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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Dichtung und Wahrheit i" der Marokkofrage

Verständnis mit dem französischen Protektorat über Marokko klar zu machen.
Die von England genährte Furcht der Franzosen, Deutschland könne sich trotz
alledem im Susgebiet festsetzen, fand eine weitere Bestärkung durch die neu¬
belebten Hoffnungen der Altdeutschen.

Diese Kreise haben es Herrn von Kiderlen sehr verdacht, daß er ihre
Neigung zu extravaganten Treibereien und zu Mißverständnissen in dieser Richtung
etwas skrupellos in den Dienst seiner Politik stellte und sie als Springer und
Läufer in seinem diplomatischen Schachspiel verwendete. Ihr Groll darüber ist
begreiflich; aber warum ein guter Diplomat in dieser argen, sündhaften Welt
dieses überall und jederzeit gebrauchte Mittel grundsätzlich verschmähen sollte,
ist nicht recht einzusehen. Selbst wenn man jedoch aus verschiedenen Gründen
meint, daß Herr von Kiderlen das besser vermieden hätte, so hätten doch gerade
die Altdeutschen allen Grund, ihm mildernde Umstände zuzubilligen, da sie in
ihrer Agitation anläßlich der so besonders schwierigen Marokkofrage viele Jahre
hindurch mit mindestens gleicher Skrupellosigkeit über die loyalen und authen¬
tischen Aufklärungen der Regierung hinweggegangen sind und immer wieder
versucht haben, unsere Politik in eine andere Bahn zu drängen, als von Anfang
an vorgezeichnet war. Herr von Kiderlen hatte jedenfalls seinen Zweck erreicht,
den Franzosen begreiflich zu machen, daß eine weitgehende Gewährung ihrer
Wünsche in Marokko ein erheblich größeres Maß von Entgegenkommen und
gutem Willen auf deutscher Seite bedeutete, als man in Frankreich bis dahin
geglaubt hatte. So konnte er eine entsprechende Kompensation fordern.

Auch um diese Kompensationsfrage haben die in der Marokkofrage leider
chronischen Mißverständnisse einen Schleier von Dichtung gewoben. Man hat
die Sache so dargestellt, als ob wir schönes, fruchtbares Land in Marokko
gegen unbrauchbare, pesthauchende Sümpfe im Kongoland ausgetauscht hätten.
Nur schade, daß wir dieses Land in Marokko nie besessen und auch nie ein
Recht darauf gehabt haben. Was wir Frankreich gegeben haben, war nicht
ein Land, sondern ein von uns selbst nie geübtes und überdies für uns wertlos
gewordenes, von Frankreich aber erst zu realisierendes Recht.

Es konnten hier nur die wesentlichsten Punkte der Frage berührt werden.
Daß im einzelnen mancherlei geschehen ist, worüber die Meinungen auch der
Eingeweihten auseinandergehen werden, liegt auf der Hand. Den Anhängern
einer deutschen Eroberungspolitik in Marokko wird natürlich niemand das Recht
bestreiten können, zu beklagen, daß die deutsche Politik ihren Wünschen nicht
gefolgt ist, und noch viel weitere Kreise werden die unglückliche Fügung über¬
haupt bedauern, daß wir uns mit Marokko befassen mußten. Das sind an
sich berechtigte Ansichten. Aber auch diese entbinden den besonnenen Beurteiler
nicht von der Pflicht, die tatsächlich und konsequent befolgte deutsche Marokko¬
politik in ihrem ganzen Zusammenhange, losgelöst von dem Wust von Er¬
dichtungen. Mißverständnissen und falschen Schlüssen, zu betrachten und sich
auch aus den Darstellungen von der anderen Seite -- etwa von Tardieu oder


Dichtung und Wahrheit i» der Marokkofrage

Verständnis mit dem französischen Protektorat über Marokko klar zu machen.
Die von England genährte Furcht der Franzosen, Deutschland könne sich trotz
alledem im Susgebiet festsetzen, fand eine weitere Bestärkung durch die neu¬
belebten Hoffnungen der Altdeutschen.

Diese Kreise haben es Herrn von Kiderlen sehr verdacht, daß er ihre
Neigung zu extravaganten Treibereien und zu Mißverständnissen in dieser Richtung
etwas skrupellos in den Dienst seiner Politik stellte und sie als Springer und
Läufer in seinem diplomatischen Schachspiel verwendete. Ihr Groll darüber ist
begreiflich; aber warum ein guter Diplomat in dieser argen, sündhaften Welt
dieses überall und jederzeit gebrauchte Mittel grundsätzlich verschmähen sollte,
ist nicht recht einzusehen. Selbst wenn man jedoch aus verschiedenen Gründen
meint, daß Herr von Kiderlen das besser vermieden hätte, so hätten doch gerade
die Altdeutschen allen Grund, ihm mildernde Umstände zuzubilligen, da sie in
ihrer Agitation anläßlich der so besonders schwierigen Marokkofrage viele Jahre
hindurch mit mindestens gleicher Skrupellosigkeit über die loyalen und authen¬
tischen Aufklärungen der Regierung hinweggegangen sind und immer wieder
versucht haben, unsere Politik in eine andere Bahn zu drängen, als von Anfang
an vorgezeichnet war. Herr von Kiderlen hatte jedenfalls seinen Zweck erreicht,
den Franzosen begreiflich zu machen, daß eine weitgehende Gewährung ihrer
Wünsche in Marokko ein erheblich größeres Maß von Entgegenkommen und
gutem Willen auf deutscher Seite bedeutete, als man in Frankreich bis dahin
geglaubt hatte. So konnte er eine entsprechende Kompensation fordern.

