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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Zur Rechtfertigung des Krieges

Scham. Mit dem Reifwerden freilich übersieht er die Grenzen, bemerkt, daß
er in gewissen Richtungen nicht mehr wachsen und sich entfalten kann, und nun
wirft er seine Kräfte mit Bedacht in die Richtungen, in denen er weiterhin
wachsen kann. Aufhören und nachlassen wäre Krankheit. Hat er aber alle
Möglichkeiten erschöpft, so ist er "vollendet", das heißt: er ist nun entweder
der stärkste und beste, oder er hat sich dabei beschieden, es nicht zu sein, weil
er es nicht sein kann. Ebenso können Völker sich bescheiden in der klaren Er¬
kenntnis, daß ein weiteres Rennen über ihre Kräfte geht. Sie sind "müde"
und in ihren Möglichkeiten "erschöpft". Das bloße Dasein und Sich-wiederholen
hat vielleicht eine Zeitlang noch Wert für andere, doch nicht mehr für sie selbst.
Wenn ich aber nun will, daß mein Volk das mächtigste und tüchtigste sei, und
wenn ich weiß, daß es das noch nicht ist, so muß ich wollen, daß es das
werde, wenigstens in den Richtungen, in denen es das werden kann. Dieses
Streben und Sich-bäumen ist das unmittelbare Bewußtsein des Lebenstriebes
selbst, der da werden und wachsen läßt den einzelnen wie das Volk. Hört
dieses Streben auf, oder töte ich es aus irgendwelchen Verstandesüberlegungen
künstlich ab, so muß damit auch jener Trieb, jener Drang zur Entfaltung des
Lebens ein Ende finden. Es hat keinen Sinn mehr, Zwecke und Ziele zu
setzen, es hat keinen Sinn mehr, Ideale zu haben; denn es kann ja nichts
mehr sein oder anderes sein als da ist. Das Volk wäre nur ein Mechanismus,
der in sich abläuft -- bis vielleicht auch die Feder erlahmt und das Räder¬
werk stillsteht.

Der unmittelbare Lebenstrieb, der sich in dem Willen äußert, stärker und
mächtiger zu werden, andere sich Untertan zu machen, ist es, der allen Kampf
heraufbeschwört, auch den Krieg. Er lebt in dem kräftigsten Volk der Welt als
der Trieb, das stärkste sein zu wollen. Erst wenn seine Lebenskraft in irgend¬
einer Weise versiegt oder wenn es die Unmöglichkeit seines Wollens klar erkennt,
wird es sein Wollen umbiegen in eine andere, vielleicht rein geistige Richtung,
in der es noch zu wachsen und andere zu überflügeln vermag. Das deutsche
Volk hat keinen Grund dazu. Es darf nicht allein im Reiche des Geistes das
erste Volk sein wollen, es darf wünschen -- so empfinde ich es --, daß seine
Sprache die Welt beherrschen, daß seine Waffen unbezwinglich, daß sein Wort
das Wort des Herren sein soll. Das ist nicht ohne Unterdrückung, ohne Kampf,
wohl auch nicht ohne Krieg möglich, denn andere Völker erheben die gleichen
Ansprüche. Soll es nun darum verzichten? Es würde damit- den Lebens- und
Machtwillen der anderen nicht eindämmen. Ist dieser Wille unsittlich? Dann
ist der innerste Lebenstrieb die Quelle des Widersittlichen. Wir ständen vor
dem "radikal Bösen" unserer Natur, wie Kant es nennt, vor einer Verderbtheit,
die schon im Keime alles Werdens und aller Entwicklung steckt.

Wenn wir diesen merkwürdigen Widerspruch untersuchen wollen, so können
unsere Gedanken zwei Wege einschlagen. Einmal: ist dieser Lebens- und Macht¬
wille, dieser wurzelhafte Egoismus nicht selbst ein sittliches Gut? Und zweitens:


Zur Rechtfertigung des Krieges

Scham. Mit dem Reifwerden freilich übersieht er die Grenzen, bemerkt, daß
er in gewissen Richtungen nicht mehr wachsen und sich entfalten kann, und nun
wirft er seine Kräfte mit Bedacht in die Richtungen, in denen er weiterhin
wachsen kann. Aufhören und nachlassen wäre Krankheit. Hat er aber alle
Möglichkeiten erschöpft, so ist er „vollendet", das heißt: er ist nun entweder
der stärkste und beste, oder er hat sich dabei beschieden, es nicht zu sein, weil
er es nicht sein kann. Ebenso können Völker sich bescheiden in der klaren Er¬
kenntnis, daß ein weiteres Rennen über ihre Kräfte geht. Sie sind „müde"
und in ihren Möglichkeiten „erschöpft". Das bloße Dasein und Sich-wiederholen
hat vielleicht eine Zeitlang noch Wert für andere, doch nicht mehr für sie selbst.
Wenn ich aber nun will, daß mein Volk das mächtigste und tüchtigste sei, und
wenn ich weiß, daß es das noch nicht ist, so muß ich wollen, daß es das
werde, wenigstens in den Richtungen, in denen es das werden kann. Dieses
Streben und Sich-bäumen ist das unmittelbare Bewußtsein des Lebenstriebes
selbst, der da werden und wachsen läßt den einzelnen wie das Volk. Hört
dieses Streben auf, oder töte ich es aus irgendwelchen Verstandesüberlegungen
künstlich ab, so muß damit auch jener Trieb, jener Drang zur Entfaltung des
Lebens ein Ende finden. Es hat keinen Sinn mehr, Zwecke und Ziele zu
setzen, es hat keinen Sinn mehr, Ideale zu haben; denn es kann ja nichts
mehr sein oder anderes sein als da ist. Das Volk wäre nur ein Mechanismus,
der in sich abläuft — bis vielleicht auch die Feder erlahmt und das Räder¬
werk stillsteht.

