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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

daß die gemeinsamen Interessen Deutschlands, Hsterrcich-Ungarns und Italiens nach
wie vor so groß und vielseitig geblieben sind, daß selbst die verlockendsten An¬
erbietungen aus dem englischen oder französischen Lager es nicht vermochten,
ein Äquivalent zu bieten. Und auf dieser tief wurzelnden Gemeinsamkeit der
Interessen der Dreibundmächte beruht die Stärke des Bundes.

Den Dreibund im gegenwärtigen Augenblick als eine absolute Friedens¬
garantie hinstellen zu wollen, entspräche indessen nicht den Tatsachen. Gewiß
flößt er den Gegnern Respekt ein wie bisher, gewiß wird er auch in diesem
Augenblick den kriegslustiger Chauvinisten oder Panslawisten ein Argument
mehr für die Bewahrung des Friedens bedeuten, aber eine Garantie für den
Frieden ist er wie gesagt nicht: die Fragen, die gegenwärtig ein so bedrohliches
Gesicht angenommen haben, sind einstweilen keine Dreibundangelegenheiten,
sondern ausschließlich Österreich-Ungarische. Daran ist durch keine noch so feine
Beweisführung zu rütteln. Aber das ist ja bekannt und bedarf keiner Be¬
gründung mehr. Wie weit die Habsburgische Doppelmonarchie den Serben
gegenüber zu gehen gedenkt, muß der österreichisch-ungarischen Diplomatie schon
selbst überlassen bleiben.

Rußlands Haltung im serbisch-österreichisch-ungarischen Konflikte ver¬
dient nach wie vor kein Vertrauen, wenn auch nicht mit Sicherheit festgestellt
werden kann, wie die amtlichen Kreise in Petersburg und vor allen Dingen
der Zar selbst denken. Das Verhalten des amtlichen russischen Vertreters in
Belgrad, des Herrn Hartwig, erscheint zum mindesten eigenartig: es widerspricht
durchaus den loyalen Versicherungen, die Herr Ssasonow an allen Orten ab¬
gegeben hat. Bewahrheiten sich die Nachrichten vom letzten Sonnabend, wonach
Hartwig der serbischen Presse mitgeteilt haben soll, Rußland werde für den
Erwerb eines Adriahafens durch die Serben eintreten, dann müßte Rußland
bereit sein, Österreich-Ungarns Forderungen mit den Waffen in der Hand zu
begegnen. Denn das ist ja gerade der wichtigste Punkt des österreichischen
Widerstands gegen Serbien, daß Serbien wenigstens politisch nicht an die Adria
gelangen soll, aus Gründen, die im Heft 48 S. 437 näher auseinandergesetzt
wurden. Vielleicht übt die vorbehaltlose Erneuerung des Dreibundes auch auf
Rußland einen wohltuender Einfluß aus; vielleicht kann aber die russische
Regierung schon aus inneren Gründen nicht mehr zurück. Wie dem auch sei,
man wird Rußlands Haltung in der Adriafrage solange mit intensivem Mi߬
trauen begegnen müssen, wie es fortfährt sein Heer auf den Kriegsfuß zu
stellen. Gegenwärtig befinden sich im russischen Heere rund 400000 Mann über
den Friedensetat hinaus unter Gewehr. Das sind Mannschaften, die im Laufe
des Sommers und Herbstes dieses Jahres zu Übungen eingezogen waren und
bisher nicht entlassen wurden. Inzwischen reift aber auch der Rekrutenjahrgang
1912 heran und steigert mit jedem Tage die Kriegsbereitschaft unseres sar-
matischen Nachbarn; die russischen Rekruten gelten am 1./14. Januar als aus¬
gebildet. Entläßt Rußland nach diesem Termin seine älteren Jahrgänge noch


Reichsspiegel

daß die gemeinsamen Interessen Deutschlands, Hsterrcich-Ungarns und Italiens nach
wie vor so groß und vielseitig geblieben sind, daß selbst die verlockendsten An¬
erbietungen aus dem englischen oder französischen Lager es nicht vermochten,
ein Äquivalent zu bieten. Und auf dieser tief wurzelnden Gemeinsamkeit der
Interessen der Dreibundmächte beruht die Stärke des Bundes.

Den Dreibund im gegenwärtigen Augenblick als eine absolute Friedens¬
garantie hinstellen zu wollen, entspräche indessen nicht den Tatsachen. Gewiß
flößt er den Gegnern Respekt ein wie bisher, gewiß wird er auch in diesem
Augenblick den kriegslustiger Chauvinisten oder Panslawisten ein Argument
mehr für die Bewahrung des Friedens bedeuten, aber eine Garantie für den
Frieden ist er wie gesagt nicht: die Fragen, die gegenwärtig ein so bedrohliches
Gesicht angenommen haben, sind einstweilen keine Dreibundangelegenheiten,
sondern ausschließlich Österreich-Ungarische. Daran ist durch keine noch so feine
Beweisführung zu rütteln. Aber das ist ja bekannt und bedarf keiner Be¬
gründung mehr. Wie weit die Habsburgische Doppelmonarchie den Serben
gegenüber zu gehen gedenkt, muß der österreichisch-ungarischen Diplomatie schon
selbst überlassen bleiben.

