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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

die wie Kiesel zahlreich im Flußbett des
Dialektes liegen, zum Strahlen bringen konnte,
War Karl Spitteler, der Schöpfer des
"Olympischen Frühlings", des einzigen großen,
modernen Epos, das unsere Literatur seit
"Hermann und Dorothea" aufzuweisen chat.
Dies hier, am Eingang der Betrachtungen
über schweizerische Literatur festzustellen, sei
mir als eine Huldigung an SpittelerS Adresse
erlaubt, um so mehr, da die besten der Mo¬
derne in der Schweiz eben in der sprachlichen
Handhabung seine Schuldner sind und da ich
bei den Neuerscheinungen zufällig keine Gelegen¬
heit habe SpittelerS zu gedenken. Ihn unter¬
scheidet von Keller und Meyer, daß er nicht,
wie jene, ein deutscher Klassiker geworden,
obwohl er ein Schweizer ist, sondern zum Teil
weil er das ist. Spitteler schrieb zu allererst
aus dem Geiste der alemannischen Sprache jenes
berg- und heuduftige Deutsch, das aus der land¬
schaftlich bedingten Mundart hervorgehend,
kraft seiner zwingenden Bildlichkeit jedem
Deutschen sofort verständlich, wie ein frisches
Blut einen alternden Körper belebt hat.

Die Schweizer sind heute Mode geworden,
dessen kann uns jeder Verlagskatalog über¬
zeugen, und man hat allen Grund, sich dieser
Mode herzlich zu freuen, denn sie bedeutet eine
unversiegbare Quelle reinsten, klarsten Deutsch¬
tums, eine gesunde, vornehme Tradition be¬
deutet sie, deren wir in unserer Zeit all¬
gemeiner Ratlosigkeit wie der Blinde des
Stabs bedürfen. Allein mit der Freude ist es
nicht getan: eben weil die Schweizer Mode
sind -- wir wollen den etwaigen verwerf¬
lichen Beigeschmack des Wortes Mode un¬
betont lassen -- ist es geboten, den Strom,
der von den Alpen her befruchtend sich über
die deutschen Lande ergießt, beizeiten auf seinen
Gehalt zu prüfen. Er ist kräftig und reich
genug, so daß bei noch so dichter Schleuse nur
Veiwässer und Geröll aufgehalten werden,
während alle Fluten, die nichts UnaufgelösteS
mit sich führen, ungehindert ihren Weg finden
sollen. Dies ist wenigstens das Ziel, das
wir uns gesteckt, indem wir uns vorgenommen,
unter dem obigen Titel die moderne schwei¬
zerische Literatur von Zeit zu Zeit einer ein¬
heitlichen Betrachtung zu unterziehen, wobei
der Tatsache, daß die innere Entwicklung der
Schweiz über die sprachliche Dreiteilung hinaus

[Spaltenumbruch]

einem einheitlichen, starken Nationalsinn ent¬
gegenstrebt, dadurch Rechnung getragen werden
soll, daß wir den hervorragendsten Leistungen
der romanischen Schweiz unsere Aufmerk¬
samkeit nicht versagen.


