, wie wenn sie als die einzige Der Brief mit seinem Siegel war längst in hundert Strudeln geweicht Und da erst war der Dichter weit genug, aus dem Rezept des alten <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0635" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/323037"/> <fw type="header" place="top"> Der Brief des Dichters und das Rezept des Landcimmanns</fw><lb/> <p xml:id="ID_3095"> Doch nahm auch diesmal die Natur, nur scherzend mit einem Zufall statt<lb/> durch Blitz und Donner, den Dichter in dh Lehre; denn als der Knabe, die<lb/> Bewegung mißverstehend, auch durch die Spalten sah. entdeckte er den Brief<lb/> tief unten, der statt ins Wasser auf einen rund gewaschenen Felsblock gefallen<lb/> und mit seinem roten Siegel als eine merkwürdige Sternblume in der<lb/> Tiefe aufgeblüht war. Heraufzuholen war er da nicht mehr, und als der<lb/> Knabe erst wußte, daß er ins Wasser sollte, war es ein rasch ergriffenes Spiel<lb/> für ihn, mit Stöcken und mit Steinen danach zu werfen, ihm zu der Wasser¬<lb/> fahrt den letzten Ruck zu geben. Es war ein grausameres Spiel, als seine<lb/> Jugend ahnen konnte; aber der Dichter sprang ihm bei zu dieser Steinigung;<lb/> er war es auch, der schließlich mit einem Knüttel den Brief in den Strudel<lb/> verhalf, gerade als ein Landmann mit einer Kiepe aus der Brücke kam und<lb/> sich an ihrem närrischen Tun verwunderte.</p><lb/> <p xml:id="ID_3096"> Die Frau hatte unterdessen seitab gestanden, wie wenn sie als die einzige<lb/> die Grausamkeit von diesem Spiel empfände; nun ging sie wortlos von den<lb/> beiden den Talweg fort. Der Dichter sah ihr nach, wie sie den Nacken beugte<lb/> und Schritt für Schritt die schlanken Beine schwer los zu ziehen schien; dann<lb/> küßte er den Knaben, wie er die Frau nicht küssen konnte und entließ ihn<lb/> mit einem letzten Gruß an sie. Denn sie danach zu sehen, vermochte er nicht<lb/> mehr: sie ging aus dieser Felsschlucht in das sonnige Tal von Schwyz, wo<lb/> sie wohnhaft und im bürgerlichen Kreis ihrer Leute beheimatet war, indessen<lb/> er mit seiner Seele — wie er es niemals vorher so unabwendbar empfunden<lb/> hatte — durch kein Rezept geschützt, allen Naturgewalten ausgeliefert blieb.</p><lb/> <p xml:id="ID_3097"> Der Brief mit seinem Siegel war längst in hundert Strudeln geweicht<lb/> und aufgerissen, die Dunkelheit fiel schon ins letzte warme Licht, als er noch<lb/> immer dasaß und seine Traurigkeit die blaugrüne Tiefe absuchen ließ. Er sah<lb/> den Grund, auf dem doch einmal alles endigte, was Großes und Erhabenes<lb/> gelebt und gedichtet wurde; der Weg für seinen Brief war kürzer und resolut<lb/> gewesen; denn so weit und tief er auch mit einem Wort und Klang aus seiner<lb/> Seele in die Zeit und vielleicht zur Nachwelt dringen konnte: einmal war doch<lb/> die Wirkung am Ende angelangt, wo die Vergessenheit begann.</p><lb/> <p xml:id="ID_3098" next="#ID_3099"> Und da erst war der Dichter weit genug, aus dem Rezept des alten<lb/> Landammanns von Schwyz für sich doch eine Weisheit herauszufinden: So<lb/> oder so, wenn alles, was er schrieb, auch in den Birnenholzkasten wandern<lb/> oder mit dem Strom der Zeit abtreiben mußte, so blieb doch seiner Seele ihr<lb/> ungeschmälertes Teil, daß sie in Rausch und Glück und Qualen sich der Natur<lb/> und dem Weltgeist vereinigte. Und ob ihm Sturm und Donner seine Worte<lb/> wie Spinnweben vor dem Mund zerrissen: seiner Seele untertänig blieben sie<lb/> doch. Wie ein Brennglas die Strahlen in sich band, zwang er die Welt in<lb/> sich, soweit die Sinne reichten; gebunden aber war sie erst, wenn er durch<lb/> seinen Geist in Klang und Ordnung brachte, was für die Sinne Sinnlosigkeit<lb/> und Schrecken gewesen war. Sein Dichtwort war das Siegel, das der Menschen-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0635]
