Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

einandertragen müßte und selbst zugrunde
gehen, um dann noch nach dem Tode zu
tanzen, mit den Hacken aufzutrampeln und
forsch auf mazurische Art aufzujuchzen: ,Da-
dana!'

. . , Und mächtige Obereks tanzten sie,
ruckweise Springetänze, schwindelnde, tolle,
rasende, herausfordernde und wehmütige,
sengende und versonnene, mit Klageliedern
durchwobene, im Siedetakt des feurigen
Blutes pulsende und doch voll Güte und
Lieben, plötzlich niedersausende, wie eine
Hagelwolke und voll herzlicher Stimmen,
voll himmelblauer Blicke, voll lenzverheißender
Lüfte, voll düfteschwangeren Zweigerauschens,
das aus blütenschweren Obstgärten kommt.
Tänze, die wie jene sangerfüllten Frühlings¬
felder sind, Tänze, wo auch die Tränen noch
durch Lachen fließen, und das Herz Freude¬
lieder singt, und die Seele sich sehnsüchtig
losreißt, den fernen Weiten, den entlegenen
Wäldern entgegen und in die große Welt
hinausfliegt, ahnender Träume voll, vor sich
her singend: ,Oj Da-dana!''

Solche unsagbare Tänze folgteneiner dem
andern.

Denn also freut sich das Bauernvolk zur
gelegenen Zeit."

Am Schluß des zweiten Bandes hat sich
das ganze Dorf aufgemacht, um die Holz¬
fäller des Gutsherrn an der unberechtigten
Niederlegung des Gemeindewaldes zu hindern;
wie ein entfesselter, bislang aufgestauter
Waldfluß selbst bricht die Wut des Dorfes
über die anderen her, und verwundet, zerrissen,
aber doch siegreich kehren die Ausgezogenen
zurück.

Am tiefsten ergreift der Abschluß des
dritten Bandes, der Tod Borynas, der bei
jenem Kampf unheilbar verletzt worden ist.
In der Nacht erhebt sich der Bauer, der
monatelang ans Lager gefesselt war, noch
einmal. Im Hemd stolpert er über die
Schollen, taumelt über die Regenrisse des
Ackers, und dann sammelt er Erde ins Hemd
und geht, sie aussäend, als wäre eS Saat¬
korn aus einem bereit gestellten Sack, über
sein Gebreite. "Und dann, als die Nacht sich
schon ein bißchen zu trüben begann, die
Sterne verblaßten und die Hähne das Morgen¬
grauen auszukrähen anfingen, verlangsamte

[Spaltenumbruch]

er sein Tun, blieb häufiger stehen, und schon
ganz vergessend, Erde wieder aufzunehmen,
säte er aus der leeren Hand -- als müßte
er sich selbst bis zum letzten Nest auf die seit
Ahn und Urahn zugehörigen Felder aussäen,
als gäbe er alle gelebten Tage, sein ganzes
Menschenleben, das er einst erhalten hatte,
diesem Land und dem urewigen Gott zurück."
Und während die Felder ihn noch einmal
anzurufen scheinen, stürzt er zu Boden und
stirbt.

Nur ein Jahr und nur die Geschicke eines
Dorfes umfaßt das Werk. Aber dafür lernen
wir diese Menschen auch in ihrem ganzen
Leben und in ihrer ganzen Tätigkeit kennen,
ohne daß mit übertriebener Peinlichkeit ledig¬
lich äußere Vollständigkeit angestrebt wäre.
Denn die eigentliche Romanhandlung: der
Kampf um Borynas Hof, die Schicksale des
Haussohns und der schönen Jagua, der Kampf
der Gemeinde um Boden und Wald -- das
alles verknüpft erst durchaus künstlerisch die
breiten Bilder, die niemals von der eigent¬
lichen Handlung fortführen, niemals bloß
Hintergrund, sondern immer notwendiger
Bestandteil der Vorgänge sind. Ganz katho¬
lisch ist diese Dorfschaft, selbstverständlich
katholisch, dem ländlich derben Geistlichen tief
ergeben und noch in Roheit und Geldgier
immer wieder gebändigt durch die Liebe zur
Scholle und die Liebe zur Kirche. Und es
lebt in allen ein urtümliches Bolksgefühl.
Das zeigt sich nun besonders stark und für
uns besonders nachdenklich in der Abwehr
der russischen Beamten und der russischen
Sprache, die sie bringen -- beides wird als
völlig fremd und unzugehörig empfunden.
Und ebenso als fremd und feindlich empfinden
diese Polen die Deutschen, die sich als An¬
siedler in ihrer Nähe festsetzen wollen.
Wieder ziehen sie alle aus und künden jenen,
daß sie nicht mit ihnen Hausen und Höfen
wollen, und zwingen sie zum Abzug. "Hale,
die Deutschen, das ist ein anderes Volk, ge¬
lehrt und vermögend, die handeln mit den
Juden zusammen und ziehen ihren Gewinn
aus Menschennot" -- so spricht einer dem
anderen ganz aus der Seele, und es spricht
daraus der Haß des Slawen überhaupt
gegen die Ordnung und Sicherheit, die Bil¬
dung und Überlegenheit der Deutschen, jener