Rußlands Haltung im serbisch-österreichisch-ungarischen Konflikte ver¬
dient nach wie vor kein Vertrauen, wenn auch nicht mit Sicherheit festgestellt
werden kann, wie die amtlichen Kreise in Petersburg und vor allen Dingen
der Zar selbst denken. Das Verhalten des amtlichen russischen Vertreters in
Belgrad, des Herrn Hartwig, erscheint zum mindesten eigenartig: es widerspricht
durchaus den loyalen Versicherungen, die Herr Ssasonow an allen Orten ab¬
gegeben hat. Bewahrheiten sich die Nachrichten vom letzten Sonnabend, wonach
Hartwig der serbischen Presse mitgeteilt haben soll, Rußland werde für den
Erwerb eines Adriahafens durch die Serben eintreten, dann müßte Rußland
bereit sein, Österreich-Ungarns Forderungen mit den Waffen in der Hand zu
begegnen. Denn das ist ja gerade der wichtigste Punkt des österreichischen
Widerstands gegen Serbien, daß Serbien wenigstens politisch nicht an die Adria
gelangen soll, aus Gründen, die im Heft 48 S. 437 näher auseinandergesetzt
wurden. Vielleicht übt die vorbehaltlose Erneuerung des Dreibundes auch auf
Rußland einen wohltuender Einfluß aus; vielleicht kann aber die russische
Regierung schon aus inneren Gründen nicht mehr zurück. Wie dem auch sei,
man wird Rußlands Haltung in der Adriafrage solange mit intensivem Mi߬
trauen begegnen müssen, wie es fortfährt sein Heer auf den Kriegsfuß zu
stellen. Gegenwärtig befinden sich im russischen Heere rund 400000 Mann über
den Friedensetat hinaus unter Gewehr. Das sind Mannschaften, die im Laufe
des Sommers und Herbstes dieses Jahres zu Übungen eingezogen waren und
bisher nicht entlassen wurden. Inzwischen reift aber auch der Rekrutenjahrgang
1912 heran und steigert mit jedem Tage die Kriegsbereitschaft unseres sar-
matischen Nachbarn; die russischen Rekruten gelten am 1./14. Januar als aus¬
gebildet. Entläßt Rußland nach diesem Termin seine älteren Jahrgänge noch


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[0551] Reichsspiegel daß die gemeinsamen Interessen Deutschlands, Hsterrcich-Ungarns und Italiens nach wie vor so groß und vielseitig geblieben sind, daß selbst die verlockendsten An¬ erbietungen aus dem englischen oder französischen Lager es nicht vermochten, ein Äquivalent zu bieten. Und auf dieser tief wurzelnden Gemeinsamkeit der Interessen der Dreibundmächte beruht die Stärke des Bundes. Den Dreibund im gegenwärtigen Augenblick als eine absolute Friedens¬ garantie hinstellen zu wollen, entspräche indessen nicht den Tatsachen. Gewiß flößt er den Gegnern Respekt ein wie bisher, gewiß wird er auch in diesem Augenblick den kriegslustiger Chauvinisten oder Panslawisten ein Argument mehr für die Bewahrung des Friedens bedeuten, aber eine Garantie für den Frieden ist er wie gesagt nicht: die Fragen, die gegenwärtig ein so bedrohliches Gesicht angenommen haben, sind einstweilen keine Dreibundangelegenheiten, sondern ausschließlich Österreich-Ungarische. Daran ist durch keine noch so feine Beweisführung zu rütteln. Aber das ist ja bekannt und bedarf keiner Be¬ gründung mehr. Wie weit die Habsburgische Doppelmonarchie den Serben gegenüber zu gehen gedenkt, muß der österreichisch-ungarischen Diplomatie schon selbst überlassen bleiben. Rußlands Haltung im serbisch-österreichisch-ungarischen Konflikte ver¬ dient nach wie vor kein Vertrauen, wenn auch nicht mit Sicherheit festgestellt werden kann, wie die amtlichen Kreise in Petersburg und vor allen Dingen der Zar selbst denken. Das Verhalten des amtlichen russischen Vertreters in Belgrad, des Herrn Hartwig, erscheint zum mindesten eigenartig: es widerspricht durchaus den loyalen Versicherungen, die Herr Ssasonow an allen Orten ab¬ gegeben hat. Bewahrheiten sich die Nachrichten vom letzten Sonnabend, wonach Hartwig der serbischen Presse mitgeteilt haben soll, Rußland werde für den Erwerb eines Adriahafens durch die Serben eintreten, dann müßte Rußland bereit sein, Österreich-Ungarns Forderungen mit den Waffen in der Hand zu begegnen. Denn das ist ja gerade der wichtigste Punkt des österreichischen Widerstands gegen Serbien, daß Serbien wenigstens politisch nicht an die Adria gelangen soll, aus Gründen, die im Heft 48 S. 437 näher auseinandergesetzt wurden. Vielleicht übt die vorbehaltlose Erneuerung des Dreibundes auch auf Rußland einen wohltuender Einfluß aus; vielleicht kann aber die russische Regierung schon aus inneren Gründen nicht mehr zurück. Wie dem auch sei, man wird Rußlands Haltung in der Adriafrage solange mit intensivem Mi߬ trauen begegnen müssen, wie es fortfährt sein Heer auf den Kriegsfuß zu stellen. Gegenwärtig befinden sich im russischen Heere rund 400000 Mann über den Friedensetat hinaus unter Gewehr. Das sind Mannschaften, die im Laufe des Sommers und Herbstes dieses Jahres zu Übungen eingezogen waren und bisher nicht entlassen wurden. Inzwischen reift aber auch der Rekrutenjahrgang 1912 heran und steigert mit jedem Tage die Kriegsbereitschaft unseres sar- matischen Nachbarn; die russischen Rekruten gelten am 1./14. Januar als aus¬ gebildet. Entläßt Rußland nach diesem Termin seine älteren Jahrgänge noch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/551>, abgerufen am 15.01.2025.