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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Der heutige Stand des Leib-Seele-Problems

Aber besitzen wir nicht ein grundlegendes Naturgesetz, das die Möglichkeit
eines Hinüberwirkens von Seelischem in das organische Gebiet dennoch prinzipiell
ausschließt? Fordert nicht das Gesetz von der Erhaltung der Energie, daß
die Summe der "Energie" der Fähigkeit, mechanische Arbeit zu leisten) in
der Natur in jedem Moment konstant bleibt? Diese Summe aber würde durch
ein Hinübergreifen körperlicher Wirkungen ins Geistige gekürzt, und durch das
umgekehrte Geschehen gesetzlos vermehrt werden. Bietet sich ein Weg, die
Forderung kausaler Beziehungen zwischen Leib und Seele mit diesem Gesetz in
Einklang zu bringen?

Becher macht uns mit einer Reihe der dahingehender Versuche bekannt.
Die überzeugendste Hypothese beruht auf der physikalischen Tatsache, daß es
Möglichkeiten genug gibt, die Bewegung eines materiellen Systems ohne Energie¬
aufwand zu beeinflussen; auf diese Art geschieht z. B. jede Richtungsänderung eines
in Bewegung befindlichen Körpers durch eine Kraft, die senkrecht zur Bewegung
ihres Angriffspunktes wirkt. Auf diese Weise wird uns also auch eine Mög-
lichkeit geboten, die Bewegungen im Großhirn als beeinflußbar von psychischen
Faktoren zu denken, ohne daß die Summe der körperlichen Energie beeinflußt,
ohne daß somit das Euergiegesetz verletzt würde. Und es eröffnet sich uns
somit ein Weg, die grundlegendsten Forderungen der Naturerkenntnis mit der
Auffassung in Einklang zu bringen, die uns dauernd am natürlichsten und
einfachsten erscheint, weil sie am wenigsten zu Hypothesen zwingt, die den Boden
der Erfahrung verlassen. Eine solche Auffassung aber ist die Überzeugung, daß
wir in den Sinneswahrnehmungen Wirkungen aus der Außenwelt in unserem
Geiste aufnehmen, und daß wir umgekehrt durch die seelischen Regungen des Willens¬
lebens unseren Körper zu beeinflussen fähig sind. Entzöge die wissenschaftliche Er¬
kenntnis, wie es eine Zeitlang schien, einer solchen Auffassung den Boden, so
hätten wir die Pflicht, unsere Weltauffassung mit dieser Erkenntnis in Einklang zu
bringen und in den grundlegendsten Fragen umzudenken. Aber Becher zeigt uns --
an einer Fülle von modernem, wissenschaftlichen Material --, daß die Sach¬
lage keineswegs so ist, sondern daß die Gründe für die Wechselwirkungstheorie
durchschlagender sind, als die für den Parallelismus.

Darüber hinaus versucht er noch eine Versöhnung der beiden entgegen¬
stehenden Weltauffassungen. Nicht in ihr möchte ich das wesentliche Verdienst
von Bechers Arbeit sehen; es liegt vielmehr darin, daß er in der vorliegenden
grundlegenden Frage das Für und Wider sachlich, scharfsinnig und gründlich
erwägt, auf Grund eines reichen, aus der neuesten naturwissenschaftlichen und
philosophischen Literatur geschöpften Materials.




Grenzboten IV 1S1206
Der heutige Stand des Leib-Seele-Problems

Aber besitzen wir nicht ein grundlegendes Naturgesetz, das die Möglichkeit
eines Hinüberwirkens von Seelischem in das organische Gebiet dennoch prinzipiell
ausschließt? Fordert nicht das Gesetz von der Erhaltung der Energie, daß
die Summe der „Energie" der Fähigkeit, mechanische Arbeit zu leisten) in
der Natur in jedem Moment konstant bleibt? Diese Summe aber würde durch
ein Hinübergreifen körperlicher Wirkungen ins Geistige gekürzt, und durch das
umgekehrte Geschehen gesetzlos vermehrt werden. Bietet sich ein Weg, die
Forderung kausaler Beziehungen zwischen Leib und Seele mit diesem Gesetz in
Einklang zu bringen?

