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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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nehmen der von der Gefechtsleitung aus¬
gehenden Befehle. Der Glanzpunkt der tür¬
kischen Armee sei der gemeine Mann, An
Ausdauer, Leistungsfähigkeit und Genügsam¬
keit habe die Welt diesem prächtigen Material
kaum etwas Gleichwertiges gegenüberzustellen.
Er sei Bataillonen begegnet, die zwei Tage¬
marsche von nicht weniger als je 60 Kilometer
hinter sich gehabt Hütten, ohne dabei irgend-
etwas zu essen zu bekommen, und die trotzdem
pünktlich in die vorgeschriebenen Stellungen
eingerückt seien. Auf diese Genügsamkeit des
türkischen Soldaten scheine man aber allzu¬
viel zu rechnen, denn der wundeste Punkt
des türkischen Heeres sei die Intendanz, der
Nachschub von Proviant und auch von Mu¬
nition. In diesem für den Erfolg im Ernst¬
fall überaus wichtigen Punkte sei nahezu noch
alles zu leisten.

Das Hoch auf die türkische Armee, der
von der Goltz ein rasches und gesundes Fort¬
schreiten auf der betretenen Bahn der Re¬
organisation wünschte, fand ebenso lauten
Beifall wie der Toast Mahmud Schefkets auf
den Generalfeldmarschall. Aber leider ist
seit jener Zeit nicht allzuviel geschehen, um
die Mängel, auf die von der Goltz damals
sogar in fröhlicher Tafelrunde hinzuweisen für
nötig hielt, zu beseitigen. Von der Goltz ist
in den seither verflossenen zwei Jahren nicht
wieder nach der Türkei zurückgekehrt. Man
hat ihn nicht mehr aufgefordert, sei es, weil
man glaubte, ihn nicht mehr nötig zu haben,
sei es, weil man seine Kritik unliebsam emp¬
fand. Er hat, soviel mir bekannt ist, sein
Urteil über die großen Manöver des Jahres
1910 nicht nur in jener Tischrede nieder¬
gelegt, sondern in einem ausführlichen Bericht
an den türkischen Generalissimus, der Wohl
irgendwo in den Archiven des Serasiierats
oder des Generalstabs schlummern mag.

Die letzten Ereignisse haben von der Goltz
Recht gegeben. Die mangelnde Selbständig¬
keit und Initiative des mittleren Offiziers und
das Fehlen jeder ausreichenden Intendantur
haben in erster Linie den Zusammenbruch der
türkischen Armee verschuldet.

Erschwerend kamen hinzu gewisse Schäden
in: türkischen Offizierkorps, die sich gerade im
Laufe der letzten zwei Jahre zu einem wahren
Verhängnis entwickelt haben.

[Spaltenumbruch]

Früher bestand ein großer Teil des tür¬
kischen Offizierkorps aus den sogenannten
"Alailis" (von Alai-Regiment), aus Offi¬
zieren, die aus dem gemeinen Stand hervor¬
gegangen waren. Der andere Teil des Offi¬
zierkorps war gebildet aus den "Mekteb-
lis", das ist den aus der Kriegsschule
hervorgegangenen Offizieren. Die mit dem
Regiment aufgewachsenen Alailis bildeten ge¬
wissermaßen den Kitt der türkischen Armee.
Sie verkörperten die Verbindung zwischen der
Truppe und den höheren Kommandoinstanzen.
Ein Gegensatz zwischen den Alailis und
Mektcblis war in früheren Zeiten überhaupt
nicht oder doch nur in beschränktem Maße
'vorhanden. Ein solcher Gegensatz hat sich
jedoch im Laufe der letzten Jahrzehnte mit
dem Eindringen europäischer Einflüsse, die sich
bei den MektebliS sehr stark, bei den Alailis
überhaupt nicht geltend machten, heraus¬
gebildet. Die Revolution des JahreS 1803,
die zur Proklamation der Verfassung führte,
wird häufig als die Revolution der Armee
gegen den Despotismus Abdul Hamids be¬
zeichnet. In Wirklichkeit war diese Bewegung
nur die Revolution der zum großen Teil für
das jungtürkische Komitee gewonnenen Mek-
teblis, deren Herrschaft über die Armee für
den Augenblick ausreichte. Neun Monate
später, im April 1909, kam es in Kon¬
stantinopel zu der bekannten Gegenrevolution:
der bis auf die Knochen mohammedanisch ge¬
bliebene gemeine Mann, geführt von dem
demselben Kulturkreis angehörenden Alaili,
lehnte sich auf gegen den europäisch und frei¬
geistig angehauchten Mektebli, und machte den
Versuch, den Sultan von der Herrschaft des
jungtürkischen Komitees, das in den Mekteblis
seine Hauptstütze hatte, zu befreien. Eine
große Anzahl von Mekteblis wurde damals
in Konstantinopel von den eigenen Leuten
ermordet, die anderen flohen, und zehn Tage
lang stand Konstantinopel unter der Herrschaft
der nur von den Alailis geführten Truppen.
Aber die Komiteeoffiziere holten zum Gegen¬
schlag aus. Unter der Führung Mahmud
Schefkets rückten die mazedonischen Truppen,
in denen die Mekteblis das Übergewicht be¬
saßen, in einer Stärke von etwa dreißigtausend
Mann mit bewunderungswürdiger Schnellig¬
keit nach Konstantinopel heran, besetzten in