Der Brief des Dichters und das Rezept des Landcimmanns
Doch nahm auch diesmal die Natur, nur scherzend mit einem Zufall statt
durch Blitz und Donner, den Dichter in dh Lehre; denn als der Knabe, die
Bewegung mißverstehend, auch durch die Spalten sah. entdeckte er den Brief
tief unten, der statt ins Wasser auf einen rund gewaschenen Felsblock gefallen
und mit seinem roten Siegel als eine merkwürdige Sternblume in der
Tiefe aufgeblüht war. Heraufzuholen war er da nicht mehr, und als der
Knabe erst wußte, daß er ins Wasser sollte, war es ein rasch ergriffenes Spiel
für ihn, mit Stöcken und mit Steinen danach zu werfen, ihm zu der Wasser¬
fahrt den letzten Ruck zu geben. Es war ein grausameres Spiel, als seine
Jugend ahnen konnte; aber der Dichter sprang ihm bei zu dieser Steinigung;
er war es auch, der schließlich mit einem Knüttel den Brief in den Strudel
verhalf, gerade als ein Landmann mit einer Kiepe aus der Brücke kam und
sich an ihrem närrischen Tun verwunderte.
Die Frau hatte unterdessen seitab gestanden, wie wenn sie als die einzige
die Grausamkeit von diesem Spiel empfände; nun ging sie wortlos von den
beiden den Talweg fort. Der Dichter sah ihr nach, wie sie den Nacken beugte
und Schritt für Schritt die schlanken Beine schwer los zu ziehen schien; dann
küßte er den Knaben, wie er die Frau nicht küssen konnte und entließ ihn
mit einem letzten Gruß an sie. Denn sie danach zu sehen, vermochte er nicht
mehr: sie ging aus dieser Felsschlucht in das sonnige Tal von Schwyz, wo
sie wohnhaft und im bürgerlichen Kreis ihrer Leute beheimatet war, indessen
er mit seiner Seele — wie er es niemals vorher so unabwendbar empfunden
hatte — durch kein Rezept geschützt, allen Naturgewalten ausgeliefert blieb.
Der Brief mit seinem Siegel war längst in hundert Strudeln geweicht
und aufgerissen, die Dunkelheit fiel schon ins letzte warme Licht, als er noch
immer dasaß und seine Traurigkeit die blaugrüne Tiefe absuchen ließ. Er sah
den Grund, auf dem doch einmal alles endigte, was Großes und Erhabenes
gelebt und gedichtet wurde; der Weg für seinen Brief war kürzer und resolut
gewesen; denn so weit und tief er auch mit einem Wort und Klang aus seiner
Seele in die Zeit und vielleicht zur Nachwelt dringen konnte: einmal war doch
die Wirkung am Ende angelangt, wo die Vergessenheit begann.
Und da erst war der Dichter weit genug, aus dem Rezept des alten
Landammanns von Schwyz für sich doch eine Weisheit herauszufinden: So
oder so, wenn alles, was er schrieb, auch in den Birnenholzkasten wandern
oder mit dem Strom der Zeit abtreiben mußte, so blieb doch seiner Seele ihr
ungeschmälertes Teil, daß sie in Rausch und Glück und Qualen sich der Natur
und dem Weltgeist vereinigte. Und ob ihm Sturm und Donner seine Worte
wie Spinnweben vor dem Mund zerrissen: seiner Seele untertänig blieben sie
doch. Wie ein Brennglas die Strahlen in sich band, zwang er die Welt in
sich, soweit die Sinne reichten; gebunden aber war sie erst, wenn er durch
seinen Geist in Klang und Ordnung brachte, was für die Sinne Sinnlosigkeit
und Schrecken gewesen war. Sein Dichtwort war das Siegel, das der Menschen-
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