Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Line neue Linhcitsstenographie für Deutschland

In den Kollegs saß gewiß mancher neben einem eifrig stenographierenden
Zuhörer und beneidete ihn um seine ausführlichen Kolleghefte. In Wahrheit
wird dieser Nutzen übertrieben und ist oft recht zweifelhaft. Die jungen Leute
lernen erst allmählich das Wichtige vom Nebensächlichen unterscheiden, schreiben
daher zu viel mit und zwar die Mittelmäßigen um so mehr, je weniger sie
vom Inhalte des Professorenvortrags verstehen. Später aber sehen sie die
stenographisch überfüllten Kolleghefte nicht mehr an, aus Scheu vor den Mühen
des Wiederlesens. Sie lernen Bücher kennen, die viel mehr leisten und alles
übersichtlicher bringen als die Kollegienhefte. Gegen die leicht leserliche Druck¬
schrift muß sich doch die stenographische Handschrift verstecken, das fühlen die
meisten und deshalb lassen sie die schönen Hefte auch ruhig in ihrem Versteck.
Auf diese Weise kommen viele, die noch auf der Universität Gebrauch von der
Kurzschrift machten, ganz unmerklich von ihrer weiteren Verwertung zurück.

Die massenhaft gesammelten Mitunterzeichner des Antrags auf Einführung
der Stenographie in Schulen wissen gar nicht, welche nutzlose Last sie der
Jugend aufbürden. Die Abgeordneten sind in dieser Frage, wie schon oben
nachgewiesen, ohne das geringste Sachverständnis. Sie bilden sich ein, weil sie
in den Parlamenten stenographieren sehen, das lasse sich in der Schule so
nebenbei mit erlernen. Die Herren haben keine Vorstellung, daß es sich beim
Stenographieren in den Parlamenten um eine Berufskunst handelt, die nicht
jedermann zugänglich ist.




Das Unsinnige des Gedankens einer stenographischen Verkehrsschrift begreift
jeder Laie, wenn er sich nur eine halbe Stunde von einem Bekannten die
Buchstabenformen irgendeines Systems erklären läßt. Da wird er bald merken,
wie eigenartig der Haarstrich, der Grundstrich, der Punkt, die gerade und die
gebogene Linie ausgenutzt werden, um einen möglichst hohen Grad der Kürze
zu erzielen, wie ähnliche Zeichen ster verschiedene Bedeutungen groß, klein, dick,
dünn, eng und weit voneinander geschrieben werden. Nun vergleiche man
unsere einfachen, einzeln aneinander gereihten Buchstaben mit den schon erwähnten,
durch alle möglichen feinen Unterscheidungen entstehenden stenographischen Zeichen
und Wortbilder und man wird alsbald herausfinden, daß stenographische Schrift
für den allgemeinen Verkehr viel zu unzuverlässig und viel zu schwer leserlich ist.

Machen wir uns einmal kurz einige Bedingungen der Leserlichkeit der
Schrift klar. Bei Druckschrift wird die Leserlichkeit erschwert durch die Gleich¬
förmigkeit der Buchstabe". Die Stadt Berlin hatte vor Jahren auf ihren
Straßennamenschildern nur große Buchstaben verwandt. Ein Wort wie
KUK^0K87IM - SI^LSL war sehr schlecht leserlich. Als dieser Fehler
erkannt wurde, schrieb man "Kurlürsten-Ztrasse" und sofort ergab sich gute
Leserlichkeit. Die Abwechselung zwischen kurzen und langen Zeichen, das heißt
die Vermehrung der Erkennungsmerkmale verdeutlichte die Schrift.


Line neue Linhcitsstenographie für Deutschland

In den Kollegs saß gewiß mancher neben einem eifrig stenographierenden
Zuhörer und beneidete ihn um seine ausführlichen Kolleghefte. In Wahrheit
wird dieser Nutzen übertrieben und ist oft recht zweifelhaft. Die jungen Leute
lernen erst allmählich das Wichtige vom Nebensächlichen unterscheiden, schreiben
daher zu viel mit und zwar die Mittelmäßigen um so mehr, je weniger sie
vom Inhalte des Professorenvortrags verstehen. Später aber sehen sie die
stenographisch überfüllten Kolleghefte nicht mehr an, aus Scheu vor den Mühen
des Wiederlesens. Sie lernen Bücher kennen, die viel mehr leisten und alles
übersichtlicher bringen als die Kollegienhefte. Gegen die leicht leserliche Druck¬
schrift muß sich doch die stenographische Handschrift verstecken, das fühlen die
meisten und deshalb lassen sie die schönen Hefte auch ruhig in ihrem Versteck.
Auf diese Weise kommen viele, die noch auf der Universität Gebrauch von der
Kurzschrift machten, ganz unmerklich von ihrer weiteren Verwertung zurück.