[Ende Spaltensatz]
Grenzboten IV 191249
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

einandertragen müßte und selbst zugrunde
gehen, um dann noch nach dem Tode zu
tanzen, mit den Hacken aufzutrampeln und
forsch auf mazurische Art aufzujuchzen: ,Da-
dana!'

. . , Und mächtige Obereks tanzten sie,
ruckweise Springetänze, schwindelnde, tolle,
rasende, herausfordernde und wehmütige,
sengende und versonnene, mit Klageliedern
durchwobene, im Siedetakt des feurigen
Blutes pulsende und doch voll Güte und
Lieben, plötzlich niedersausende, wie eine
Hagelwolke und voll herzlicher Stimmen,
voll himmelblauer Blicke, voll lenzverheißender
Lüfte, voll düfteschwangeren Zweigerauschens,
das aus blütenschweren Obstgärten kommt.
Tänze, die wie jene sangerfüllten Frühlings¬
felder sind, Tänze, wo auch die Tränen noch
durch Lachen fließen, und das Herz Freude¬
lieder singt, und die Seele sich sehnsüchtig
losreißt, den fernen Weiten, den entlegenen
Wäldern entgegen und in die große Welt
hinausfliegt, ahnender Träume voll, vor sich
her singend: ,Oj Da-dana!''

Solche unsagbare Tänze folgteneiner dem
andern.

Denn also freut sich das Bauernvolk zur
gelegenen Zeit."

Am Schluß des zweiten Bandes hat sich
das ganze Dorf aufgemacht, um die Holz¬
fäller des Gutsherrn an der unberechtigten
Niederlegung des Gemeindewaldes zu hindern;
wie ein entfesselter, bislang aufgestauter
Waldfluß selbst bricht die Wut des Dorfes
über die anderen her, und verwundet, zerrissen,
aber doch siegreich kehren die Ausgezogenen
zurück.

Am tiefsten ergreift der Abschluß des
dritten Bandes, der Tod Borynas, der bei
jenem Kampf unheilbar verletzt worden ist.
In der Nacht erhebt sich der Bauer, der
monatelang ans Lager gefesselt war, noch
einmal. Im Hemd stolpert er über die
Schollen, taumelt über die Regenrisse des
Ackers, und dann sammelt er Erde ins Hemd
und geht, sie aussäend, als wäre eS Saat¬
korn aus einem bereit gestellten Sack, über
sein Gebreite. „Und dann, als die Nacht sich
schon ein bißchen zu trüben begann, die
Sterne verblaßten und die Hähne das Morgen¬
grauen auszukrähen anfingen, verlangsamte

[Spaltenumbruch]

er sein Tun, blieb häufiger stehen, und schon
ganz vergessend, Erde wieder aufzunehmen,
säte er aus der leeren Hand — als müßte
er sich selbst bis zum letzten Nest auf die seit
Ahn und Urahn zugehörigen Felder aussäen,
als gäbe er alle gelebten Tage, sein ganzes
Menschenleben, das er einst erhalten hatte,
diesem Land und dem urewigen Gott zurück."
Und während die Felder ihn noch einmal
anzurufen scheinen, stürzt er zu Boden und
stirbt.

