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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Agrare Reformen in Rußland

Methoden ersetzen, sich mit den fortschreitenden Ergebnissen der landwirtschaft¬
lichen Technik vertraut machen und seine Erzeugnisse vorteilhaft verwerten will.
Je mehr die Intensität des bäuerlichen Betriebes fortschreitet, um so größer
wird das Bestreben der bäuerlichen Kreise sein, sich bestimmte grundlegende
Kenntnisse zu verschaffen, und in dem Maße, in welchem Regierung und Par¬
lament diesem Streben gerecht werden, wird auch der Bauer aus seiner neuen
Lage Nutzen ziehen. Die Aufwendungen, die Rußland in den letzten Jahren
zur Ausgestaltung des früher -- namentlich auf dem Lande -- außerordentlich
mangelhaften Bildungswesens gemacht hat, sind nicht unbeträchtlich. Während
noch das Budget von 1907 nur 14 Millionen Rubel für Volksschulen aufwies,
sind in das Budget für 1912 55 Millionen eingesetzt worden. Darin liegt
wenigstens ein Anfang, wenn auch 55 Millionen Rubel nicht hinreichen, das
arg vernachlässigte niedere Bildungswesen Rußlands auf eine dem west¬
europäischen sich nähernde Stufe zu bringen. -- Die Hebung des geistigen
Niveaus der Bauernschaft wird auch von entscheidenden Einfluß auf die weitere
Ausgestaltung des landwirtschaftlichen Genossenschaftswesens sein. Die Regierung
bringt zwar, wie es scheint, dem Genossenschaftswesen noch keine ungeteilten
Sympathien entgegen, immerhin ist seine Förderung im Interesse einer nach¬
haltigen Stärkung des meist kapitalschwachen russischen Bauernstandes dringend
geboten. -- Angelegenheiten von weitreichender Bedeutung für die bäuerlichen
Wirtschaften sind ferner die Ausgestaltung des russischen Verkehrswesens, ins¬
besondere der Eisenbahnen, die Vervollkommnung des landwirtschaftlichen Kredit¬
wesens und anderes mehr.

Wenn auch die russische Agrarreform und die sie begleitenden und stützenden,
in mehr oder minder intensiver Weise in Angriff genommenen sonstigen
Neuerungen einstweilen noch in ihren Anfängen stehen, so wird man doch nach
den bisherigen Ergebnissen nicht umhin können, anzuerkennen, daß sich in Ru߬
land tiefgreifende Wandlungen vollziehen, die auf eine große wirtschaftliche
Zukunft hinweisen. Es ist bereits von Rußland als von den, volkswirtschaftlich
mächtigsten Staat der Zukunft gesprochen worden. Ob und wann diese
Prophezeiung eintreten wird, mag dahingestellt bleiben; im Augenblick ist in
erster Linie die Tatsache wichtig, daß ein ungeheures Reich wirtschaftlich erwacht
ist. Mit dieser Tatsache haben die großen Industriestaaten der Welt, vor allen:
Rußlands nächster Nachbar: Deutschland, zu rechnen. In wenigen Jahren
laufen unsere Handelsverträge, unter ihnen unser Vertrag mit Rußland, ab;
auf deutscher wie russischer Seite wird schon heute an der Vorbereitung eines
neuen deutsch-russischen Handelsvertrages, der auf lange Jahre hinaus die
Grundlage der Handelsbeziehungen zwischen beiden Ländern sein wird, gearbeitet.
Die Umgestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse Rußlands wird natur¬
gemäß auf die Gestaltung dieses neuen Vertrages nicht ohne Einfluß sein
können, möge aber die Wertung dieses Umstandes auf deutscher wie russischer
Seite in einer Weise geschehen, die den Volkswirtschaften beider Länder gerecht


Agrare Reformen in Rußland

Methoden ersetzen, sich mit den fortschreitenden Ergebnissen der landwirtschaft¬
lichen Technik vertraut machen und seine Erzeugnisse vorteilhaft verwerten will.
Je mehr die Intensität des bäuerlichen Betriebes fortschreitet, um so größer
wird das Bestreben der bäuerlichen Kreise sein, sich bestimmte grundlegende
Kenntnisse zu verschaffen, und in dem Maße, in welchem Regierung und Par¬
lament diesem Streben gerecht werden, wird auch der Bauer aus seiner neuen
Lage Nutzen ziehen. Die Aufwendungen, die Rußland in den letzten Jahren
zur Ausgestaltung des früher — namentlich auf dem Lande — außerordentlich
mangelhaften Bildungswesens gemacht hat, sind nicht unbeträchtlich. Während
noch das Budget von 1907 nur 14 Millionen Rubel für Volksschulen aufwies,
sind in das Budget für 1912 55 Millionen eingesetzt worden. Darin liegt
wenigstens ein Anfang, wenn auch 55 Millionen Rubel nicht hinreichen, das
arg vernachlässigte niedere Bildungswesen Rußlands auf eine dem west¬
europäischen sich nähernde Stufe zu bringen. — Die Hebung des geistigen
Niveaus der Bauernschaft wird auch von entscheidenden Einfluß auf die weitere
Ausgestaltung des landwirtschaftlichen Genossenschaftswesens sein. Die Regierung
bringt zwar, wie es scheint, dem Genossenschaftswesen noch keine ungeteilten
Sympathien entgegen, immerhin ist seine Förderung im Interesse einer nach¬
haltigen Stärkung des meist kapitalschwachen russischen Bauernstandes dringend
geboten. — Angelegenheiten von weitreichender Bedeutung für die bäuerlichen
Wirtschaften sind ferner die Ausgestaltung des russischen Verkehrswesens, ins¬
besondere der Eisenbahnen, die Vervollkommnung des landwirtschaftlichen Kredit¬
wesens und anderes mehr.