Becher macht uns mit einer Reihe der dahingehender Versuche bekannt.
Die überzeugendste Hypothese beruht auf der physikalischen Tatsache, daß es
Möglichkeiten genug gibt, die Bewegung eines materiellen Systems ohne Energie¬
aufwand zu beeinflussen; auf diese Art geschieht z. B. jede Richtungsänderung eines
in Bewegung befindlichen Körpers durch eine Kraft, die senkrecht zur Bewegung
ihres Angriffspunktes wirkt. Auf diese Weise wird uns also auch eine Mög-
lichkeit geboten, die Bewegungen im Großhirn als beeinflußbar von psychischen
Faktoren zu denken, ohne daß die Summe der körperlichen Energie beeinflußt,
ohne daß somit das Euergiegesetz verletzt würde. Und es eröffnet sich uns
somit ein Weg, die grundlegendsten Forderungen der Naturerkenntnis mit der
Auffassung in Einklang zu bringen, die uns dauernd am natürlichsten und
einfachsten erscheint, weil sie am wenigsten zu Hypothesen zwingt, die den Boden
der Erfahrung verlassen. Eine solche Auffassung aber ist die Überzeugung, daß
wir in den Sinneswahrnehmungen Wirkungen aus der Außenwelt in unserem
Geiste aufnehmen, und daß wir umgekehrt durch die seelischen Regungen des Willens¬
lebens unseren Körper zu beeinflussen fähig sind. Entzöge die wissenschaftliche Er¬
kenntnis, wie es eine Zeitlang schien, einer solchen Auffassung den Boden, so
hätten wir die Pflicht, unsere Weltauffassung mit dieser Erkenntnis in Einklang zu
bringen und in den grundlegendsten Fragen umzudenken. Aber Becher zeigt uns —
an einer Fülle von modernem, wissenschaftlichen Material —, daß die Sach¬
lage keineswegs so ist, sondern daß die Gründe für die Wechselwirkungstheorie
durchschlagender sind, als die für den Parallelismus.

Darüber hinaus versucht er noch eine Versöhnung der beiden entgegen¬
stehenden Weltauffassungen. Nicht in ihr möchte ich das wesentliche Verdienst
von Bechers Arbeit sehen; es liegt vielmehr darin, daß er in der vorliegenden
grundlegenden Frage das Für und Wider sachlich, scharfsinnig und gründlich
erwägt, auf Grund eines reichen, aus der neuesten naturwissenschaftlichen und
philosophischen Literatur geschöpften Materials.




Grenzboten IV 1S1206
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[0524] Der heutige Stand des Leib-Seele-Problems Aber besitzen wir nicht ein grundlegendes Naturgesetz, das die Möglichkeit eines Hinüberwirkens von Seelischem in das organische Gebiet dennoch prinzipiell ausschließt? Fordert nicht das Gesetz von der Erhaltung der Energie, daß die Summe der „Energie" der Fähigkeit, mechanische Arbeit zu leisten) in der Natur in jedem Moment konstant bleibt? Diese Summe aber würde durch ein Hinübergreifen körperlicher Wirkungen ins Geistige gekürzt, und durch das umgekehrte Geschehen gesetzlos vermehrt werden. Bietet sich ein Weg, die Forderung kausaler Beziehungen zwischen Leib und Seele mit diesem Gesetz in Einklang zu bringen? Becher macht uns mit einer Reihe der dahingehender Versuche bekannt. Die überzeugendste Hypothese beruht auf der physikalischen Tatsache, daß es Möglichkeiten genug gibt, die Bewegung eines materiellen Systems ohne Energie¬ aufwand zu beeinflussen; auf diese Art geschieht z. B. jede Richtungsänderung eines in Bewegung befindlichen Körpers durch eine Kraft, die senkrecht zur Bewegung ihres Angriffspunktes wirkt. Auf diese Weise wird uns also auch eine Mög- lichkeit geboten, die Bewegungen im Großhirn als beeinflußbar von psychischen Faktoren zu denken, ohne daß die Summe der körperlichen Energie beeinflußt, ohne daß somit das Euergiegesetz verletzt würde. Und es eröffnet sich uns somit ein Weg, die grundlegendsten Forderungen der Naturerkenntnis mit der Auffassung in Einklang zu bringen, die uns dauernd am natürlichsten und einfachsten erscheint, weil sie am wenigsten zu Hypothesen zwingt, die den Boden der Erfahrung verlassen. Eine solche Auffassung aber ist die Überzeugung, daß wir in den Sinneswahrnehmungen Wirkungen aus der Außenwelt in unserem Geiste aufnehmen, und daß wir umgekehrt durch die seelischen Regungen des Willens¬ lebens unseren Körper zu beeinflussen fähig sind. Entzöge die wissenschaftliche Er¬ kenntnis, wie es eine Zeitlang schien, einer solchen Auffassung den Boden, so hätten wir die Pflicht, unsere Weltauffassung mit dieser Erkenntnis in Einklang zu bringen und in den grundlegendsten Fragen umzudenken. Aber Becher zeigt uns — an einer Fülle von modernem, wissenschaftlichen Material —, daß die Sach¬ lage keineswegs so ist, sondern daß die Gründe für die Wechselwirkungstheorie durchschlagender sind, als die für den Parallelismus. Darüber hinaus versucht er noch eine Versöhnung der beiden entgegen¬ stehenden Weltauffassungen. Nicht in ihr möchte ich das wesentliche Verdienst von Bechers Arbeit sehen; es liegt vielmehr darin, daß er in der vorliegenden grundlegenden Frage das Für und Wider sachlich, scharfsinnig und gründlich erwägt, auf Grund eines reichen, aus der neuesten naturwissenschaftlichen und philosophischen Literatur geschöpften Materials. Grenzboten IV 1S1206

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/524>, abgerufen am 15.01.2025.