Nur ein Jahr und nur die Geschicke eines
Dorfes umfaßt das Werk. Aber dafür lernen
wir diese Menschen auch in ihrem ganzen
Leben und in ihrer ganzen Tätigkeit kennen,
ohne daß mit übertriebener Peinlichkeit ledig¬
lich äußere Vollständigkeit angestrebt wäre.
Denn die eigentliche Romanhandlung: der
Kampf um Borynas Hof, die Schicksale des
Haussohns und der schönen Jagua, der Kampf
der Gemeinde um Boden und Wald — das
alles verknüpft erst durchaus künstlerisch die
breiten Bilder, die niemals von der eigent¬
lichen Handlung fortführen, niemals bloß
Hintergrund, sondern immer notwendiger
Bestandteil der Vorgänge sind. Ganz katho¬
lisch ist diese Dorfschaft, selbstverständlich
katholisch, dem ländlich derben Geistlichen tief
ergeben und noch in Roheit und Geldgier
immer wieder gebändigt durch die Liebe zur
Scholle und die Liebe zur Kirche. Und es
lebt in allen ein urtümliches Bolksgefühl.
Das zeigt sich nun besonders stark und für
uns besonders nachdenklich in der Abwehr
der russischen Beamten und der russischen
Sprache, die sie bringen — beides wird als
völlig fremd und unzugehörig empfunden.
Und ebenso als fremd und feindlich empfinden
diese Polen die Deutschen, die sich als An¬
siedler in ihrer Nähe festsetzen wollen.
Wieder ziehen sie alle aus und künden jenen,
daß sie nicht mit ihnen Hausen und Höfen
wollen, und zwingen sie zum Abzug. „Hale,
die Deutschen, das ist ein anderes Volk, ge¬
lehrt und vermögend, die handeln mit den
Juden zusammen und ziehen ihren Gewinn
aus Menschennot" — so spricht einer dem
anderen ganz aus der Seele, und es spricht
daraus der Haß des Slawen überhaupt
gegen die Ordnung und Sicherheit, die Bil¬
dung und Überlegenheit der Deutschen, jener

