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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Grimmelshcmscn und der Simplizins Simplizissimus

miteifernd zu, ohne in die Übertreibungen Zehens zu verfallen, und er verfocht
ihre Anschauungen in gesunder und natürlicher Weise in seiner Schrift "Der
teutsche Michel". Der zeitgenössischen Literaturströmung machte er seine Reverenz
mit einigen heroischen Romanen, welche freilich mit der gesamten Kunstgattung
das Schicksal teilten, vergessen zu werden, und er focht (im "Vogelnest") mit
seinem Nebenbuhler Zehen einen kritischen Kampf aus, bei dem er seine Einsicht
in psychologische und romantechnische Fragen offenbart.

Die Geschichte seiner Zeit studierte er in den Bänden des "^Keatrum
Luropüum" und im "Erneuerten teutschen Florus" des Eberhard Wassenberg
von Emmerich. Kunde von fernen Ländern, von allerhand Merkwürdigkeiten,
von mythologischen, astrologischen und sonstigen Materien schöpfte er aus den
Sammelwerken, welche zu seiner Zeit so beliebt waren und die allerlei Wissens¬
kram bunt durcheinander in wechselnder Mannigfaltigkeit boten. Ein derartiges
Opus war des Th. Garzonus "Allg. Schawplatz" und des Spaniers Petrus
Mexia "Historischer Beschicht-, Natur- und Wunderwald", von dessen deutscher
Übersetzung die Karlsruher Hof- und Landesbibliothek ein Exemplar von 1668
besitzt, das Grimmelshcmsens Namen auf dem Titelblatt trägt. Aus solchen
derartigen Blütenlesen ließen sich Zitate, Anspielungen. Exempel und wissen¬
schaftliche Verbrämungen holen, die gelegentlich den eigenen Ausführungen ein
besonderes Gewicht verleihen sollten.

Daneben war Grimmelshausen mit deutschen und fremden Literaturerzeug¬
nissen aufs beste vertraut. Er kannte unsere Volksbücher, dazu die Schwänke
Bebels und Paulis, die Schriften des Fischart, Hans Sachs, Logan, Schupp
und Moscherosch, des Boccaccio und wahrscheinlich auch die des Bandello;
ferner die Heiligenlegende, die Werke Luthers (welche er nach der Jenenser
Ausgabe zitiert), den Theophmftus Paracelsus. die Wunderchronik des Prätorius,
die Amadisromane, die "Arcadia" des PH. Sidney, welche Opitz 1629 übersetzt
hatte, die "Assenat" Philipps von Zehen, endlich die Erbauungsschriften des
Spaniers Guevara und die Schelmenromane, welche einst durch die Verbindung
Spaniens mit Deutschland unter Kaiser Karl dem Fünften leicht und schnell
Eingang bei uns gefunden hatten.

Seit der Entdeckung Amerikas hatte der Abenteurerdrang die weitesten
Kreise ergriffen; er schuf nicht nur den leichtlebigen Glücksritter, sondern erzeugte
auch eine geneigte Stimmung für literarische Produkte, welche derartige Schick¬
sale und Gestalten zum Vorwurf wählten. Und begreiflicherweise nahm diese
Literaturbewegung ihren Ausgang von Spanien, wo man zuerst von dem gol¬
denen Strom aus der Neuen Welt überflutet und von jener fiebrigen Erregung
gepackt wurde, welche die ganze leichtfertige, heimatlose, glückshungrige Schar
der Picaros und Landstörzer erzeugte.

Infolge einer ähnlich gearteten, aber in ihrem Ziel unentwegt auf künst¬
lerische Betätigung gerichteten Unruhe war der junge Callot im Jahre 1604
seinen Eltern in Nancy entlaufen und mit wandernden Zigeunern zum erstenmal


Grimmelshcmscn und der Simplizins Simplizissimus

miteifernd zu, ohne in die Übertreibungen Zehens zu verfallen, und er verfocht
ihre Anschauungen in gesunder und natürlicher Weise in seiner Schrift „Der
teutsche Michel". Der zeitgenössischen Literaturströmung machte er seine Reverenz
mit einigen heroischen Romanen, welche freilich mit der gesamten Kunstgattung
das Schicksal teilten, vergessen zu werden, und er focht (im „Vogelnest") mit
seinem Nebenbuhler Zehen einen kritischen Kampf aus, bei dem er seine Einsicht
in psychologische und romantechnische Fragen offenbart.

Die Geschichte seiner Zeit studierte er in den Bänden des „^Keatrum
Luropüum" und im „Erneuerten teutschen Florus" des Eberhard Wassenberg
von Emmerich. Kunde von fernen Ländern, von allerhand Merkwürdigkeiten,
von mythologischen, astrologischen und sonstigen Materien schöpfte er aus den
Sammelwerken, welche zu seiner Zeit so beliebt waren und die allerlei Wissens¬
kram bunt durcheinander in wechselnder Mannigfaltigkeit boten. Ein derartiges
Opus war des Th. Garzonus „Allg. Schawplatz" und des Spaniers Petrus
Mexia „Historischer Beschicht-, Natur- und Wunderwald", von dessen deutscher
Übersetzung die Karlsruher Hof- und Landesbibliothek ein Exemplar von 1668
besitzt, das Grimmelshcmsens Namen auf dem Titelblatt trägt. Aus solchen
derartigen Blütenlesen ließen sich Zitate, Anspielungen. Exempel und wissen¬
schaftliche Verbrämungen holen, die gelegentlich den eigenen Ausführungen ein
besonderes Gewicht verleihen sollten.

