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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Der heutige Stand des Leib-Seele-Problems

Auch unsere Gehirnprozesse, an die wir die Bewußtseinserlebnisse gebunden
sehen, wären, wie alles Körperliche, nichts Reales; vielmehr müßten sie eine
Erscheinung, eine Manifestation darstellen zu den allein realen Bewußtseins¬
vorgängen.

Aber diese Hypothese -- so einleuchtend sie in vieler Beziehung erscheint --
hält dennoch der Kritik nicht stand; denn diese letzten Glieder -- die Bewußtseins¬
erlebnisse und die Gehirnvorgänge -- sind so inkommensurabel, daß diese nicht
als "Manifestation", als Erscheinung von jenen aufgefaßt werden können. Die
Elemente unserer seelischen Erlebnisse (z. B. eine Tonwahrnehmung) sind ab¬
solut einfacher, unteilbarer Natur; im Physiologischen dagegen entsprechen jeder
Wahrnehmung' eine große Zahl von Erregungen. Sollten die Erregungen, die
auch nur in einer Gehirnzelle beständig wirksam sind, eine Manifestation von
Bewußtseinserlebnissen darstellen, so müßte ihnen eine Vielheit seelischer
Vorgänge entsprechen. Das ist aber tatsächlich nicht der Fall. Wir haben
aber ferner im Physiologischen ein dauerndes Substrat, an dem die Vorgänge,
die der Tonempfindung entsprechen, eine Veränderung bedeuten; ja diese Vor-
gänge sind im Grunde die sich verändernde, bewegende Hirnsubstanz selbst.
Der Ton dagegen ist nicht die Veränderung eines dauernd Seienden; er ist
ein einmaliges Geschehen; wer ihn hört, "erlebt nicht ein substanzartig Dauerndes,
das sich während des Erlebens veränderte". So kann das Tonerlebnis nicht
das Reale, das "Ansichseiende" des Gehirnvorgangs sein; es kann lediglich mit
diesem gleichfalls realen und eine andere Art der Wirklichkeit darstellenden
Gehirnvorgang verbunden sein. Sollten unsere körperlichen Vorgänge die
Manifestationen eines seelischen Geschehens darstellen, so müßten wir fordern,
daß jedem Vorgang, ja daß jeder Zelle ein seelisches "Ding an sich" entspräche,
dann kämen wir schließlich zu der in der Philosophie oft erhobenen Forderung
der "Atomseelen". Diese aber würden zur Lösung des Leib-Seele-Problems
nichts beitragen; denn niemals ist aus einer Vielheit von Seelen die Bewußt¬
seinseinheit, die unser Seelenleben charakterisiert, zu erklären. So bietet jede
Form des Parallelismus neue, .unüberwindliche Schwierigkeiten.

Aber sind denn die Argumente, die der Annahme einer "Wechselwirkung"
von Leib und Seele entgegenstehen, gleichfalls unüberwindlich? Ist die For¬
derung, daß materielle Wirkungen allerorten nur durch materielle Ursachen
hervorgebracht werden können, von vornherein selbstverständlich? Wir werden
heut nicht mehr das Prinzip aufstellen: nur Gleiches könne auf Gleiches wirken;
wir wissen, daß über Wirkungsmöglichkeiten nur Erfahrung entscheiden kann.
Ebensowenig wird uns die Tatsache, daß seelische Vorgänge sich der genauen
Messung entziehen, gegen ihr gesetzmäßiges Eingreifen in den Naturzusammen¬
hang sprechen; denn auch diese unsere Forderung darf die Wirklichkeit nicht
meistern. Die Tatsache aber, daß die seelischen Vorgänge, die wir erleben,
nicht aus den physiologischen Begleitprozessen allein zu erklären sind, spricht gegen
die Geschlossenheit der Naturkausalität.


Der heutige Stand des Leib-Seele-Problems

Auch unsere Gehirnprozesse, an die wir die Bewußtseinserlebnisse gebunden
sehen, wären, wie alles Körperliche, nichts Reales; vielmehr müßten sie eine
Erscheinung, eine Manifestation darstellen zu den allein realen Bewußtseins¬
vorgängen.

Aber diese Hypothese — so einleuchtend sie in vieler Beziehung erscheint —
hält dennoch der Kritik nicht stand; denn diese letzten Glieder — die Bewußtseins¬
erlebnisse und die Gehirnvorgänge — sind so inkommensurabel, daß diese nicht
als „Manifestation", als Erscheinung von jenen aufgefaßt werden können. Die
Elemente unserer seelischen Erlebnisse (z. B. eine Tonwahrnehmung) sind ab¬
solut einfacher, unteilbarer Natur; im Physiologischen dagegen entsprechen jeder
Wahrnehmung' eine große Zahl von Erregungen. Sollten die Erregungen, die
auch nur in einer Gehirnzelle beständig wirksam sind, eine Manifestation von
Bewußtseinserlebnissen darstellen, so müßte ihnen eine Vielheit seelischer
Vorgänge entsprechen. Das ist aber tatsächlich nicht der Fall. Wir haben
aber ferner im Physiologischen ein dauerndes Substrat, an dem die Vorgänge,
die der Tonempfindung entsprechen, eine Veränderung bedeuten; ja diese Vor-
gänge sind im Grunde die sich verändernde, bewegende Hirnsubstanz selbst.
Der Ton dagegen ist nicht die Veränderung eines dauernd Seienden; er ist
ein einmaliges Geschehen; wer ihn hört, „erlebt nicht ein substanzartig Dauerndes,
das sich während des Erlebens veränderte". So kann das Tonerlebnis nicht
das Reale, das „Ansichseiende" des Gehirnvorgangs sein; es kann lediglich mit
diesem gleichfalls realen und eine andere Art der Wirklichkeit darstellenden
Gehirnvorgang verbunden sein. Sollten unsere körperlichen Vorgänge die
Manifestationen eines seelischen Geschehens darstellen, so müßten wir fordern,
daß jedem Vorgang, ja daß jeder Zelle ein seelisches „Ding an sich" entspräche,
dann kämen wir schließlich zu der in der Philosophie oft erhobenen Forderung
der „Atomseelen". Diese aber würden zur Lösung des Leib-Seele-Problems
nichts beitragen; denn niemals ist aus einer Vielheit von Seelen die Bewußt¬
seinseinheit, die unser Seelenleben charakterisiert, zu erklären. So bietet jede
Form des Parallelismus neue, .unüberwindliche Schwierigkeiten.

