Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Zum Verständnis Friedrich Lhopins

manu erwähnt er nur einmal in einem Geschäftsbrief an Fontana, in dem von
der Widmung einiger Werke die Rede ist; die Gleichgültigkeit, mit der er die
Sache behandelt, ist bezeichnend.

Sein Geist ist regsam und nicht ohne Teilnahme für die Zeitereignisse.
So berichtet er über die Neptunentdeckung Leverriers, über die Erfindung eines
rauchlosen Pulvers, über die politische Lage usw., man gewinnt aber aus den
Briefen doch nicht den Eindruck, daß er im eigentlichen Sinne bedeutend gewesen
sei; was wir an ihm vermissen, ist die Universalität des Interesses, wie wir
es an unseren großen Meistern bewundern müssen, und die Fähigkeit zur
Abstraktion, im Besonderen das Allgemeine zu erfassen. Sein Interesse
erscheint, soweit es sich nicht um Fragen seiner Kunst handelt, naiv,
und selbst da, wo er von Musikwerken redet, kommt er eigentlich über ein
feuilletonistisches Referat über das Tatsächliche nicht hinaus oder er begnügt
sich mit der Abgabe von Werturteilen ohne deren Begründung. Von einer
Faustaufführung in Dresden z. B. weiß er nichts weiter zu sagen als: "Eine
fürchterliche, aber großartige Phantasie", von der Gemäldegalerie nur, daß er
sie zweimal besucht habe (1829 und 1830)*), und die ungeheure Summe von
Kultur und Geschichte in den Sammlungen des Grünen Gewölbes hat ihm
gar nichts zu sagen vermocht. Er lebte eben ganz seiner Musik, d. h. seiner
Welt, der Drang nach Erweiterung und Vertiefung seiner Bildung scheint ihm
abgegangen zu sein; während seines Pariser Aufenthalts hat er kein Buch,
auch kein polnisches gelesen. Dazu scheint zu stimmen, was Liszt in seinen!
dichterisch gefärbten, überaus reizvollen und innerlich wahren Buch über Chopin
von der höflichen Gleichgültigkeit des Meisters in der Unterhaltung berichtet:
entweder hört er zu oder er geht auf die Meinung der anderen ein, nie aber
versucht er, außer bei musikalischen Kunstfragen, die seinige zur Geltung zu
bringen. Wenn also Scharlitt die Briefe Chopins an seine Angehörigen
interessante Beiträge zur Welt- und Kunstgeschichte seiner Zeit nennt, so über¬
schätzt er sie nach dieser Seite; dazu ist auch ihr Standpunkt zu subjektiv. Aber
gerade darin liegt ihr Hauptwert als autobiographische Dokumente. Hier
entschleiert der im Leben so zurückhaltende Mann, der sein Leid sorglich vor
fremden Blicken barg, im Gedankenaustausch mit seinen Familienangehörigen
oder Herzensfreunden seine Seele, und die Eigenschaften, die den Kern
seines Wesens bildeten, treten darin deutlich zutage: sein Vaterlandsgefühl,
sein tiefes Gemüt, sein hingebendes Freundschaftsbedürfnis und seine
eigentlich nie erfüllte Sehnsucht nach Frauenliebe. Aber gerade für sein
Liebesleben, in das einen Blick zu werfen von besonderem Interesse
sein müßte, bieten auch diese Briefe wenig genug; Chopin begnügt sich
da größtenteils mit Andeutungen, die zwar seinen Herzenszustand offen-



*) Karasowski fälscht: "Aber die Gemäldegalerie habe ich mit großem Interesse wieder
besucht; lebte ich hier, ich würde alle Wochen hingehen, denn es gibt da Bilder, bei ^erer
Anblick ich Musik zu hören meine."
Zum Verständnis Friedrich Lhopins

manu erwähnt er nur einmal in einem Geschäftsbrief an Fontana, in dem von
der Widmung einiger Werke die Rede ist; die Gleichgültigkeit, mit der er die
Sache behandelt, ist bezeichnend.