Daneben war Grimmelshausen mit deutschen und fremden Literaturerzeug¬
nissen aufs beste vertraut. Er kannte unsere Volksbücher, dazu die Schwänke
Bebels und Paulis, die Schriften des Fischart, Hans Sachs, Logan, Schupp
und Moscherosch, des Boccaccio und wahrscheinlich auch die des Bandello;
ferner die Heiligenlegende, die Werke Luthers (welche er nach der Jenenser
Ausgabe zitiert), den Theophmftus Paracelsus. die Wunderchronik des Prätorius,
die Amadisromane, die „Arcadia" des PH. Sidney, welche Opitz 1629 übersetzt
hatte, die „Assenat" Philipps von Zehen, endlich die Erbauungsschriften des
Spaniers Guevara und die Schelmenromane, welche einst durch die Verbindung
Spaniens mit Deutschland unter Kaiser Karl dem Fünften leicht und schnell
Eingang bei uns gefunden hatten.

Seit der Entdeckung Amerikas hatte der Abenteurerdrang die weitesten
Kreise ergriffen; er schuf nicht nur den leichtlebigen Glücksritter, sondern erzeugte
auch eine geneigte Stimmung für literarische Produkte, welche derartige Schick¬
sale und Gestalten zum Vorwurf wählten. Und begreiflicherweise nahm diese
Literaturbewegung ihren Ausgang von Spanien, wo man zuerst von dem gol¬
denen Strom aus der Neuen Welt überflutet und von jener fiebrigen Erregung
gepackt wurde, welche die ganze leichtfertige, heimatlose, glückshungrige Schar
der Picaros und Landstörzer erzeugte.

Infolge einer ähnlich gearteten, aber in ihrem Ziel unentwegt auf künst¬
lerische Betätigung gerichteten Unruhe war der junge Callot im Jahre 1604
seinen Eltern in Nancy entlaufen und mit wandernden Zigeunern zum erstenmal


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[0464] Grimmelshcmscn und der Simplizins Simplizissimus miteifernd zu, ohne in die Übertreibungen Zehens zu verfallen, und er verfocht ihre Anschauungen in gesunder und natürlicher Weise in seiner Schrift „Der teutsche Michel". Der zeitgenössischen Literaturströmung machte er seine Reverenz mit einigen heroischen Romanen, welche freilich mit der gesamten Kunstgattung das Schicksal teilten, vergessen zu werden, und er focht (im „Vogelnest") mit seinem Nebenbuhler Zehen einen kritischen Kampf aus, bei dem er seine Einsicht in psychologische und romantechnische Fragen offenbart. Die Geschichte seiner Zeit studierte er in den Bänden des „^Keatrum Luropüum" und im „Erneuerten teutschen Florus" des Eberhard Wassenberg von Emmerich. Kunde von fernen Ländern, von allerhand Merkwürdigkeiten, von mythologischen, astrologischen und sonstigen Materien schöpfte er aus den Sammelwerken, welche zu seiner Zeit so beliebt waren und die allerlei Wissens¬ kram bunt durcheinander in wechselnder Mannigfaltigkeit boten. Ein derartiges Opus war des Th. Garzonus „Allg. Schawplatz" und des Spaniers Petrus Mexia „Historischer Beschicht-, Natur- und Wunderwald", von dessen deutscher Übersetzung die Karlsruher Hof- und Landesbibliothek ein Exemplar von 1668 besitzt, das Grimmelshcmsens Namen auf dem Titelblatt trägt. Aus solchen derartigen Blütenlesen ließen sich Zitate, Anspielungen. Exempel und wissen¬ schaftliche Verbrämungen holen, die gelegentlich den eigenen Ausführungen ein besonderes Gewicht verleihen sollten. Daneben war Grimmelshausen mit deutschen und fremden Literaturerzeug¬ nissen aufs beste vertraut. Er kannte unsere Volksbücher, dazu die Schwänke Bebels und Paulis, die Schriften des Fischart, Hans Sachs, Logan, Schupp und Moscherosch, des Boccaccio und wahrscheinlich auch die des Bandello; ferner die Heiligenlegende, die Werke Luthers (welche er nach der Jenenser Ausgabe zitiert), den Theophmftus Paracelsus. die Wunderchronik des Prätorius, die Amadisromane, die „Arcadia" des PH. Sidney, welche Opitz 1629 übersetzt hatte, die „Assenat" Philipps von Zehen, endlich die Erbauungsschriften des Spaniers Guevara und die Schelmenromane, welche einst durch die Verbindung Spaniens mit Deutschland unter Kaiser Karl dem Fünften leicht und schnell Eingang bei uns gefunden hatten. Seit der Entdeckung Amerikas hatte der Abenteurerdrang die weitesten Kreise ergriffen; er schuf nicht nur den leichtlebigen Glücksritter, sondern erzeugte auch eine geneigte Stimmung für literarische Produkte, welche derartige Schick¬ sale und Gestalten zum Vorwurf wählten. Und begreiflicherweise nahm diese Literaturbewegung ihren Ausgang von Spanien, wo man zuerst von dem gol¬ denen Strom aus der Neuen Welt überflutet und von jener fiebrigen Erregung gepackt wurde, welche die ganze leichtfertige, heimatlose, glückshungrige Schar der Picaros und Landstörzer erzeugte. Infolge einer ähnlich gearteten, aber in ihrem Ziel unentwegt auf künst¬ lerische Betätigung gerichteten Unruhe war der junge Callot im Jahre 1604 seinen Eltern in Nancy entlaufen und mit wandernden Zigeunern zum erstenmal

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/464>, abgerufen am 15.01.2025.