Aber sind denn die Argumente, die der Annahme einer „Wechselwirkung"
von Leib und Seele entgegenstehen, gleichfalls unüberwindlich? Ist die For¬
derung, daß materielle Wirkungen allerorten nur durch materielle Ursachen
hervorgebracht werden können, von vornherein selbstverständlich? Wir werden
heut nicht mehr das Prinzip aufstellen: nur Gleiches könne auf Gleiches wirken;
wir wissen, daß über Wirkungsmöglichkeiten nur Erfahrung entscheiden kann.
Ebensowenig wird uns die Tatsache, daß seelische Vorgänge sich der genauen
Messung entziehen, gegen ihr gesetzmäßiges Eingreifen in den Naturzusammen¬
hang sprechen; denn auch diese unsere Forderung darf die Wirklichkeit nicht
meistern. Die Tatsache aber, daß die seelischen Vorgänge, die wir erleben,
nicht aus den physiologischen Begleitprozessen allein zu erklären sind, spricht gegen
die Geschlossenheit der Naturkausalität.


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[0523] Der heutige Stand des Leib-Seele-Problems Auch unsere Gehirnprozesse, an die wir die Bewußtseinserlebnisse gebunden sehen, wären, wie alles Körperliche, nichts Reales; vielmehr müßten sie eine Erscheinung, eine Manifestation darstellen zu den allein realen Bewußtseins¬ vorgängen. Aber diese Hypothese — so einleuchtend sie in vieler Beziehung erscheint — hält dennoch der Kritik nicht stand; denn diese letzten Glieder — die Bewußtseins¬ erlebnisse und die Gehirnvorgänge — sind so inkommensurabel, daß diese nicht als „Manifestation", als Erscheinung von jenen aufgefaßt werden können. Die Elemente unserer seelischen Erlebnisse (z. B. eine Tonwahrnehmung) sind ab¬ solut einfacher, unteilbarer Natur; im Physiologischen dagegen entsprechen jeder Wahrnehmung' eine große Zahl von Erregungen. Sollten die Erregungen, die auch nur in einer Gehirnzelle beständig wirksam sind, eine Manifestation von Bewußtseinserlebnissen darstellen, so müßte ihnen eine Vielheit seelischer Vorgänge entsprechen. Das ist aber tatsächlich nicht der Fall. Wir haben aber ferner im Physiologischen ein dauerndes Substrat, an dem die Vorgänge, die der Tonempfindung entsprechen, eine Veränderung bedeuten; ja diese Vor- gänge sind im Grunde die sich verändernde, bewegende Hirnsubstanz selbst. Der Ton dagegen ist nicht die Veränderung eines dauernd Seienden; er ist ein einmaliges Geschehen; wer ihn hört, „erlebt nicht ein substanzartig Dauerndes, das sich während des Erlebens veränderte". So kann das Tonerlebnis nicht das Reale, das „Ansichseiende" des Gehirnvorgangs sein; es kann lediglich mit diesem gleichfalls realen und eine andere Art der Wirklichkeit darstellenden Gehirnvorgang verbunden sein. Sollten unsere körperlichen Vorgänge die Manifestationen eines seelischen Geschehens darstellen, so müßten wir fordern, daß jedem Vorgang, ja daß jeder Zelle ein seelisches „Ding an sich" entspräche, dann kämen wir schließlich zu der in der Philosophie oft erhobenen Forderung der „Atomseelen". Diese aber würden zur Lösung des Leib-Seele-Problems nichts beitragen; denn niemals ist aus einer Vielheit von Seelen die Bewußt¬ seinseinheit, die unser Seelenleben charakterisiert, zu erklären. So bietet jede Form des Parallelismus neue, .unüberwindliche Schwierigkeiten. Aber sind denn die Argumente, die der Annahme einer „Wechselwirkung" von Leib und Seele entgegenstehen, gleichfalls unüberwindlich? Ist die For¬ derung, daß materielle Wirkungen allerorten nur durch materielle Ursachen hervorgebracht werden können, von vornherein selbstverständlich? Wir werden heut nicht mehr das Prinzip aufstellen: nur Gleiches könne auf Gleiches wirken; wir wissen, daß über Wirkungsmöglichkeiten nur Erfahrung entscheiden kann. Ebensowenig wird uns die Tatsache, daß seelische Vorgänge sich der genauen Messung entziehen, gegen ihr gesetzmäßiges Eingreifen in den Naturzusammen¬ hang sprechen; denn auch diese unsere Forderung darf die Wirklichkeit nicht meistern. Die Tatsache aber, daß die seelischen Vorgänge, die wir erleben, nicht aus den physiologischen Begleitprozessen allein zu erklären sind, spricht gegen die Geschlossenheit der Naturkausalität.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/523>, abgerufen am 15.01.2025.