Alfred Huggenberger s), d es " Bauern¬
dichters", Ruhm ist laut durch die Zeit¬
schriften und Zeitungen gegangen. Wie schön,
daß die Fährte ausnahmsweise richtig, daß
der Lärm nicht ein blinder gewesen. In ihm
ist der deutschen Dichtung wahrhaftig ein
Großer erstanden und eben darum ist es fast
komisch, daß die Kritik der Nebensächlichkeit
seines Bauerntums eine so übertriebene Wich¬
tigkeit beimißt. Der Bauer wurde mit all
der Rührung, die Naivität, Natureinfalt, Frei¬
heit von jeder literarischen Erbbelastung dem
Städter einflößt, in den Vordergrund gestellt.
Dem kann nicht zeitig genug widersprochen
werden: Huggenberger ist ein großer Dichter,
der des Anziehungsmittels eines Kuriosums
einfach nicht bedarf. Dann aber ist diese
ganze Rührung auch falsch und beruht auf
der Unkenntnis des Landes und der Sitten,
wie ja tatsächlich die vielbereiste Schweiz zu
den am wenigsten bekannten Ländern in
Europa gehört. Ich meine natürlich die
schweizerische Schweiz, nicht die Hotelschweiz.
Nun ist Huggenberger Wohl ein waschechter
Bauer, aber weder naiv, noch ohne literarische
Erbschaft, sondern im Gegenteil von äußerst
verfeinerter, komplizierter Gemütsart und
durchaus belesen. DaS ist weiter gar nicht
verwunderlich. Wer die hohe Stufe deutsch¬
schweizerischer Volksbildung kennt, wem eS
bekannt, daß es hier durchaus nicht zu den
Seltenheiten gehört, daß junge Leute vom
Lande nach Absolvierung des halben oder
auch des ganzen Gymnasiums auf den
väterlichen Hof zurückkehren und Weiterbauern,
einfach aus freier Berufswahl so gut wie aus
angestammter Schollenliebe, den wird es
wenig überraschen, daß der Bauer an den
Kulturgütern der Nation und der Menschheit
nicht weniger teilnimmt als der Kaufmann
oder der Arzt auf dem Lande, eher mehr.

[Ende Spaltensatz]
*) Huggenberger, Alfred: "Hinterin Pflug,
Verse eines Bauern." Dritte, durchgesehene
Auflage. Huber u. Co., Frauenfeld. 1,80 M.
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

die wie Kiesel zahlreich im Flußbett des
Dialektes liegen, zum Strahlen bringen konnte,
War Karl Spitteler, der Schöpfer des
„Olympischen Frühlings", des einzigen großen,
modernen Epos, das unsere Literatur seit
„Hermann und Dorothea" aufzuweisen chat.
Dies hier, am Eingang der Betrachtungen
über schweizerische Literatur festzustellen, sei
mir als eine Huldigung an SpittelerS Adresse
erlaubt, um so mehr, da die besten der Mo¬
derne in der Schweiz eben in der sprachlichen
Handhabung seine Schuldner sind und da ich
bei den Neuerscheinungen zufällig keine Gelegen¬
heit habe SpittelerS zu gedenken. Ihn unter¬
scheidet von Keller und Meyer, daß er nicht,
wie jene, ein deutscher Klassiker geworden,
obwohl er ein Schweizer ist, sondern zum Teil
weil er das ist. Spitteler schrieb zu allererst
aus dem Geiste der alemannischen Sprache jenes
berg- und heuduftige Deutsch, das aus der land¬
schaftlich bedingten Mundart hervorgehend,
kraft seiner zwingenden Bildlichkeit jedem
Deutschen sofort verständlich, wie ein frisches
Blut einen alternden Körper belebt hat.

Die Schweizer sind heute Mode geworden,
dessen kann uns jeder Verlagskatalog über¬
zeugen, und man hat allen Grund, sich dieser
Mode herzlich zu freuen, denn sie bedeutet eine
unversiegbare Quelle reinsten, klarsten Deutsch¬
tums, eine gesunde, vornehme Tradition be¬
deutet sie, deren wir in unserer Zeit all¬
gemeiner Ratlosigkeit wie der Blinde des
Stabs bedürfen. Allein mit der Freude ist es
nicht getan: eben weil die Schweizer Mode
sind — wir wollen den etwaigen verwerf¬
lichen Beigeschmack des Wortes Mode un¬
betont lassen — ist es geboten, den Strom,
der von den Alpen her befruchtend sich über
die deutschen Lande ergießt, beizeiten auf seinen
Gehalt zu prüfen. Er ist kräftig und reich
genug, so daß bei noch so dichter Schleuse nur
Veiwässer und Geröll aufgehalten werden,
während alle Fluten, die nichts UnaufgelösteS
mit sich führen, ungehindert ihren Weg finden
sollen. Dies ist wenigstens das Ziel, das
wir uns gesteckt, indem wir uns vorgenommen,
unter dem obigen Titel die moderne schwei¬
zerische Literatur von Zeit zu Zeit einer ein¬
heitlichen Betrachtung zu unterziehen, wobei
der Tatsache, daß die innere Entwicklung der
Schweiz über die sprachliche Dreiteilung hinaus

[Spaltenumbruch]

einem einheitlichen, starken Nationalsinn ent¬
gegenstrebt, dadurch Rechnung getragen werden
soll, daß wir den hervorragendsten Leistungen
der romanischen Schweiz unsere Aufmerk¬
samkeit nicht versagen.