Sein Geist ist regsam und nicht ohne Teilnahme für die Zeitereignisse.
So berichtet er über die Neptunentdeckung Leverriers, über die Erfindung eines
rauchlosen Pulvers, über die politische Lage usw., man gewinnt aber aus den
Briefen doch nicht den Eindruck, daß er im eigentlichen Sinne bedeutend gewesen
sei; was wir an ihm vermissen, ist die Universalität des Interesses, wie wir
es an unseren großen Meistern bewundern müssen, und die Fähigkeit zur
Abstraktion, im Besonderen das Allgemeine zu erfassen. Sein Interesse
erscheint, soweit es sich nicht um Fragen seiner Kunst handelt, naiv,
und selbst da, wo er von Musikwerken redet, kommt er eigentlich über ein
feuilletonistisches Referat über das Tatsächliche nicht hinaus oder er begnügt
sich mit der Abgabe von Werturteilen ohne deren Begründung. Von einer
Faustaufführung in Dresden z. B. weiß er nichts weiter zu sagen als: „Eine
fürchterliche, aber großartige Phantasie", von der Gemäldegalerie nur, daß er
sie zweimal besucht habe (1829 und 1830)*), und die ungeheure Summe von
Kultur und Geschichte in den Sammlungen des Grünen Gewölbes hat ihm
gar nichts zu sagen vermocht. Er lebte eben ganz seiner Musik, d. h. seiner
Welt, der Drang nach Erweiterung und Vertiefung seiner Bildung scheint ihm
abgegangen zu sein; während seines Pariser Aufenthalts hat er kein Buch,
auch kein polnisches gelesen. Dazu scheint zu stimmen, was Liszt in seinen!
dichterisch gefärbten, überaus reizvollen und innerlich wahren Buch über Chopin
von der höflichen Gleichgültigkeit des Meisters in der Unterhaltung berichtet:
entweder hört er zu oder er geht auf die Meinung der anderen ein, nie aber
versucht er, außer bei musikalischen Kunstfragen, die seinige zur Geltung zu
bringen. Wenn also Scharlitt die Briefe Chopins an seine Angehörigen
interessante Beiträge zur Welt- und Kunstgeschichte seiner Zeit nennt, so über¬
schätzt er sie nach dieser Seite; dazu ist auch ihr Standpunkt zu subjektiv. Aber
gerade darin liegt ihr Hauptwert als autobiographische Dokumente. Hier
entschleiert der im Leben so zurückhaltende Mann, der sein Leid sorglich vor
fremden Blicken barg, im Gedankenaustausch mit seinen Familienangehörigen
oder Herzensfreunden seine Seele, und die Eigenschaften, die den Kern
seines Wesens bildeten, treten darin deutlich zutage: sein Vaterlandsgefühl,
sein tiefes Gemüt, sein hingebendes Freundschaftsbedürfnis und seine
eigentlich nie erfüllte Sehnsucht nach Frauenliebe. Aber gerade für sein
Liebesleben, in das einen Blick zu werfen von besonderem Interesse
sein müßte, bieten auch diese Briefe wenig genug; Chopin begnügt sich
da größtenteils mit Andeutungen, die zwar seinen Herzenszustand offen-



