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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Die Erneuerung des Dreibundes

über doch immer eine gewisse Grenze; Deutschland gegenüber gibt es eine
Grenze schlechterdings nicht. Bei solchen Erfahrungen genießen wir das Be¬
wußtsein, auch noch Freunde und sogar Verbündete außerhalb unserer Grenzen
zu haben, mit besonderem Wohlbehagen. Um so eher sind wir freilich auch
enttäuscht, wenn diese Freunde und Verbündeten nicht ganz den Begriffen ent¬
sprechen, die wir uns von ihrem Verhältnis zu uns gemacht haben. Es ist
deshalb wohl nützlich, einmal darüber nachzudenken, was ein Bündnis zwischen
verschiedenen Staaten überhaupt bedeutet, was es leisten kann und was es
nicht leisten kann.

Zunächst ist klar, daß die erste und oberste Rücksicht, die jeder Staat ohne
Ausnahme zu nehmen hat, in der Wahrung seines Selbstbestimmungsrechts
besteht, soweit er überhaupt Wert darauf legen will und muß, höchste irdische
Instanz zu bleiben. Mit jedem Vertrag, den ein Staat mit einem anderen
abschließt, opfert er einen Teil dieses Selbstbestimmungsrechts. Als die deutschen
Staaten zuerst im Norddeutschen Bunde, dann im Deutsche" Reich zu einem
"ewigen Bunde" zusammentraten, konnten sie das erwähnte Opfer bringen,
weil sie die geschichtliche Notwendigkeit erkannten, eine über dem Recht der
Einzelstaaten stehende Instanz, das Recht auf nationale Einheit, wieder an die
ihm gebührende Stelle zu setzen. In anderen Fällen aber ist ein Vertrag, der
unabhängige Staaten bindet, manche freie Entscheidung, besonders die über
Krieg und Frieden, bis zu einem gewissen Grade aus der Hand zu geben, eine
Sache, die in der Regel eine viel kompliziertere Erwägung in sich schließt, als
von den meisten vermutet wird. Denn die Beziehungen der Staaten zueinander
haben die Eigentümlichkeit, daß es mit dem bloßen Abmessen von Leistung und
Gegenleistung nicht getan ist. Scheinbar gleiche Verpflichtungen lösen oft über¬
raschende Wirkungen aus, und es zeigt sich dann, daß eine völlige Verschiebung
der Lage eingetreten ist, die dem einen der vertragschließenden Teile Vorteile
oder Nachteile auferlegt, an die niemand vorher gedacht hat. Es erscheint dem
Laien überaus einfach, daß zwei Staaten, die keine widerstreitenden, dagegen
mancherlei gemeinsame Interessen haben, den Beschluß fassen, gute Freunde zu
sein, und in einem Bündnis zum Ausdruck bringen, daß sie in guten und
bösen Tagen zusammenstehen wollen. Wer aber einen Begriff davon haben
will, welche Fülle von sorgfältigen und gründlichen Überlegungen einem solchen
Beschluß zugrunde liegen muß, der lese in den "Gedanken und Erinnerungen"
die Abschnitte nach, in denen Fürst Bismarck die Beziehungen des Deutschen
Reichs zu Rußland und Osterreich begründet. Bismarck war gewiß ein Freund
enger und freundschaftlicher Beziehungen zu Nußland. Trotzdem ging er auf
die scheinbar so vorteilhaften Anerbietungen des Grafen Peter Schuwalow wegen
eines Bündnisses nicht ein, weil sein scharfer Blick erkannte, daß Nußland zwar
dem Anschein nach dabei mehr einsetzte als Deutschland, in Wirklichkeit aber
Deutschland mehr festgelegt wurde, als nützlich war, und tatsächlich in eine
Abhängigkeit von der russischen Politik gekommen wäre.


Die Erneuerung des Dreibundes

über doch immer eine gewisse Grenze; Deutschland gegenüber gibt es eine
Grenze schlechterdings nicht. Bei solchen Erfahrungen genießen wir das Be¬
wußtsein, auch noch Freunde und sogar Verbündete außerhalb unserer Grenzen
zu haben, mit besonderem Wohlbehagen. Um so eher sind wir freilich auch
enttäuscht, wenn diese Freunde und Verbündeten nicht ganz den Begriffen ent¬
sprechen, die wir uns von ihrem Verhältnis zu uns gemacht haben. Es ist
deshalb wohl nützlich, einmal darüber nachzudenken, was ein Bündnis zwischen
verschiedenen Staaten überhaupt bedeutet, was es leisten kann und was es
nicht leisten kann.

Zunächst ist klar, daß die erste und oberste Rücksicht, die jeder Staat ohne
Ausnahme zu nehmen hat, in der Wahrung seines Selbstbestimmungsrechts
besteht, soweit er überhaupt Wert darauf legen will und muß, höchste irdische
Instanz zu bleiben. Mit jedem Vertrag, den ein Staat mit einem anderen
abschließt, opfert er einen Teil dieses Selbstbestimmungsrechts. Als die deutschen
Staaten zuerst im Norddeutschen Bunde, dann im Deutsche» Reich zu einem
„ewigen Bunde" zusammentraten, konnten sie das erwähnte Opfer bringen,
weil sie die geschichtliche Notwendigkeit erkannten, eine über dem Recht der
Einzelstaaten stehende Instanz, das Recht auf nationale Einheit, wieder an die
ihm gebührende Stelle zu setzen. In anderen Fällen aber ist ein Vertrag, der
unabhängige Staaten bindet, manche freie Entscheidung, besonders die über
Krieg und Frieden, bis zu einem gewissen Grade aus der Hand zu geben, eine
Sache, die in der Regel eine viel kompliziertere Erwägung in sich schließt, als
von den meisten vermutet wird. Denn die Beziehungen der Staaten zueinander
haben die Eigentümlichkeit, daß es mit dem bloßen Abmessen von Leistung und
Gegenleistung nicht getan ist. Scheinbar gleiche Verpflichtungen lösen oft über¬
raschende Wirkungen aus, und es zeigt sich dann, daß eine völlige Verschiebung
der Lage eingetreten ist, die dem einen der vertragschließenden Teile Vorteile
oder Nachteile auferlegt, an die niemand vorher gedacht hat. Es erscheint dem
Laien überaus einfach, daß zwei Staaten, die keine widerstreitenden, dagegen
mancherlei gemeinsame Interessen haben, den Beschluß fassen, gute Freunde zu
sein, und in einem Bündnis zum Ausdruck bringen, daß sie in guten und
bösen Tagen zusammenstehen wollen. Wer aber einen Begriff davon haben
will, welche Fülle von sorgfältigen und gründlichen Überlegungen einem solchen
Beschluß zugrunde liegen muß, der lese in den „Gedanken und Erinnerungen"
die Abschnitte nach, in denen Fürst Bismarck die Beziehungen des Deutschen
Reichs zu Rußland und Osterreich begründet. Bismarck war gewiß ein Freund
enger und freundschaftlicher Beziehungen zu Nußland. Trotzdem ging er auf
die scheinbar so vorteilhaften Anerbietungen des Grafen Peter Schuwalow wegen
eines Bündnisses nicht ein, weil sein scharfer Blick erkannte, daß Nußland zwar
dem Anschein nach dabei mehr einsetzte als Deutschland, in Wirklichkeit aber
Deutschland mehr festgelegt wurde, als nützlich war, und tatsächlich in eine
Abhängigkeit von der russischen Politik gekommen wäre.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/558>, abgerufen am 15.01.2025.