Wenn auch die russische Agrarreform und die sie begleitenden und stützenden,
in mehr oder minder intensiver Weise in Angriff genommenen sonstigen
Neuerungen einstweilen noch in ihren Anfängen stehen, so wird man doch nach
den bisherigen Ergebnissen nicht umhin können, anzuerkennen, daß sich in Ru߬
land tiefgreifende Wandlungen vollziehen, die auf eine große wirtschaftliche
Zukunft hinweisen. Es ist bereits von Rußland als von den, volkswirtschaftlich
mächtigsten Staat der Zukunft gesprochen worden. Ob und wann diese
Prophezeiung eintreten wird, mag dahingestellt bleiben; im Augenblick ist in
erster Linie die Tatsache wichtig, daß ein ungeheures Reich wirtschaftlich erwacht
ist. Mit dieser Tatsache haben die großen Industriestaaten der Welt, vor allen:
Rußlands nächster Nachbar: Deutschland, zu rechnen. In wenigen Jahren
laufen unsere Handelsverträge, unter ihnen unser Vertrag mit Rußland, ab;
auf deutscher wie russischer Seite wird schon heute an der Vorbereitung eines
neuen deutsch-russischen Handelsvertrages, der auf lange Jahre hinaus die
Grundlage der Handelsbeziehungen zwischen beiden Ländern sein wird, gearbeitet.
Die Umgestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse Rußlands wird natur¬
gemäß auf die Gestaltung dieses neuen Vertrages nicht ohne Einfluß sein
können, möge aber die Wertung dieses Umstandes auf deutscher wie russischer
Seite in einer Weise geschehen, die den Volkswirtschaften beider Länder gerecht


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[0032] Agrare Reformen in Rußland Methoden ersetzen, sich mit den fortschreitenden Ergebnissen der landwirtschaft¬ lichen Technik vertraut machen und seine Erzeugnisse vorteilhaft verwerten will. Je mehr die Intensität des bäuerlichen Betriebes fortschreitet, um so größer wird das Bestreben der bäuerlichen Kreise sein, sich bestimmte grundlegende Kenntnisse zu verschaffen, und in dem Maße, in welchem Regierung und Par¬ lament diesem Streben gerecht werden, wird auch der Bauer aus seiner neuen Lage Nutzen ziehen. Die Aufwendungen, die Rußland in den letzten Jahren zur Ausgestaltung des früher — namentlich auf dem Lande — außerordentlich mangelhaften Bildungswesens gemacht hat, sind nicht unbeträchtlich. Während noch das Budget von 1907 nur 14 Millionen Rubel für Volksschulen aufwies, sind in das Budget für 1912 55 Millionen eingesetzt worden. Darin liegt wenigstens ein Anfang, wenn auch 55 Millionen Rubel nicht hinreichen, das arg vernachlässigte niedere Bildungswesen Rußlands auf eine dem west¬ europäischen sich nähernde Stufe zu bringen. — Die Hebung des geistigen Niveaus der Bauernschaft wird auch von entscheidenden Einfluß auf die weitere Ausgestaltung des landwirtschaftlichen Genossenschaftswesens sein. Die Regierung bringt zwar, wie es scheint, dem Genossenschaftswesen noch keine ungeteilten Sympathien entgegen, immerhin ist seine Förderung im Interesse einer nach¬ haltigen Stärkung des meist kapitalschwachen russischen Bauernstandes dringend geboten. — Angelegenheiten von weitreichender Bedeutung für die bäuerlichen Wirtschaften sind ferner die Ausgestaltung des russischen Verkehrswesens, ins¬ besondere der Eisenbahnen, die Vervollkommnung des landwirtschaftlichen Kredit¬ wesens und anderes mehr. Wenn auch die russische Agrarreform und die sie begleitenden und stützenden, in mehr oder minder intensiver Weise in Angriff genommenen sonstigen Neuerungen einstweilen noch in ihren Anfängen stehen, so wird man doch nach den bisherigen Ergebnissen nicht umhin können, anzuerkennen, daß sich in Ru߬ land tiefgreifende Wandlungen vollziehen, die auf eine große wirtschaftliche Zukunft hinweisen. Es ist bereits von Rußland als von den, volkswirtschaftlich mächtigsten Staat der Zukunft gesprochen worden. Ob und wann diese Prophezeiung eintreten wird, mag dahingestellt bleiben; im Augenblick ist in erster Linie die Tatsache wichtig, daß ein ungeheures Reich wirtschaftlich erwacht ist. Mit dieser Tatsache haben die großen Industriestaaten der Welt, vor allen: Rußlands nächster Nachbar: Deutschland, zu rechnen. In wenigen Jahren laufen unsere Handelsverträge, unter ihnen unser Vertrag mit Rußland, ab; auf deutscher wie russischer Seite wird schon heute an der Vorbereitung eines neuen deutsch-russischen Handelsvertrages, der auf lange Jahre hinaus die Grundlage der Handelsbeziehungen zwischen beiden Ländern sein wird, gearbeitet. Die Umgestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse Rußlands wird natur¬ gemäß auf die Gestaltung dieses neuen Vertrages nicht ohne Einfluß sein können, möge aber die Wertung dieses Umstandes auf deutscher wie russischer Seite in einer Weise geschehen, die den Volkswirtschaften beider Länder gerecht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/32>, abgerufen am 15.01.2025.