*) Karasowski fälscht: „Aber die Gemäldegalerie habe ich mit großem Interesse wieder
besucht; lebte ich hier, ich würde alle Wochen hingehen, denn es gibt da Bilder, bei ^erer
Anblick ich Musik zu hören meine."
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0568" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322970"/>
          <fw type="header" place="top"> Zum Verständnis Friedrich Lhopins</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2800" prev="#ID_2799"> manu erwähnt er nur einmal in einem Geschäftsbrief an Fontana, in dem von<lb/>
der Widmung einiger Werke die Rede ist; die Gleichgültigkeit, mit der er die<lb/>
Sache behandelt, ist bezeichnend.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2801" next="#ID_2802"> Sein Geist ist regsam und nicht ohne Teilnahme für die Zeitereignisse.<lb/>
So berichtet er über die Neptunentdeckung Leverriers, über die Erfindung eines<lb/>
rauchlosen Pulvers, über die politische Lage usw., man gewinnt aber aus den<lb/>
Briefen doch nicht den Eindruck, daß er im eigentlichen Sinne bedeutend gewesen<lb/>
sei; was wir an ihm vermissen, ist die Universalität des Interesses, wie wir<lb/>
es an unseren großen Meistern bewundern müssen, und die Fähigkeit zur<lb/>
Abstraktion, im Besonderen das Allgemeine zu erfassen. Sein Interesse<lb/>
erscheint, soweit es sich nicht um Fragen seiner Kunst handelt, naiv,<lb/>
und selbst da, wo er von Musikwerken redet, kommt er eigentlich über ein<lb/>
feuilletonistisches Referat über das Tatsächliche nicht hinaus oder er begnügt<lb/>
sich mit der Abgabe von Werturteilen ohne deren Begründung. Von einer<lb/>
Faustaufführung in Dresden z. B. weiß er nichts weiter zu sagen als: &#x201E;Eine<lb/>
fürchterliche, aber großartige Phantasie", von der Gemäldegalerie nur, daß er<lb/>
sie zweimal besucht habe (1829 und 1830)*), und die ungeheure Summe von<lb/>
Kultur und Geschichte in den Sammlungen des Grünen Gewölbes hat ihm<lb/>
gar nichts zu sagen vermocht. Er lebte eben ganz seiner Musik, d. h. seiner<lb/>
Welt, der Drang nach Erweiterung und Vertiefung seiner Bildung scheint ihm<lb/>
abgegangen zu sein; während seines Pariser Aufenthalts hat er kein Buch,<lb/>
auch kein polnisches gelesen. Dazu scheint zu stimmen, was Liszt in seinen!<lb/>
dichterisch gefärbten, überaus reizvollen und innerlich wahren Buch über Chopin<lb/>
von der höflichen Gleichgültigkeit des Meisters in der Unterhaltung berichtet:<lb/>
entweder hört er zu oder er geht auf die Meinung der anderen ein, nie aber<lb/>
versucht er, außer bei musikalischen Kunstfragen, die seinige zur Geltung zu<lb/>
bringen. Wenn also Scharlitt die Briefe Chopins an seine Angehörigen<lb/>
interessante Beiträge zur Welt- und Kunstgeschichte seiner Zeit nennt, so über¬<lb/>
schätzt er sie nach dieser Seite; dazu ist auch ihr Standpunkt zu subjektiv. Aber<lb/>
gerade darin liegt ihr Hauptwert als autobiographische Dokumente. Hier<lb/>
entschleiert der im Leben so zurückhaltende Mann, der sein Leid sorglich vor<lb/>
fremden Blicken barg, im Gedankenaustausch mit seinen Familienangehörigen<lb/>
oder Herzensfreunden seine Seele, und die Eigenschaften, die den Kern<lb/>
seines Wesens bildeten, treten darin deutlich zutage: sein Vaterlandsgefühl,<lb/>
sein tiefes Gemüt, sein hingebendes Freundschaftsbedürfnis und seine<lb/>
eigentlich nie erfüllte Sehnsucht nach Frauenliebe. Aber gerade für sein<lb/>
Liebesleben, in das einen Blick zu werfen von besonderem Interesse<lb/>
sein müßte, bieten auch diese Briefe wenig genug; Chopin begnügt sich<lb/>
da größtenteils mit Andeutungen, die zwar seinen Herzenszustand offen-</p><lb/>