[Ende Spaltensatz]
Grenzboten IV 191249
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0392" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322794"/>
            <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
            <cb type="start"/>
            <p xml:id="ID_1936" prev="#ID_1935"> einandertragen müßte und selbst zugrunde<lb/>
gehen, um dann noch nach dem Tode zu<lb/>
tanzen, mit den Hacken aufzutrampeln und<lb/>
forsch auf mazurische Art aufzujuchzen: ,Da-<lb/>
dana!'</p>
            <p xml:id="ID_1937"> . . , Und mächtige Obereks tanzten sie,<lb/>
ruckweise Springetänze, schwindelnde, tolle,<lb/>
rasende, herausfordernde und wehmütige,<lb/>
sengende und versonnene, mit Klageliedern<lb/>
durchwobene, im Siedetakt des feurigen<lb/>
Blutes pulsende und doch voll Güte und<lb/>
Lieben, plötzlich niedersausende, wie eine<lb/>
Hagelwolke und voll herzlicher Stimmen,<lb/>
voll himmelblauer Blicke, voll lenzverheißender<lb/>
Lüfte, voll düfteschwangeren Zweigerauschens,<lb/>
das aus blütenschweren Obstgärten kommt.<lb/>
Tänze, die wie jene sangerfüllten Frühlings¬<lb/>
felder sind, Tänze, wo auch die Tränen noch<lb/>
durch Lachen fließen, und das Herz Freude¬<lb/>
lieder singt, und die Seele sich sehnsüchtig<lb/>
losreißt, den fernen Weiten, den entlegenen<lb/>
Wäldern entgegen und in die große Welt<lb/>
hinausfliegt, ahnender Träume voll, vor sich<lb/>
her singend: ,Oj Da-dana!''</p>
            <p xml:id="ID_1938"> Solche unsagbare Tänze folgteneiner dem<lb/>
andern.</p>
            <p xml:id="ID_1939"> Denn also freut sich das Bauernvolk zur<lb/>
gelegenen Zeit."</p>
            <p xml:id="ID_1940"> Am Schluß des zweiten Bandes hat sich<lb/>
das ganze Dorf aufgemacht, um die Holz¬<lb/>
fäller des Gutsherrn an der unberechtigten<lb/>
Niederlegung des Gemeindewaldes zu hindern;<lb/>
wie ein entfesselter, bislang aufgestauter<lb/>
Waldfluß selbst bricht die Wut des Dorfes<lb/>
über die anderen her, und verwundet, zerrissen,<lb/>
aber doch siegreich kehren die Ausgezogenen<lb/>
zurück.</p>
            <p xml:id="ID_1941" next="#ID_1942"> Am tiefsten ergreift der Abschluß des<lb/>
dritten Bandes, der Tod Borynas, der bei<lb/>
jenem Kampf unheilbar verletzt worden ist.<lb/>
In der Nacht erhebt sich der Bauer, der<lb/>
monatelang ans Lager gefesselt war, noch<lb/>
einmal. Im Hemd stolpert er über die<lb/>
Schollen, taumelt über die Regenrisse des<lb/>
Ackers, und dann sammelt er Erde ins Hemd<lb/>
und geht, sie aussäend, als wäre eS Saat¬<lb/>
korn aus einem bereit gestellten Sack, über<lb/>
sein Gebreite. &#x201E;Und dann, als die Nacht sich<lb/>
schon ein bißchen zu trüben begann, die<lb/>
Sterne verblaßten und die Hähne das Morgen¬<lb/>
grauen auszukrähen anfingen, verlangsamte</p>
            <cb/><lb/>
            <p xml:id="ID_1942" prev="#ID_1941"> er sein Tun, blieb häufiger stehen, und schon<lb/>
ganz vergessend, Erde wieder aufzunehmen,<lb/>
säte er aus der leeren Hand &#x2014; als müßte<lb/>
er sich selbst bis zum letzten Nest auf die seit<lb/>
Ahn und Urahn zugehörigen Felder aussäen,<lb/>
als gäbe er alle gelebten Tage, sein ganzes<lb/>
Menschenleben, das er einst erhalten hatte,<lb/>
diesem Land und dem urewigen Gott zurück."<lb/>
Und während die Felder ihn noch einmal<lb/>
anzurufen scheinen, stürzt er zu Boden und<lb/>
stirbt.</p>
            <p xml:id="ID_1943" next="#ID_1944"> Nur ein Jahr und nur die Geschicke eines<lb/>
Dorfes umfaßt das Werk. Aber dafür lernen<lb/>
wir diese Menschen auch in ihrem ganzen<lb/>
Leben und in ihrer ganzen Tätigkeit kennen,<lb/>
ohne daß mit übertriebener Peinlichkeit ledig¬<lb/>
lich äußere Vollständigkeit angestrebt wäre.<lb/>
Denn die eigentliche Romanhandlung: der<lb/>
Kampf um Borynas Hof, die Schicksale des<lb/>
Haussohns und der schönen Jagua, der Kampf<lb/>
der Gemeinde um Boden und Wald &#x2014; das<lb/>
alles verknüpft erst durchaus künstlerisch die<lb/>
breiten Bilder, die niemals von der eigent¬<lb/>
lichen Handlung fortführen, niemals bloß<lb/>
Hintergrund, sondern immer notwendiger<lb/>
Bestandteil der Vorgänge sind. Ganz katho¬<lb/>
lisch ist diese Dorfschaft, selbstverständlich<lb/>
katholisch, dem ländlich derben Geistlichen tief<lb/>
ergeben und noch in Roheit und Geldgier<lb/>
immer wieder gebändigt durch die Liebe zur<lb/>
Scholle und die Liebe zur Kirche. Und es<lb/>
lebt in allen ein urtümliches Bolksgefühl.<lb/>
Das zeigt sich nun besonders stark und für<lb/>
uns besonders nachdenklich in der Abwehr<lb/>
der russischen Beamten und der russischen<lb/>
Sprache, die sie bringen &#x2014; beides wird als<lb/>
völlig fremd und unzugehörig empfunden.<lb/>
Und ebenso als fremd und feindlich empfinden<lb/>
diese Polen die Deutschen, die sich als An¬<lb/>
siedler in ihrer Nähe festsetzen wollen.<lb/>
Wieder ziehen sie alle aus und künden jenen,<lb/>
daß sie nicht mit ihnen Hausen und Höfen<lb/>
wollen, und zwingen sie zum Abzug. &#x201E;Hale,<lb/>