Alfred Huggenberger s), d es „ Bauern¬
dichters", Ruhm ist laut durch die Zeit¬
schriften und Zeitungen gegangen. Wie schön,
daß die Fährte ausnahmsweise richtig, daß
der Lärm nicht ein blinder gewesen. In ihm
ist der deutschen Dichtung wahrhaftig ein
Großer erstanden und eben darum ist es fast
komisch, daß die Kritik der Nebensächlichkeit
seines Bauerntums eine so übertriebene Wich¬
tigkeit beimißt. Der Bauer wurde mit all
der Rührung, die Naivität, Natureinfalt, Frei¬
heit von jeder literarischen Erbbelastung dem
Städter einflößt, in den Vordergrund gestellt.
Dem kann nicht zeitig genug widersprochen
werden: Huggenberger ist ein großer Dichter,
der des Anziehungsmittels eines Kuriosums
einfach nicht bedarf. Dann aber ist diese
ganze Rührung auch falsch und beruht auf
der Unkenntnis des Landes und der Sitten,
wie ja tatsächlich die vielbereiste Schweiz zu
den am wenigsten bekannten Ländern in
Europa gehört. Ich meine natürlich die
schweizerische Schweiz, nicht die Hotelschweiz.
Nun ist Huggenberger Wohl ein waschechter
Bauer, aber weder naiv, noch ohne literarische
Erbschaft, sondern im Gegenteil von äußerst
verfeinerter, komplizierter Gemütsart und
durchaus belesen. DaS ist weiter gar nicht
verwunderlich. Wer die hohe Stufe deutsch¬
schweizerischer Volksbildung kennt, wem eS
bekannt, daß es hier durchaus nicht zu den
Seltenheiten gehört, daß junge Leute vom
Lande nach Absolvierung des halben oder
auch des ganzen Gymnasiums auf den
väterlichen Hof zurückkehren und Weiterbauern,
einfach aus freier Berufswahl so gut wie aus
angestammter Schollenliebe, den wird es
wenig überraschen, daß der Bauer an den
Kulturgütern der Nation und der Menschheit
nicht weniger teilnimmt als der Kaufmann
oder der Arzt auf dem Lande, eher mehr.

