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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Die Erneuerung des Dreibundes

land nicht stören lassen wollte. Man hat später den neuen Kurs scharf ge¬
tadelt, daß er den Rückversicherungsvertragj mit Rußland fallen ließ. Heute,
wo man in allen diesen Verhältnissen klarer sieht, wird man dieses Urteil
wohl modifizieren müssen. Daran kann auch nichts ändern, wenn eine
neuerliche "Enthüllung" von einer Seite, die sich auf Mitteilungen des Fürsten
Herbert Bismarck beruft, kürzlich den Tadel der "Verständnislosigkeit" in
noch schrofferer Form gegen den Grafen Caprivi erhoben hat. Heute sind
mindestens starke Zweifel gestattet, ob man damals, nach der inzwischen ein¬
getretenen Entwicklung auf russischer Seite, wirklich so bereit war, den Vertrag
zu erneuern, ob nicht vielmehr die beiden Bismarcks, Vater und Sohn, einer
Selbsttäuschung unterlagen, als sie des Kaisers Alexanders auch noch im Jahre 1890
sicher zu sein glaubten. Da beide, noch ehe die Entscheidung fiel, aus dem Amte
schieden, war ihnen eine Selbstkorrektur dieser Vorstellung unmöglich, und sie waren
zu sehr Partei, um für das Nichtzustandekommen des Vertrages einen anderen
Grund zu suchen als die Schuld Caprivis. Es sprechen sehr gewichtige Tat¬
sachen und Gründe dafür, daß die landläufige Meinung, Alexander der Dritte
habe sich erst infolge des deutschen Verzichts aus die Verlängerung des Rück-
versicherungsoertrages enger an Frankreich angeschlossen, falsch ist.

Der Anschluß Italiens an das deutsch-österreichische Bündnis war nicht
das Werk der deutschen Politik, sondern der italienischen Initiative. Die
Eroberung von Tunis durch die Franzosen hatte den Italienern klar gemacht,
daß ihre natürliche Machtstellung im Mittelmeer jederzeit durch eine Verständigung
der Westmächte gefährdet werden konnte. Italien bedürfte also eines Rück¬
halts, der ihm Sicherheit gegen Angriffe der Westmüchte, vor allem Frankreichs
gewährte. Hier bot sich der Gedanke des Anschlusses an die bereits unter¬
einander verbündeten Zentralmächte: an Deutschland, das gleichfalls durch
Angriffsgelüste Frankreichs bedroht war, einen Bundesgenossen auf dieser Seite
gebrauchen konnte, -- an Österreich-Ungarn, das als Feind besonders gefährlich
werden konnte und deshalb zu einem Freunde gemacht werden mußte. Der am
20. Mai 1882 zunächst auf fünf Jahre abgeschlossene und vorläufig geheim¬
gehaltene Dreibund wurde 1887 erneuert, nachdem Crispi in Friedrichsruh
persönlich mit Bismarck verhandelt hatte und die Bestimmungen eine präzisere
Gestalt erhalten hatten. Wenn man Italiens Stellung im Dreibund richtig
würdigen will, so darf man nicht übersehen, daß seine Stellung zu Frankreich
ähnlich ist, wie die Deutschlands zu Rußland. Wir dürfen nicht empfindlich
sein, wenn man in Rom den Draht nach Paris ebensowenig abreißen lassen
will, wie wir den Draht nach Petersburg. Natürlich ist die öffentliche Meinung bei
uns verstimmt gewesen über die "Extratouren" des italienischen Bundesgenossen,
geradeso wie man in Wien über uns verstimmt war, als der Rückversicherungs-
vertrag mit Rußland nachträglich an den Tag kam. Aber Italien ist in erster
Linie Mittelmeermacht, und soweit ihm Frankreich dabei die Hand bietet, kann
es diesen Vorteil nicht abweisen. Wir haben dabei den Trost: je weiter


Die Erneuerung des Dreibundes

land nicht stören lassen wollte. Man hat später den neuen Kurs scharf ge¬
tadelt, daß er den Rückversicherungsvertragj mit Rußland fallen ließ. Heute,
wo man in allen diesen Verhältnissen klarer sieht, wird man dieses Urteil
wohl modifizieren müssen. Daran kann auch nichts ändern, wenn eine
neuerliche „Enthüllung" von einer Seite, die sich auf Mitteilungen des Fürsten
Herbert Bismarck beruft, kürzlich den Tadel der „Verständnislosigkeit" in
noch schrofferer Form gegen den Grafen Caprivi erhoben hat. Heute sind
mindestens starke Zweifel gestattet, ob man damals, nach der inzwischen ein¬
getretenen Entwicklung auf russischer Seite, wirklich so bereit war, den Vertrag
zu erneuern, ob nicht vielmehr die beiden Bismarcks, Vater und Sohn, einer
Selbsttäuschung unterlagen, als sie des Kaisers Alexanders auch noch im Jahre 1890
sicher zu sein glaubten. Da beide, noch ehe die Entscheidung fiel, aus dem Amte
schieden, war ihnen eine Selbstkorrektur dieser Vorstellung unmöglich, und sie waren
zu sehr Partei, um für das Nichtzustandekommen des Vertrages einen anderen
Grund zu suchen als die Schuld Caprivis. Es sprechen sehr gewichtige Tat¬
sachen und Gründe dafür, daß die landläufige Meinung, Alexander der Dritte
habe sich erst infolge des deutschen Verzichts aus die Verlängerung des Rück-
versicherungsoertrages enger an Frankreich angeschlossen, falsch ist.