          <note xml:id="FID_65" place="foot"> *) Karasowski fälscht: &#x201E;Aber die Gemäldegalerie habe ich mit großem Interesse wieder<lb/>
besucht; lebte ich hier, ich würde alle Wochen hingehen, denn es gibt da Bilder, bei ^erer<lb/>
Anblick ich Musik zu hören meine."</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0568] Zum Verständnis Friedrich Lhopins manu erwähnt er nur einmal in einem Geschäftsbrief an Fontana, in dem von der Widmung einiger Werke die Rede ist; die Gleichgültigkeit, mit der er die Sache behandelt, ist bezeichnend. Sein Geist ist regsam und nicht ohne Teilnahme für die Zeitereignisse. So berichtet er über die Neptunentdeckung Leverriers, über die Erfindung eines rauchlosen Pulvers, über die politische Lage usw., man gewinnt aber aus den Briefen doch nicht den Eindruck, daß er im eigentlichen Sinne bedeutend gewesen sei; was wir an ihm vermissen, ist die Universalität des Interesses, wie wir es an unseren großen Meistern bewundern müssen, und die Fähigkeit zur Abstraktion, im Besonderen das Allgemeine zu erfassen. Sein Interesse erscheint, soweit es sich nicht um Fragen seiner Kunst handelt, naiv, und selbst da, wo er von Musikwerken redet, kommt er eigentlich über ein feuilletonistisches Referat über das Tatsächliche nicht hinaus oder er begnügt sich mit der Abgabe von Werturteilen ohne deren Begründung. Von einer Faustaufführung in Dresden z. B. weiß er nichts weiter zu sagen als: „Eine fürchterliche, aber großartige Phantasie", von der Gemäldegalerie nur, daß er sie zweimal besucht habe (1829 und 1830)*), und die ungeheure Summe von Kultur und Geschichte in den Sammlungen des Grünen Gewölbes hat ihm gar nichts zu sagen vermocht. Er lebte eben ganz seiner Musik, d. h. seiner Welt, der Drang nach Erweiterung und Vertiefung seiner Bildung scheint ihm abgegangen zu sein; während seines Pariser Aufenthalts hat er kein Buch, auch kein polnisches gelesen. Dazu scheint zu stimmen, was Liszt in seinen! dichterisch gefärbten, überaus reizvollen und innerlich wahren Buch über Chopin von der höflichen Gleichgültigkeit des Meisters in der Unterhaltung berichtet: entweder hört er zu oder er geht auf die Meinung der anderen ein, nie aber versucht er, außer bei musikalischen Kunstfragen, die seinige zur Geltung zu bringen. Wenn also Scharlitt die Briefe Chopins an seine Angehörigen interessante Beiträge zur Welt- und Kunstgeschichte seiner Zeit nennt, so über¬ schätzt er sie nach dieser Seite; dazu ist auch ihr Standpunkt zu subjektiv. Aber gerade darin liegt ihr Hauptwert als autobiographische Dokumente. Hier entschleiert der im Leben so zurückhaltende Mann, der sein Leid sorglich vor fremden Blicken barg, im Gedankenaustausch mit seinen Familienangehörigen oder Herzensfreunden seine Seele, und die Eigenschaften, die den Kern seines Wesens bildeten, treten darin deutlich zutage: sein Vaterlandsgefühl, sein tiefes Gemüt, sein hingebendes Freundschaftsbedürfnis und seine eigentlich nie erfüllte Sehnsucht nach Frauenliebe. Aber gerade für sein Liebesleben, in das einen Blick zu werfen von besonderem Interesse sein müßte, bieten auch diese Briefe wenig genug; Chopin begnügt sich da größtenteils mit Andeutungen, die zwar seinen Herzenszustand offen- *) Karasowski fälscht: „Aber die Gemäldegalerie habe ich mit großem Interesse wieder besucht; lebte ich hier, ich würde alle Wochen hingehen, denn es gibt da Bilder, bei ^erer Anblick ich Musik zu hören meine."

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/568
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/568>, abgerufen am 15.01.2025.