Die massenhaft gesammelten Mitunterzeichner des Antrags auf Einführung
der Stenographie in Schulen wissen gar nicht, welche nutzlose Last sie der
Jugend aufbürden. Die Abgeordneten sind in dieser Frage, wie schon oben
nachgewiesen, ohne das geringste Sachverständnis. Sie bilden sich ein, weil sie
in den Parlamenten stenographieren sehen, das lasse sich in der Schule so
nebenbei mit erlernen. Die Herren haben keine Vorstellung, daß es sich beim
Stenographieren in den Parlamenten um eine Berufskunst handelt, die nicht
jedermann zugänglich ist.




Das Unsinnige des Gedankens einer stenographischen Verkehrsschrift begreift
jeder Laie, wenn er sich nur eine halbe Stunde von einem Bekannten die
Buchstabenformen irgendeines Systems erklären läßt. Da wird er bald merken,
wie eigenartig der Haarstrich, der Grundstrich, der Punkt, die gerade und die
gebogene Linie ausgenutzt werden, um einen möglichst hohen Grad der Kürze
zu erzielen, wie ähnliche Zeichen ster verschiedene Bedeutungen groß, klein, dick,
dünn, eng und weit voneinander geschrieben werden. Nun vergleiche man
unsere einfachen, einzeln aneinander gereihten Buchstaben mit den schon erwähnten,
durch alle möglichen feinen Unterscheidungen entstehenden stenographischen Zeichen
und Wortbilder und man wird alsbald herausfinden, daß stenographische Schrift
für den allgemeinen Verkehr viel zu unzuverlässig und viel zu schwer leserlich ist.

