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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Dichtung und Wahrheit in der Marokkofrage

vermieden und euch überlassen hätten." Und das war auch der wesentliche
Inhalt der diplomatischen Erläuterungen, die diesen Schritt begleiteten und ihm
folgten. Nur enthielten sie noch den weiteren Gedanken, der den Zweck der
Demonstration klarstellte und den man kurz durch den Zusatz ausdrücken kann:
"-- es sei denn, daß ihr mit uns in neue Verhandlungen tretet."

Von welchen Erwägungen gingen nun diese neuen Verhandlungen aus,
und was war ihr Ziel? So wie nunmehr die Sache stand, hatte Deutschland
kein Interesse mehr an der Unabhängigkeit Marokkos, nachdem dieser Staat
fünf Jahre hindurch einen Beweis über den anderen geliefert hatte, daß ihm
nicht zu helfen war. Wie schon an anderer Stelle angedeutet wurde, war die
sogenannte Freiheit Marokkos im Laufe der Entwicklung nur eine bequeme
Gelegenheit für die Franzosen geworden, die Verantwortung für allerlei Rechts¬
verletzungen von sich abzuwälzen. Die Besorgnis aber, daß Frankreich an den
fundamentalen Rechten Deutschlands noch einmal so vorbeigehen würde, wie es
1904 versucht hatte, war nach dem Vertrage von 1909 nicht mehr begründet --
trotz der immer noch vorhandenen Neigung zu Übergriffen. Deshalb lag es
jetzt unter den veränderten Umständen nur im deutschen Interesse, klare Ver¬
hältnisse zu schaffen und der französischen Marokkopolitik sogar behilflich zu sein,
an ihr Ziel zu gelangen. Aber es geht in den Beziehungen der Völker zu¬
einander ähnlich wie in privaten Rechtsverhältnissen: niemand gibt ein formales
Recht ohne Gegenleistung auf, und das selbst dann nicht, wenn der formale
Verzicht einen realen und sehr erwünschten Nutzen bringt. Wäre Frankreich,
ohne die Algecircisakte zu verletzen, eines Tages an Deutschland heran¬
getreten, um ihm unter Hinweis auf die Veränderung der Lage und sein
eigenes Interesse Verhandlungen vorzuschlagen, so wäre das für uns eine
gewisse Verlegenheit gewesen. Glücklicherweise schlug Frankreich diesen Weg
nicht ein, verleitet durch die Furcht vor den Schreiern im eigenen Lande,
die sich bei jeder Verstä'ndiguug mit Deutschland erheben, verleitet aber auch
durch die von Morel sehr klar nachgewiesenen Fehler der englischen Politik,
die sich französischer gebärdete als die Franzosen. Frankreich durchbrach die
Bestimmungen der Algecirasakte und gab damit Deutschland das Mittel an die
Hand, den geforderten Verzicht zu einem größeren Kompensationsobjekt zu
gestalten. Es galt für unsere Politik jetzt schnell und entschlossen zunächst
einmal die Freiheit auszunutzen, die uns Frankreich durch seinen Rechtsbruch
verschafft hatte, und darum wurde gerade die Maßregel der Entsendung eines
Kriegsschiffes nach dem außerhalb der französischen Machtsphäre gelegenen
Agadir gewählt, weil dieser Schritt die Möglichkeit einer Okkupation offen ließ.
Wirklich beabsichtigt ist eine solche nie gewesen, und unsere Regierung konnte
auch ruhig diese Erklärung abgeben; die Möglichkeit genügte für den Zweck der
Verhandlungen, denn es kam nur darauf an, eine greifbare Konsequenz des
von den Franzosen begangenen Fehlers zu schaffen, um ihnen die Notwendigkeit
einer Gegenleistung für den deutschen Verzicht und für das deutsche Ein-


Dichtung und Wahrheit in der Marokkofrage

vermieden und euch überlassen hätten." Und das war auch der wesentliche
Inhalt der diplomatischen Erläuterungen, die diesen Schritt begleiteten und ihm
folgten. Nur enthielten sie noch den weiteren Gedanken, der den Zweck der
Demonstration klarstellte und den man kurz durch den Zusatz ausdrücken kann:
„— es sei denn, daß ihr mit uns in neue Verhandlungen tretet."

Von welchen Erwägungen gingen nun diese neuen Verhandlungen aus,
und was war ihr Ziel? So wie nunmehr die Sache stand, hatte Deutschland
kein Interesse mehr an der Unabhängigkeit Marokkos, nachdem dieser Staat
fünf Jahre hindurch einen Beweis über den anderen geliefert hatte, daß ihm
nicht zu helfen war. Wie schon an anderer Stelle angedeutet wurde, war die
sogenannte Freiheit Marokkos im Laufe der Entwicklung nur eine bequeme
Gelegenheit für die Franzosen geworden, die Verantwortung für allerlei Rechts¬
verletzungen von sich abzuwälzen. Die Besorgnis aber, daß Frankreich an den
fundamentalen Rechten Deutschlands noch einmal so vorbeigehen würde, wie es
1904 versucht hatte, war nach dem Vertrage von 1909 nicht mehr begründet —
trotz der immer noch vorhandenen Neigung zu Übergriffen. Deshalb lag es
jetzt unter den veränderten Umständen nur im deutschen Interesse, klare Ver¬
hältnisse zu schaffen und der französischen Marokkopolitik sogar behilflich zu sein,
an ihr Ziel zu gelangen. Aber es geht in den Beziehungen der Völker zu¬
einander ähnlich wie in privaten Rechtsverhältnissen: niemand gibt ein formales
Recht ohne Gegenleistung auf, und das selbst dann nicht, wenn der formale
Verzicht einen realen und sehr erwünschten Nutzen bringt. Wäre Frankreich,
ohne die Algecircisakte zu verletzen, eines Tages an Deutschland heran¬
getreten, um ihm unter Hinweis auf die Veränderung der Lage und sein
eigenes Interesse Verhandlungen vorzuschlagen, so wäre das für uns eine
gewisse Verlegenheit gewesen. Glücklicherweise schlug Frankreich diesen Weg
nicht ein, verleitet durch die Furcht vor den Schreiern im eigenen Lande,
die sich bei jeder Verstä'ndiguug mit Deutschland erheben, verleitet aber auch
durch die von Morel sehr klar nachgewiesenen Fehler der englischen Politik,
die sich französischer gebärdete als die Franzosen. Frankreich durchbrach die
Bestimmungen der Algecirasakte und gab damit Deutschland das Mittel an die
Hand, den geforderten Verzicht zu einem größeren Kompensationsobjekt zu
gestalten. Es galt für unsere Politik jetzt schnell und entschlossen zunächst
einmal die Freiheit auszunutzen, die uns Frankreich durch seinen Rechtsbruch
verschafft hatte, und darum wurde gerade die Maßregel der Entsendung eines
Kriegsschiffes nach dem außerhalb der französischen Machtsphäre gelegenen
Agadir gewählt, weil dieser Schritt die Möglichkeit einer Okkupation offen ließ.
Wirklich beabsichtigt ist eine solche nie gewesen, und unsere Regierung konnte
auch ruhig diese Erklärung abgeben; die Möglichkeit genügte für den Zweck der
Verhandlungen, denn es kam nur darauf an, eine greifbare Konsequenz des
von den Franzosen begangenen Fehlers zu schaffen, um ihnen die Notwendigkeit
einer Gegenleistung für den deutschen Verzicht und für das deutsche Ein-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/517>, abgerufen am 15.01.2025.