Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.Prometheus und Zarathustra "Prometheus" vom "Zarathustra" trennt, öffnet sich in diesem Gegensatz: "Das Zeichen" (S. 474) enthält noch eine Stelle, die der Prometheus- Wieder hindert uns ein recht naheliegendes persönliches Erlebnis Nietzsches Die epischen Ingredienzien des "Zarathustra" zeigen uns Nietzsche das Grenzboten IV 1S12 4"
Prometheus und Zarathustra „Prometheus" vom „Zarathustra" trennt, öffnet sich in diesem Gegensatz: „Das Zeichen" (S. 474) enthält noch eine Stelle, die der Prometheus- Wieder hindert uns ein recht naheliegendes persönliches Erlebnis Nietzsches Die epischen Ingredienzien des „Zarathustra" zeigen uns Nietzsche das Grenzboten IV 1S12 4»
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Prometheus und Zarathustra
„Prometheus" vom „Zarathustra" trennt, öffnet sich in diesem Gegensatz:
Prometheus lebt — Zarathustra denkt. Prometheus braucht die Menschen,
wenn auch zur Feindschaft, um sich, im Widerspruch zu ihnen, zu behaupten.
Zarathustra braucht sie nicht, er sieht und hört sie zehn Jahre nicht, er baut
kein Haus, er besucht die Welt nicht, er steht nicht auf wider die Gesellschaft,
er steht außerhalb derselben, weil er mit sich allein zu tun hat. Er steht der
Natur gegenüber und nachdem er zehn Jahre gedacht, spricht er zuerst zur
Sonne und wird dann andere zehn Jahre zu den Menschen reden — nicht
tun, nicht mit ihnen kämpfen, sondern sie unterrichten, predigenl Keinen
einzigen Balken wird er vor den Weg legen, kein einziges Tal sperren, keiner
Fliege wehren. Andere epische Ingredienzien sind vom neuen Testament voll¬
kommen abhängig; so die Einleitung „Von der schenkenden Tugend" (S. 109):
„Als Zarathustra von der Stadt Abschied genommen hatte, welcher sein Herz
zugetan war und deren Namen lautet: ,Die bunte Kuh° — folgten ihm viele,
die sich seine Jünger nannten, und gaben ihm das Geleit. Also kamen sie
an einen Kreuzweg: da sagte ihnen Zarathustra, daß er nunmehr allein gehen
wolle." Oder .Das Kind mit dem Spiegel' (S. 119): „Hierauf ging
Zarathustra wieder zurück in das Gebirge und in die Einsamkeit seiner Höhle
und entzog sich den Menschen: wartend gleich einem Sämann, der seinen
Samen ausgeworfen hat."
„Das Zeichen" (S. 474) enthält noch eine Stelle, die der Prometheus-
Theorie wieder die irreführende äußerliche Wahrscheinlichkeit verleiht. „Und in
Wahrheit, als es helle vor ihm wurde, da lag ihm ein gelbes mächtiges Getier
zu Füßen und schmiegte das Haupt an seine Knie und wollte nicht von ihm
lassen vor Liebe und tat einem Hunde gleich, welcher seinen alten Herrn wieder¬
findet. Die Tauben aber waren mit ihrer Liebe nicht minder eifrig als der
Löwe; und jedesmal, wenn eine Taube über die Nase des Löwen huschte,
schüttelte der Löwe das Haupt und wunderte sich und lachte dazu."
Wieder hindert uns ein recht naheliegendes persönliches Erlebnis Nietzsches
das Urbild dieser Vision in der fragwürdigen Anregung des Prometheus zu
suchen. Der Löwe und die Tauben! — das ist Venedig. Kurz vorher war
Nietzsche doch da. Es ist bereits betont worden, daß Nietzsches ornamentale
Auffassung seiner Tiere etwas Heraldisches hat. Sieht man doch in Venedig
auf Schritt und Tritt den archaistisch erhabenen San Marco mit dem assyrischen
Bart und einem friedlich grinsenden Löwen zu seinen Füßen, um den die Tauben
flattern. Von dem ist Spittelers Löwe ungefähr ebenso entfernt, wie der vene¬
zianische heraldische Wappenlöwe von jenem wundervollen ägyptischen Relief,
auf dem schmerzdurchwühlt ein Leu. das Bildnis großartiger Willensentfaltung
hochaufgerichtet auf den Vorderbeinen steht, während er den pfeildurchbohrten
Hinterleib abgestorben wie einen toten Lappen hinter sich einherschleppt.
Die epischen Ingredienzien des „Zarathustra" zeigen uns Nietzsche das
biographische oder das literarische Muster schülerhast kopierend. Keines von
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