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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nehmen der von der Gefechtsleitung aus¬
gehenden Befehle. Der Glanzpunkt der tür¬
kischen Armee sei der gemeine Mann, An
Ausdauer, Leistungsfähigkeit und Genügsam¬
keit habe die Welt diesem prächtigen Material
kaum etwas Gleichwertiges gegenüberzustellen.
Er sei Bataillonen begegnet, die zwei Tage¬
marsche von nicht weniger als je 60 Kilometer
hinter sich gehabt Hütten, ohne dabei irgend-
etwas zu essen zu bekommen, und die trotzdem
pünktlich in die vorgeschriebenen Stellungen
eingerückt seien. Auf diese Genügsamkeit des
türkischen Soldaten scheine man aber allzu¬
viel zu rechnen, denn der wundeste Punkt
des türkischen Heeres sei die Intendanz, der
Nachschub von Proviant und auch von Mu¬
nition. In diesem für den Erfolg im Ernst¬
fall überaus wichtigen Punkte sei nahezu noch
alles zu leisten.

Das Hoch auf die türkische Armee, der
von der Goltz ein rasches und gesundes Fort¬
schreiten auf der betretenen Bahn der Re¬
organisation wünschte, fand ebenso lauten
Beifall wie der Toast Mahmud Schefkets auf
den Generalfeldmarschall. Aber leider ist
seit jener Zeit nicht allzuviel geschehen, um
die Mängel, auf die von der Goltz damals
sogar in fröhlicher Tafelrunde hinzuweisen für
nötig hielt, zu beseitigen. Von der Goltz ist
in den seither verflossenen zwei Jahren nicht
wieder nach der Türkei zurückgekehrt. Man
hat ihn nicht mehr aufgefordert, sei es, weil
man glaubte, ihn nicht mehr nötig zu haben,
sei es, weil man seine Kritik unliebsam emp¬
fand. Er hat, soviel mir bekannt ist, sein
Urteil über die großen Manöver des Jahres
1910 nicht nur in jener Tischrede nieder¬
gelegt, sondern in einem ausführlichen Bericht
an den türkischen Generalissimus, der Wohl
irgendwo in den Archiven des Serasiierats
oder des Generalstabs schlummern mag.

Die letzten Ereignisse haben von der Goltz
Recht gegeben. Die mangelnde Selbständig¬
keit und Initiative des mittleren Offiziers und
das Fehlen jeder ausreichenden Intendantur
haben in erster Linie den Zusammenbruch der
türkischen Armee verschuldet.

Erschwerend kamen hinzu gewisse Schäden
in: türkischen Offizierkorps, die sich gerade im
Laufe der letzten zwei Jahre zu einem wahren
Verhängnis entwickelt haben.

[Spaltenumbruch]

Früher bestand ein großer Teil des tür¬
kischen Offizierkorps aus den sogenannten
„Alailis" (von Alai-Regiment), aus Offi¬
zieren, die aus dem gemeinen Stand hervor¬
gegangen waren. Der andere Teil des Offi¬
zierkorps war gebildet aus den „Mekteb-
lis", das ist den aus der Kriegsschule
hervorgegangenen Offizieren. Die mit dem
Regiment aufgewachsenen Alailis bildeten ge¬
wissermaßen den Kitt der türkischen Armee.
Sie verkörperten die Verbindung zwischen der
Truppe und den höheren Kommandoinstanzen.
Ein Gegensatz zwischen den Alailis und
Mektcblis war in früheren Zeiten überhaupt
nicht oder doch nur in beschränktem Maße
'vorhanden. Ein solcher Gegensatz hat sich
jedoch im Laufe der letzten Jahrzehnte mit
dem Eindringen europäischer Einflüsse, die sich
bei den MektebliS sehr stark, bei den Alailis
überhaupt nicht geltend machten, heraus¬
gebildet. Die Revolution des JahreS 1803,
die zur Proklamation der Verfassung führte,
wird häufig als die Revolution der Armee
gegen den Despotismus Abdul Hamids be¬
zeichnet. In Wirklichkeit war diese Bewegung
nur die Revolution der zum großen Teil für
das jungtürkische Komitee gewonnenen Mek-
teblis, deren Herrschaft über die Armee für
den Augenblick ausreichte. Neun Monate
später, im April 1909, kam es in Kon¬
stantinopel zu der bekannten Gegenrevolution:
der bis auf die Knochen mohammedanisch ge¬
bliebene gemeine Mann, geführt von dem
demselben Kulturkreis angehörenden Alaili,
lehnte sich auf gegen den europäisch und frei¬
geistig angehauchten Mektebli, und machte den
Versuch, den Sultan von der Herrschaft des
jungtürkischen Komitees, das in den Mekteblis
seine Hauptstütze hatte, zu befreien. Eine
große Anzahl von Mekteblis wurde damals
in Konstantinopel von den eigenen Leuten
ermordet, die anderen flohen, und zehn Tage
lang stand Konstantinopel unter der Herrschaft
der nur von den Alailis geführten Truppen.
Aber die Komiteeoffiziere holten zum Gegen¬
schlag aus. Unter der Führung Mahmud
Schefkets rückten die mazedonischen Truppen,
in denen die Mekteblis das Übergewicht be¬
saßen, in einer Stärke von etwa dreißigtausend
Mann mit bewunderungswürdiger Schnellig¬
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/445>, abgerufen am 15.01.2025.