Der Anschluß Italiens an das deutsch-österreichische Bündnis war nicht
das Werk der deutschen Politik, sondern der italienischen Initiative. Die
Eroberung von Tunis durch die Franzosen hatte den Italienern klar gemacht,
daß ihre natürliche Machtstellung im Mittelmeer jederzeit durch eine Verständigung
der Westmächte gefährdet werden konnte. Italien bedürfte also eines Rück¬
halts, der ihm Sicherheit gegen Angriffe der Westmüchte, vor allem Frankreichs
gewährte. Hier bot sich der Gedanke des Anschlusses an die bereits unter¬
einander verbündeten Zentralmächte: an Deutschland, das gleichfalls durch
Angriffsgelüste Frankreichs bedroht war, einen Bundesgenossen auf dieser Seite
gebrauchen konnte, — an Österreich-Ungarn, das als Feind besonders gefährlich
werden konnte und deshalb zu einem Freunde gemacht werden mußte. Der am
20. Mai 1882 zunächst auf fünf Jahre abgeschlossene und vorläufig geheim¬
gehaltene Dreibund wurde 1887 erneuert, nachdem Crispi in Friedrichsruh
persönlich mit Bismarck verhandelt hatte und die Bestimmungen eine präzisere
Gestalt erhalten hatten. Wenn man Italiens Stellung im Dreibund richtig
würdigen will, so darf man nicht übersehen, daß seine Stellung zu Frankreich
ähnlich ist, wie die Deutschlands zu Rußland. Wir dürfen nicht empfindlich
sein, wenn man in Rom den Draht nach Paris ebensowenig abreißen lassen
will, wie wir den Draht nach Petersburg. Natürlich ist die öffentliche Meinung bei
uns verstimmt gewesen über die „Extratouren" des italienischen Bundesgenossen,
geradeso wie man in Wien über uns verstimmt war, als der Rückversicherungs-
vertrag mit Rußland nachträglich an den Tag kam. Aber Italien ist in erster
Linie Mittelmeermacht, und soweit ihm Frankreich dabei die Hand bietet, kann
es diesen Vorteil nicht abweisen. Wir haben dabei den Trost: je weiter


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[0563] Die Erneuerung des Dreibundes land nicht stören lassen wollte. Man hat später den neuen Kurs scharf ge¬ tadelt, daß er den Rückversicherungsvertragj mit Rußland fallen ließ. Heute, wo man in allen diesen Verhältnissen klarer sieht, wird man dieses Urteil wohl modifizieren müssen. Daran kann auch nichts ändern, wenn eine neuerliche „Enthüllung" von einer Seite, die sich auf Mitteilungen des Fürsten Herbert Bismarck beruft, kürzlich den Tadel der „Verständnislosigkeit" in noch schrofferer Form gegen den Grafen Caprivi erhoben hat. Heute sind mindestens starke Zweifel gestattet, ob man damals, nach der inzwischen ein¬ getretenen Entwicklung auf russischer Seite, wirklich so bereit war, den Vertrag zu erneuern, ob nicht vielmehr die beiden Bismarcks, Vater und Sohn, einer Selbsttäuschung unterlagen, als sie des Kaisers Alexanders auch noch im Jahre 1890 sicher zu sein glaubten. Da beide, noch ehe die Entscheidung fiel, aus dem Amte schieden, war ihnen eine Selbstkorrektur dieser Vorstellung unmöglich, und sie waren zu sehr Partei, um für das Nichtzustandekommen des Vertrages einen anderen Grund zu suchen als die Schuld Caprivis. Es sprechen sehr gewichtige Tat¬ sachen und Gründe dafür, daß die landläufige Meinung, Alexander der Dritte habe sich erst infolge des deutschen Verzichts aus die Verlängerung des Rück- versicherungsoertrages enger an Frankreich angeschlossen, falsch ist. Der Anschluß Italiens an das deutsch-österreichische Bündnis war nicht das Werk der deutschen Politik, sondern der italienischen Initiative. Die Eroberung von Tunis durch die Franzosen hatte den Italienern klar gemacht, daß ihre natürliche Machtstellung im Mittelmeer jederzeit durch eine Verständigung der Westmächte gefährdet werden konnte. Italien bedürfte also eines Rück¬ halts, der ihm Sicherheit gegen Angriffe der Westmüchte, vor allem Frankreichs gewährte. Hier bot sich der Gedanke des Anschlusses an die bereits unter¬ einander verbündeten Zentralmächte: an Deutschland, das gleichfalls durch Angriffsgelüste Frankreichs bedroht war, einen Bundesgenossen auf dieser Seite gebrauchen konnte, — an Österreich-Ungarn, das als Feind besonders gefährlich werden konnte und deshalb zu einem Freunde gemacht werden mußte. Der am 20. Mai 1882 zunächst auf fünf Jahre abgeschlossene und vorläufig geheim¬ gehaltene Dreibund wurde 1887 erneuert, nachdem Crispi in Friedrichsruh persönlich mit Bismarck verhandelt hatte und die Bestimmungen eine präzisere Gestalt erhalten hatten. Wenn man Italiens Stellung im Dreibund richtig würdigen will, so darf man nicht übersehen, daß seine Stellung zu Frankreich ähnlich ist, wie die Deutschlands zu Rußland. Wir dürfen nicht empfindlich sein, wenn man in Rom den Draht nach Paris ebensowenig abreißen lassen will, wie wir den Draht nach Petersburg. Natürlich ist die öffentliche Meinung bei uns verstimmt gewesen über die „Extratouren" des italienischen Bundesgenossen, geradeso wie man in Wien über uns verstimmt war, als der Rückversicherungs- vertrag mit Rußland nachträglich an den Tag kam. Aber Italien ist in erster Linie Mittelmeermacht, und soweit ihm Frankreich dabei die Hand bietet, kann es diesen Vorteil nicht abweisen. Wir haben dabei den Trost: je weiter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/563>, abgerufen am 15.01.2025.