[Ende Spaltensatz]
*) Huggenberger, Alfred: „Hinterin Pflug,
Verse eines Bauern." Dritte, durchgesehene
Auflage. Huber u. Co., Frauenfeld. 1,80 M.
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[0441] Maßgebliches und Unmaßgebliches die wie Kiesel zahlreich im Flußbett des Dialektes liegen, zum Strahlen bringen konnte, War Karl Spitteler, der Schöpfer des „Olympischen Frühlings", des einzigen großen, modernen Epos, das unsere Literatur seit „Hermann und Dorothea" aufzuweisen chat. Dies hier, am Eingang der Betrachtungen über schweizerische Literatur festzustellen, sei mir als eine Huldigung an SpittelerS Adresse erlaubt, um so mehr, da die besten der Mo¬ derne in der Schweiz eben in der sprachlichen Handhabung seine Schuldner sind und da ich bei den Neuerscheinungen zufällig keine Gelegen¬ heit habe SpittelerS zu gedenken. Ihn unter¬ scheidet von Keller und Meyer, daß er nicht, wie jene, ein deutscher Klassiker geworden, obwohl er ein Schweizer ist, sondern zum Teil weil er das ist. Spitteler schrieb zu allererst aus dem Geiste der alemannischen Sprache jenes berg- und heuduftige Deutsch, das aus der land¬ schaftlich bedingten Mundart hervorgehend, kraft seiner zwingenden Bildlichkeit jedem Deutschen sofort verständlich, wie ein frisches Blut einen alternden Körper belebt hat. Die Schweizer sind heute Mode geworden, dessen kann uns jeder Verlagskatalog über¬ zeugen, und man hat allen Grund, sich dieser Mode herzlich zu freuen, denn sie bedeutet eine unversiegbare Quelle reinsten, klarsten Deutsch¬ tums, eine gesunde, vornehme Tradition be¬ deutet sie, deren wir in unserer Zeit all¬ gemeiner Ratlosigkeit wie der Blinde des Stabs bedürfen. Allein mit der Freude ist es nicht getan: eben weil die Schweizer Mode sind — wir wollen den etwaigen verwerf¬ lichen Beigeschmack des Wortes Mode un¬ betont lassen — ist es geboten, den Strom, der von den Alpen her befruchtend sich über die deutschen Lande ergießt, beizeiten auf seinen Gehalt zu prüfen. Er ist kräftig und reich genug, so daß bei noch so dichter Schleuse nur Veiwässer und Geröll aufgehalten werden, während alle Fluten, die nichts UnaufgelösteS mit sich führen, ungehindert ihren Weg finden sollen. Dies ist wenigstens das Ziel, das wir uns gesteckt, indem wir uns vorgenommen, unter dem obigen Titel die moderne schwei¬ zerische Literatur von Zeit zu Zeit einer ein¬ heitlichen Betrachtung zu unterziehen, wobei der Tatsache, daß die innere Entwicklung der Schweiz über die sprachliche Dreiteilung hinaus einem einheitlichen, starken Nationalsinn ent¬ gegenstrebt, dadurch Rechnung getragen werden soll, daß wir den hervorragendsten Leistungen der romanischen Schweiz unsere Aufmerk¬ samkeit nicht versagen. Alfred Huggenberger s), d es „ Bauern¬ dichters", Ruhm ist laut durch die Zeit¬ schriften und Zeitungen gegangen. Wie schön, daß die Fährte ausnahmsweise richtig, daß der Lärm nicht ein blinder gewesen. In ihm ist der deutschen Dichtung wahrhaftig ein Großer erstanden und eben darum ist es fast komisch, daß die Kritik der Nebensächlichkeit seines Bauerntums eine so übertriebene Wich¬ tigkeit beimißt. Der Bauer wurde mit all der Rührung, die Naivität, Natureinfalt, Frei¬ heit von jeder literarischen Erbbelastung dem Städter einflößt, in den Vordergrund gestellt. Dem kann nicht zeitig genug widersprochen werden: Huggenberger ist ein großer Dichter, der des Anziehungsmittels eines Kuriosums einfach nicht bedarf. Dann aber ist diese ganze Rührung auch falsch und beruht auf der Unkenntnis des Landes und der Sitten, wie ja tatsächlich die vielbereiste Schweiz zu den am wenigsten bekannten Ländern in Europa gehört. Ich meine natürlich die schweizerische Schweiz, nicht die Hotelschweiz. Nun ist Huggenberger Wohl ein waschechter Bauer, aber weder naiv, noch ohne literarische Erbschaft, sondern im Gegenteil von äußerst verfeinerter, komplizierter Gemütsart und durchaus belesen. DaS ist weiter gar nicht verwunderlich. Wer die hohe Stufe deutsch¬ schweizerischer Volksbildung kennt, wem eS bekannt, daß es hier durchaus nicht zu den Seltenheiten gehört, daß junge Leute vom Lande nach Absolvierung des halben oder auch des ganzen Gymnasiums auf den väterlichen Hof zurückkehren und Weiterbauern, einfach aus freier Berufswahl so gut wie aus angestammter Schollenliebe, den wird es wenig überraschen, daß der Bauer an den Kulturgütern der Nation und der Menschheit nicht weniger teilnimmt als der Kaufmann oder der Arzt auf dem Lande, eher mehr. *) Huggenberger, Alfred: „Hinterin Pflug, Verse eines Bauern." Dritte, durchgesehene Auflage. Huber u. Co., Frauenfeld. 1,80 M.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/441>, abgerufen am 15.01.2025.