Machen wir uns einmal kurz einige Bedingungen der Leserlichkeit der
Schrift klar. Bei Druckschrift wird die Leserlichkeit erschwert durch die Gleich¬
förmigkeit der Buchstabe». Die Stadt Berlin hatte vor Jahren auf ihren
Straßennamenschildern nur große Buchstaben verwandt. Ein Wort wie
KUK^0K87IM - SI^LSL war sehr schlecht leserlich. Als dieser Fehler
erkannt wurde, schrieb man „Kurlürsten-Ztrasse" und sofort ergab sich gute
Leserlichkeit. Die Abwechselung zwischen kurzen und langen Zeichen, das heißt
die Vermehrung der Erkennungsmerkmale verdeutlichte die Schrift.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0049" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322450"/>
          <fw type="header" place="top"> Line neue Linhcitsstenographie für Deutschland</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_198"> In den Kollegs saß gewiß mancher neben einem eifrig stenographierenden<lb/>
Zuhörer und beneidete ihn um seine ausführlichen Kolleghefte. In Wahrheit<lb/>
wird dieser Nutzen übertrieben und ist oft recht zweifelhaft. Die jungen Leute<lb/>
lernen erst allmählich das Wichtige vom Nebensächlichen unterscheiden, schreiben<lb/>
daher zu viel mit und zwar die Mittelmäßigen um so mehr, je weniger sie<lb/>
vom Inhalte des Professorenvortrags verstehen. Später aber sehen sie die<lb/>
stenographisch überfüllten Kolleghefte nicht mehr an, aus Scheu vor den Mühen<lb/>
des Wiederlesens. Sie lernen Bücher kennen, die viel mehr leisten und alles<lb/>
übersichtlicher bringen als die Kollegienhefte. Gegen die leicht leserliche Druck¬<lb/>
schrift muß sich doch die stenographische Handschrift verstecken, das fühlen die<lb/>
meisten und deshalb lassen sie die schönen Hefte auch ruhig in ihrem Versteck.<lb/>
Auf diese Weise kommen viele, die noch auf der Universität Gebrauch von der<lb/>
Kurzschrift machten, ganz unmerklich von ihrer weiteren Verwertung zurück.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_199"> Die massenhaft gesammelten Mitunterzeichner des Antrags auf Einführung<lb/>
der Stenographie in Schulen wissen gar nicht, welche nutzlose Last sie der<lb/>
Jugend aufbürden. Die Abgeordneten sind in dieser Frage, wie schon oben<lb/>
nachgewiesen, ohne das geringste Sachverständnis. Sie bilden sich ein, weil sie<lb/>
in den Parlamenten stenographieren sehen, das lasse sich in der Schule so<lb/>
nebenbei mit erlernen. Die Herren haben keine Vorstellung, daß es sich beim<lb/>
Stenographieren in den Parlamenten um eine Berufskunst handelt, die nicht<lb/>
jedermann zugänglich ist.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p xml:id="ID_200"> Das Unsinnige des Gedankens einer stenographischen Verkehrsschrift begreift<lb/>
jeder Laie, wenn er sich nur eine halbe Stunde von einem Bekannten die<lb/>
Buchstabenformen irgendeines Systems erklären läßt. Da wird er bald merken,<lb/>
wie eigenartig der Haarstrich, der Grundstrich, der Punkt, die gerade und die<lb/>
gebogene Linie ausgenutzt werden, um einen möglichst hohen Grad der Kürze<lb/>
zu erzielen, wie ähnliche Zeichen ster verschiedene Bedeutungen groß, klein, dick,<lb/>
dünn, eng und weit voneinander geschrieben werden. Nun vergleiche man<lb/>
unsere einfachen, einzeln aneinander gereihten Buchstaben mit den schon erwähnten,<lb/>
durch alle möglichen feinen Unterscheidungen entstehenden stenographischen Zeichen<lb/>
und Wortbilder und man wird alsbald herausfinden, daß stenographische Schrift<lb/>
für den allgemeinen Verkehr viel zu unzuverlässig und viel zu schwer leserlich ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_201"> Machen wir uns einmal kurz einige Bedingungen der Leserlichkeit der<lb/>
Schrift klar. Bei Druckschrift wird die Leserlichkeit erschwert durch die Gleich¬<lb/>
förmigkeit der Buchstabe». Die Stadt Berlin hatte vor Jahren auf ihren<lb/>
Straßennamenschildern nur große Buchstaben verwandt. Ein Wort wie<lb/>
KUK^0K87IM - SI^LSL war sehr schlecht leserlich. Als dieser Fehler<lb/>
erkannt wurde, schrieb man &#x201E;Kurlürsten-Ztrasse" und sofort ergab sich gute<lb/>
Leserlichkeit. Die Abwechselung zwischen kurzen und langen Zeichen, das heißt<lb/>
die Vermehrung der Erkennungsmerkmale verdeutlichte die Schrift.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0049] Line neue Linhcitsstenographie für Deutschland In den Kollegs saß gewiß mancher neben einem eifrig stenographierenden Zuhörer und beneidete ihn um seine ausführlichen Kolleghefte. In Wahrheit wird dieser Nutzen übertrieben und ist oft recht zweifelhaft. Die jungen Leute lernen erst allmählich das Wichtige vom Nebensächlichen unterscheiden, schreiben daher zu viel mit und zwar die Mittelmäßigen um so mehr, je weniger sie vom Inhalte des Professorenvortrags verstehen. Später aber sehen sie die stenographisch überfüllten Kolleghefte nicht mehr an, aus Scheu vor den Mühen des Wiederlesens. Sie lernen Bücher kennen, die viel mehr leisten und alles übersichtlicher bringen als die Kollegienhefte. Gegen die leicht leserliche Druck¬ schrift muß sich doch die stenographische Handschrift verstecken, das fühlen die meisten und deshalb lassen sie die schönen Hefte auch ruhig in ihrem Versteck. Auf diese Weise kommen viele, die noch auf der Universität Gebrauch von der Kurzschrift machten, ganz unmerklich von ihrer weiteren Verwertung zurück. Die massenhaft gesammelten Mitunterzeichner des Antrags auf Einführung der Stenographie in Schulen wissen gar nicht, welche nutzlose Last sie der Jugend aufbürden. Die Abgeordneten sind in dieser Frage, wie schon oben nachgewiesen, ohne das geringste Sachverständnis. Sie bilden sich ein, weil sie in den Parlamenten stenographieren sehen, das lasse sich in der Schule so nebenbei mit erlernen. Die Herren haben keine Vorstellung, daß es sich beim Stenographieren in den Parlamenten um eine Berufskunst handelt, die nicht jedermann zugänglich ist. Das Unsinnige des Gedankens einer stenographischen Verkehrsschrift begreift jeder Laie, wenn er sich nur eine halbe Stunde von einem Bekannten die Buchstabenformen irgendeines Systems erklären läßt. Da wird er bald merken, wie eigenartig der Haarstrich, der Grundstrich, der Punkt, die gerade und die gebogene Linie ausgenutzt werden, um einen möglichst hohen Grad der Kürze zu erzielen, wie ähnliche Zeichen ster verschiedene Bedeutungen groß, klein, dick, dünn, eng und weit voneinander geschrieben werden. Nun vergleiche man unsere einfachen, einzeln aneinander gereihten Buchstaben mit den schon erwähnten, durch alle möglichen feinen Unterscheidungen entstehenden stenographischen Zeichen und Wortbilder und man wird alsbald herausfinden, daß stenographische Schrift für den allgemeinen Verkehr viel zu unzuverlässig und viel zu schwer leserlich ist. Machen wir uns einmal kurz einige Bedingungen der Leserlichkeit der Schrift klar. Bei Druckschrift wird die Leserlichkeit erschwert durch die Gleich¬ förmigkeit der Buchstabe». Die Stadt Berlin hatte vor Jahren auf ihren Straßennamenschildern nur große Buchstaben verwandt. Ein Wort wie KUK^0K87IM - SI^LSL war sehr schlecht leserlich. Als dieser Fehler erkannt wurde, schrieb man „Kurlürsten-Ztrasse" und sofort ergab sich gute Leserlichkeit. Die Abwechselung zwischen kurzen und langen Zeichen, das heißt die Vermehrung der Erkennungsmerkmale verdeutlichte die Schrift.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/49
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/49>, abgerufen am 15.01.2025.