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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Arr Rechtfertigung des Krieges

gewissen gibt, welches andere sittliche Gebote bewußt werden läßt wie das
einzelne Gewissen. Das ist eine ernste Frage, die sich nicht durch bloße
Meinung entscheiden läßt. Man kann aber von vornherein sagen: gäbe es
zwei Ethiker, so wäre für den einzelnen Volksangehörigen der Widerstreit
gegeben: soll ich meinem persönlichen Gewissen gehorchen und nicht in den
Kampf ziehen oder soll ich der Pflicht meines Volkes gehorchen und das Gewehr
nehmen? Was von beiden verpflichtet am meisten? Nimmt man aber eine
einzige Ethik an, so wendet sie sich, das ist mir zweifellos, gegen den Krieg.

Lassen wir diese Fragen offen und wenden wir uns den Forderungen der
Religion zu. Jahwe befiehlt den Juden, andere Völker zu unterwerfen, Allah
befiehlt den Gläubigen, die Ungläubigen zu unterwerfen. Einmal wird der
Kampf einem Volke, das andere Mal einer Religionsgemeinschaft gepredigt.
Der Gott-Vater Jesu -- er ist wohl zu unterscheiden von dem Gott einzelner
christlicher Konfessionen oder bestimmter Entwicklungszeiten der Konfessionen --
hat sich weder an ein besonderes Volk, noch an eine begrenzte Gemeinschaft
gewendet, sondern an jeden einzelnen Menschen in der Menschheit. Für diesen
hat er die sittlichen Gebote sanktioniert. Wenn die Menschen den Worten Jesu
in allen Stücken gehorchten, so wäre es ihnen unmöglich Krieg zu sühren.
Wenn sie aber beides zugleich wollen, so stellen sie eine Reihe von Gedanken
dazwischen: sie "lösen die Widersprüche", sie "Harmonisieren", sie schieben mit
den einzelnen Gedanken die Gefühle der Zustimmung und Mißbilligung hin und
her, bis jene harmonische Dämmerung eintritt, die sich in dem Urteil äußert:
so ungefähr kann man beides vereinigen.

Wer dem sittlichen Gesetz in sich und dem Gebot der christlichen Religion
gehorchen will, muß den Krieg verurteilen. Dies erscheint mir ganz klar, und
doch -- wer fühlt sich bei dieser Erkenntnis völlig beruhigt?

Wenn ich erfahre, daß mein Volk von einem anderen beleidigt oder
bedrängt wird, dann fahre ich auf. Warum? Ich selbst bin nicht beleidigt,
ich selbst empfinde nichts von dem Druck, ja ich habe vielleicht sogar wirt¬
schaftliche Vorteile davon. Dennoch fahre ich auf und empfinde den Gegner
meines Volkes -- nun zwar nicht auch als meinen persönlichen Gegner,
aber -- eben als Gegner meines Volkes. Und dies allein genügt, mich in die
Stimmung des Sich-wehren-wollens zu versetzen. Ferner: wenn ich auf das
innere Verhältnis achte, das ich zu meinem Volke habe, so entdecke ich darin
als wesentlich das Gefühl des Stolzes. Vielleicht nicht so sehr des Stolzes
auf seinen Zustand, als vielmehr des Stolzes auf die in ihm liegenden Mög¬
lichkeiten und auf seine Bestimmung. Die Willensrichtung dieses Gefühls läuft
da hinaus: ich will, daß mein Volk das stärkste, mächtigste und beste unter
allen Völkern sei oder werde. Was dieser Erwartung zuwiderläuft, schmerzt
mich; was ihr entspricht, freut mich. Es ist nicht anders wie bei einem richtigen
Jungen: er will der größte, stärkste und klügste werden. Stößt er an Grenzen
oder an Widerstände, die stärker sind als er, so empfindet er Schmerz und


Arr Rechtfertigung des Krieges

gewissen gibt, welches andere sittliche Gebote bewußt werden läßt wie das
einzelne Gewissen. Das ist eine ernste Frage, die sich nicht durch bloße
Meinung entscheiden läßt. Man kann aber von vornherein sagen: gäbe es
zwei Ethiker, so wäre für den einzelnen Volksangehörigen der Widerstreit
gegeben: soll ich meinem persönlichen Gewissen gehorchen und nicht in den
Kampf ziehen oder soll ich der Pflicht meines Volkes gehorchen und das Gewehr
nehmen? Was von beiden verpflichtet am meisten? Nimmt man aber eine
einzige Ethik an, so wendet sie sich, das ist mir zweifellos, gegen den Krieg.

Lassen wir diese Fragen offen und wenden wir uns den Forderungen der
Religion zu. Jahwe befiehlt den Juden, andere Völker zu unterwerfen, Allah
befiehlt den Gläubigen, die Ungläubigen zu unterwerfen. Einmal wird der
Kampf einem Volke, das andere Mal einer Religionsgemeinschaft gepredigt.
Der Gott-Vater Jesu — er ist wohl zu unterscheiden von dem Gott einzelner
christlicher Konfessionen oder bestimmter Entwicklungszeiten der Konfessionen —
hat sich weder an ein besonderes Volk, noch an eine begrenzte Gemeinschaft
gewendet, sondern an jeden einzelnen Menschen in der Menschheit. Für diesen
hat er die sittlichen Gebote sanktioniert. Wenn die Menschen den Worten Jesu
in allen Stücken gehorchten, so wäre es ihnen unmöglich Krieg zu sühren.
Wenn sie aber beides zugleich wollen, so stellen sie eine Reihe von Gedanken
dazwischen: sie „lösen die Widersprüche", sie „Harmonisieren", sie schieben mit
den einzelnen Gedanken die Gefühle der Zustimmung und Mißbilligung hin und
her, bis jene harmonische Dämmerung eintritt, die sich in dem Urteil äußert:
so ungefähr kann man beides vereinigen.

Wer dem sittlichen Gesetz in sich und dem Gebot der christlichen Religion
gehorchen will, muß den Krieg verurteilen. Dies erscheint mir ganz klar, und
doch — wer fühlt sich bei dieser Erkenntnis völlig beruhigt?

Wenn ich erfahre, daß mein Volk von einem anderen beleidigt oder
bedrängt wird, dann fahre ich auf. Warum? Ich selbst bin nicht beleidigt,
ich selbst empfinde nichts von dem Druck, ja ich habe vielleicht sogar wirt¬
schaftliche Vorteile davon. Dennoch fahre ich auf und empfinde den Gegner
meines Volkes — nun zwar nicht auch als meinen persönlichen Gegner,
aber — eben als Gegner meines Volkes. Und dies allein genügt, mich in die
Stimmung des Sich-wehren-wollens zu versetzen. Ferner: wenn ich auf das
innere Verhältnis achte, das ich zu meinem Volke habe, so entdecke ich darin
als wesentlich das Gefühl des Stolzes. Vielleicht nicht so sehr des Stolzes
auf seinen Zustand, als vielmehr des Stolzes auf die in ihm liegenden Mög¬
lichkeiten und auf seine Bestimmung. Die Willensrichtung dieses Gefühls läuft
da hinaus: ich will, daß mein Volk das stärkste, mächtigste und beste unter
allen Völkern sei oder werde. Was dieser Erwartung zuwiderläuft, schmerzt
mich; was ihr entspricht, freut mich. Es ist nicht anders wie bei einem richtigen
Jungen: er will der größte, stärkste und klügste werden. Stößt er an Grenzen
oder an Widerstände, die stärker sind als er, so empfindet er Schmerz und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/578>, abgerufen am 15.01.2025.