Auch um diese Kompensationsfrage haben die in der Marokkofrage leider
chronischen Mißverständnisse einen Schleier von Dichtung gewoben. Man hat
die Sache so dargestellt, als ob wir schönes, fruchtbares Land in Marokko
gegen unbrauchbare, pesthauchende Sümpfe im Kongoland ausgetauscht hätten.
Nur schade, daß wir dieses Land in Marokko nie besessen und auch nie ein
Recht darauf gehabt haben. Was wir Frankreich gegeben haben, war nicht
ein Land, sondern ein von uns selbst nie geübtes und überdies für uns wertlos
gewordenes, von Frankreich aber erst zu realisierendes Recht.

Es konnten hier nur die wesentlichsten Punkte der Frage berührt werden.
Daß im einzelnen mancherlei geschehen ist, worüber die Meinungen auch der
Eingeweihten auseinandergehen werden, liegt auf der Hand. Den Anhängern
einer deutschen Eroberungspolitik in Marokko wird natürlich niemand das Recht
bestreiten können, zu beklagen, daß die deutsche Politik ihren Wünschen nicht
gefolgt ist, und noch viel weitere Kreise werden die unglückliche Fügung über¬
haupt bedauern, daß wir uns mit Marokko befassen mußten. Das sind an
sich berechtigte Ansichten. Aber auch diese entbinden den besonnenen Beurteiler
nicht von der Pflicht, die tatsächlich und konsequent befolgte deutsche Marokko¬
politik in ihrem ganzen Zusammenhange, losgelöst von dem Wust von Er¬
dichtungen. Mißverständnissen und falschen Schlüssen, zu betrachten und sich
auch aus den Darstellungen von der anderen Seite — etwa von Tardieu oder


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[0518] Dichtung und Wahrheit i» der Marokkofrage Verständnis mit dem französischen Protektorat über Marokko klar zu machen. Die von England genährte Furcht der Franzosen, Deutschland könne sich trotz alledem im Susgebiet festsetzen, fand eine weitere Bestärkung durch die neu¬ belebten Hoffnungen der Altdeutschen. Diese Kreise haben es Herrn von Kiderlen sehr verdacht, daß er ihre Neigung zu extravaganten Treibereien und zu Mißverständnissen in dieser Richtung etwas skrupellos in den Dienst seiner Politik stellte und sie als Springer und Läufer in seinem diplomatischen Schachspiel verwendete. Ihr Groll darüber ist begreiflich; aber warum ein guter Diplomat in dieser argen, sündhaften Welt dieses überall und jederzeit gebrauchte Mittel grundsätzlich verschmähen sollte, ist nicht recht einzusehen. Selbst wenn man jedoch aus verschiedenen Gründen meint, daß Herr von Kiderlen das besser vermieden hätte, so hätten doch gerade die Altdeutschen allen Grund, ihm mildernde Umstände zuzubilligen, da sie in ihrer Agitation anläßlich der so besonders schwierigen Marokkofrage viele Jahre hindurch mit mindestens gleicher Skrupellosigkeit über die loyalen und authen¬ tischen Aufklärungen der Regierung hinweggegangen sind und immer wieder versucht haben, unsere Politik in eine andere Bahn zu drängen, als von Anfang an vorgezeichnet war. Herr von Kiderlen hatte jedenfalls seinen Zweck erreicht, den Franzosen begreiflich zu machen, daß eine weitgehende Gewährung ihrer Wünsche in Marokko ein erheblich größeres Maß von Entgegenkommen und gutem Willen auf deutscher Seite bedeutete, als man in Frankreich bis dahin geglaubt hatte. So konnte er eine entsprechende Kompensation fordern. Auch um diese Kompensationsfrage haben die in der Marokkofrage leider chronischen Mißverständnisse einen Schleier von Dichtung gewoben. Man hat die Sache so dargestellt, als ob wir schönes, fruchtbares Land in Marokko gegen unbrauchbare, pesthauchende Sümpfe im Kongoland ausgetauscht hätten. Nur schade, daß wir dieses Land in Marokko nie besessen und auch nie ein Recht darauf gehabt haben. Was wir Frankreich gegeben haben, war nicht ein Land, sondern ein von uns selbst nie geübtes und überdies für uns wertlos gewordenes, von Frankreich aber erst zu realisierendes Recht. Es konnten hier nur die wesentlichsten Punkte der Frage berührt werden. Daß im einzelnen mancherlei geschehen ist, worüber die Meinungen auch der Eingeweihten auseinandergehen werden, liegt auf der Hand. Den Anhängern einer deutschen Eroberungspolitik in Marokko wird natürlich niemand das Recht bestreiten können, zu beklagen, daß die deutsche Politik ihren Wünschen nicht gefolgt ist, und noch viel weitere Kreise werden die unglückliche Fügung über¬ haupt bedauern, daß wir uns mit Marokko befassen mußten. Das sind an sich berechtigte Ansichten. Aber auch diese entbinden den besonnenen Beurteiler nicht von der Pflicht, die tatsächlich und konsequent befolgte deutsche Marokko¬ politik in ihrem ganzen Zusammenhange, losgelöst von dem Wust von Er¬ dichtungen. Mißverständnissen und falschen Schlüssen, zu betrachten und sich auch aus den Darstellungen von der anderen Seite — etwa von Tardieu oder

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Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

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Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/518>, abgerufen am 15.01.2025.