Der unmittelbare Lebenstrieb, der sich in dem Willen äußert, stärker und
mächtiger zu werden, andere sich Untertan zu machen, ist es, der allen Kampf
heraufbeschwört, auch den Krieg. Er lebt in dem kräftigsten Volk der Welt als
der Trieb, das stärkste sein zu wollen. Erst wenn seine Lebenskraft in irgend¬
einer Weise versiegt oder wenn es die Unmöglichkeit seines Wollens klar erkennt,
wird es sein Wollen umbiegen in eine andere, vielleicht rein geistige Richtung,
in der es noch zu wachsen und andere zu überflügeln vermag. Das deutsche
Volk hat keinen Grund dazu. Es darf nicht allein im Reiche des Geistes das
erste Volk sein wollen, es darf wünschen — so empfinde ich es —, daß seine
Sprache die Welt beherrschen, daß seine Waffen unbezwinglich, daß sein Wort
das Wort des Herren sein soll. Das ist nicht ohne Unterdrückung, ohne Kampf,
wohl auch nicht ohne Krieg möglich, denn andere Völker erheben die gleichen
Ansprüche. Soll es nun darum verzichten? Es würde damit- den Lebens- und
Machtwillen der anderen nicht eindämmen. Ist dieser Wille unsittlich? Dann
ist der innerste Lebenstrieb die Quelle des Widersittlichen. Wir ständen vor
dem „radikal Bösen" unserer Natur, wie Kant es nennt, vor einer Verderbtheit,
die schon im Keime alles Werdens und aller Entwicklung steckt.

Wenn wir diesen merkwürdigen Widerspruch untersuchen wollen, so können
unsere Gedanken zwei Wege einschlagen. Einmal: ist dieser Lebens- und Macht¬
wille, dieser wurzelhafte Egoismus nicht selbst ein sittliches Gut? Und zweitens:


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[0579] Zur Rechtfertigung des Krieges Scham. Mit dem Reifwerden freilich übersieht er die Grenzen, bemerkt, daß er in gewissen Richtungen nicht mehr wachsen und sich entfalten kann, und nun wirft er seine Kräfte mit Bedacht in die Richtungen, in denen er weiterhin wachsen kann. Aufhören und nachlassen wäre Krankheit. Hat er aber alle Möglichkeiten erschöpft, so ist er „vollendet", das heißt: er ist nun entweder der stärkste und beste, oder er hat sich dabei beschieden, es nicht zu sein, weil er es nicht sein kann. Ebenso können Völker sich bescheiden in der klaren Er¬ kenntnis, daß ein weiteres Rennen über ihre Kräfte geht. Sie sind „müde" und in ihren Möglichkeiten „erschöpft". Das bloße Dasein und Sich-wiederholen hat vielleicht eine Zeitlang noch Wert für andere, doch nicht mehr für sie selbst. Wenn ich aber nun will, daß mein Volk das mächtigste und tüchtigste sei, und wenn ich weiß, daß es das noch nicht ist, so muß ich wollen, daß es das werde, wenigstens in den Richtungen, in denen es das werden kann. Dieses Streben und Sich-bäumen ist das unmittelbare Bewußtsein des Lebenstriebes selbst, der da werden und wachsen läßt den einzelnen wie das Volk. Hört dieses Streben auf, oder töte ich es aus irgendwelchen Verstandesüberlegungen künstlich ab, so muß damit auch jener Trieb, jener Drang zur Entfaltung des Lebens ein Ende finden. Es hat keinen Sinn mehr, Zwecke und Ziele zu setzen, es hat keinen Sinn mehr, Ideale zu haben; denn es kann ja nichts mehr sein oder anderes sein als da ist. Das Volk wäre nur ein Mechanismus, der in sich abläuft — bis vielleicht auch die Feder erlahmt und das Räder¬ werk stillsteht. Der unmittelbare Lebenstrieb, der sich in dem Willen äußert, stärker und mächtiger zu werden, andere sich Untertan zu machen, ist es, der allen Kampf heraufbeschwört, auch den Krieg. Er lebt in dem kräftigsten Volk der Welt als der Trieb, das stärkste sein zu wollen. Erst wenn seine Lebenskraft in irgend¬ einer Weise versiegt oder wenn es die Unmöglichkeit seines Wollens klar erkennt, wird es sein Wollen umbiegen in eine andere, vielleicht rein geistige Richtung, in der es noch zu wachsen und andere zu überflügeln vermag. Das deutsche Volk hat keinen Grund dazu. Es darf nicht allein im Reiche des Geistes das erste Volk sein wollen, es darf wünschen — so empfinde ich es —, daß seine Sprache die Welt beherrschen, daß seine Waffen unbezwinglich, daß sein Wort das Wort des Herren sein soll. Das ist nicht ohne Unterdrückung, ohne Kampf, wohl auch nicht ohne Krieg möglich, denn andere Völker erheben die gleichen Ansprüche. Soll es nun darum verzichten? Es würde damit- den Lebens- und Machtwillen der anderen nicht eindämmen. Ist dieser Wille unsittlich? Dann ist der innerste Lebenstrieb die Quelle des Widersittlichen. Wir ständen vor dem „radikal Bösen" unserer Natur, wie Kant es nennt, vor einer Verderbtheit, die schon im Keime alles Werdens und aller Entwicklung steckt. Wenn wir diesen merkwürdigen Widerspruch untersuchen wollen, so können unsere Gedanken zwei Wege einschlagen. Einmal: ist dieser Lebens- und Macht¬ wille, dieser wurzelhafte Egoismus nicht selbst ein sittliches Gut? Und zweitens:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/579>, abgerufen am 15.01.2025.