die Deutschen, das ist ein anderes Volk, ge¬<lb/>
lehrt und vermögend, die handeln mit den<lb/>
Juden zusammen und ziehen ihren Gewinn<lb/>
aus Menschennot" &#x2014; so spricht einer dem<lb/>
anderen ganz aus der Seele, und es spricht<lb/>
daraus der Haß des Slawen überhaupt<lb/>
gegen die Ordnung und Sicherheit, die Bil¬<lb/>
dung und Überlegenheit der Deutschen, jener</p>
            <cb type="end"/><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV 191249</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0392] Maßgebliches und Unmaßgebliches einandertragen müßte und selbst zugrunde gehen, um dann noch nach dem Tode zu tanzen, mit den Hacken aufzutrampeln und forsch auf mazurische Art aufzujuchzen: ,Da- dana!' . . , Und mächtige Obereks tanzten sie, ruckweise Springetänze, schwindelnde, tolle, rasende, herausfordernde und wehmütige, sengende und versonnene, mit Klageliedern durchwobene, im Siedetakt des feurigen Blutes pulsende und doch voll Güte und Lieben, plötzlich niedersausende, wie eine Hagelwolke und voll herzlicher Stimmen, voll himmelblauer Blicke, voll lenzverheißender Lüfte, voll düfteschwangeren Zweigerauschens, das aus blütenschweren Obstgärten kommt. Tänze, die wie jene sangerfüllten Frühlings¬ felder sind, Tänze, wo auch die Tränen noch durch Lachen fließen, und das Herz Freude¬ lieder singt, und die Seele sich sehnsüchtig losreißt, den fernen Weiten, den entlegenen Wäldern entgegen und in die große Welt hinausfliegt, ahnender Träume voll, vor sich her singend: ,Oj Da-dana!'' Solche unsagbare Tänze folgteneiner dem andern. Denn also freut sich das Bauernvolk zur gelegenen Zeit." Am Schluß des zweiten Bandes hat sich das ganze Dorf aufgemacht, um die Holz¬ fäller des Gutsherrn an der unberechtigten Niederlegung des Gemeindewaldes zu hindern; wie ein entfesselter, bislang aufgestauter Waldfluß selbst bricht die Wut des Dorfes über die anderen her, und verwundet, zerrissen, aber doch siegreich kehren die Ausgezogenen zurück. Am tiefsten ergreift der Abschluß des dritten Bandes, der Tod Borynas, der bei jenem Kampf unheilbar verletzt worden ist. In der Nacht erhebt sich der Bauer, der monatelang ans Lager gefesselt war, noch einmal. Im Hemd stolpert er über die Schollen, taumelt über die Regenrisse des Ackers, und dann sammelt er Erde ins Hemd und geht, sie aussäend, als wäre eS Saat¬ korn aus einem bereit gestellten Sack, über sein Gebreite. „Und dann, als die Nacht sich schon ein bißchen zu trüben begann, die Sterne verblaßten und die Hähne das Morgen¬ grauen auszukrähen anfingen, verlangsamte er sein Tun, blieb häufiger stehen, und schon ganz vergessend, Erde wieder aufzunehmen, säte er aus der leeren Hand — als müßte er sich selbst bis zum letzten Nest auf die seit Ahn und Urahn zugehörigen Felder aussäen, als gäbe er alle gelebten Tage, sein ganzes Menschenleben, das er einst erhalten hatte, diesem Land und dem urewigen Gott zurück." Und während die Felder ihn noch einmal anzurufen scheinen, stürzt er zu Boden und stirbt. Nur ein Jahr und nur die Geschicke eines Dorfes umfaßt das Werk. Aber dafür lernen wir diese Menschen auch in ihrem ganzen Leben und in ihrer ganzen Tätigkeit kennen, ohne daß mit übertriebener Peinlichkeit ledig¬ lich äußere Vollständigkeit angestrebt wäre. Denn die eigentliche Romanhandlung: der Kampf um Borynas Hof, die Schicksale des Haussohns und der schönen Jagua, der Kampf der Gemeinde um Boden und Wald — das alles verknüpft erst durchaus künstlerisch die breiten Bilder, die niemals von der eigent¬ lichen Handlung fortführen, niemals bloß Hintergrund, sondern immer notwendiger Bestandteil der Vorgänge sind. Ganz katho¬ lisch ist diese Dorfschaft, selbstverständlich katholisch, dem ländlich derben Geistlichen tief ergeben und noch in Roheit und Geldgier immer wieder gebändigt durch die Liebe zur Scholle und die Liebe zur Kirche. Und es lebt in allen ein urtümliches Bolksgefühl. Das zeigt sich nun besonders stark und für uns besonders nachdenklich in der Abwehr der russischen Beamten und der russischen Sprache, die sie bringen — beides wird als völlig fremd und unzugehörig empfunden. Und ebenso als fremd und feindlich empfinden diese Polen die Deutschen, die sich als An¬ siedler in ihrer Nähe festsetzen wollen. Wieder ziehen sie alle aus und künden jenen, daß sie nicht mit ihnen Hausen und Höfen wollen, und zwingen sie zum Abzug. „Hale, die Deutschen, das ist ein anderes Volk, ge¬ lehrt und vermögend, die handeln mit den Juden zusammen und ziehen ihren Gewinn aus Menschennot" — so spricht einer dem anderen ganz aus der Seele, und es spricht daraus der Haß des Slawen überhaupt gegen die Ordnung und Sicherheit, die Bil¬ dung und Überlegenheit der Deutschen, jener Grenzboten IV 191249

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/392
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/392>, abgerufen am 15.01.2025.