Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.Prometheus und Zarathustra ragende Geister zu gleicher Zeit mit historischer Notwendigkeit denselben Ge¬ Die Zeit steht im Siegeszeichen der liberalen Bürgerschaft. Sie allein Prometheus und Zarathustra ragende Geister zu gleicher Zeit mit historischer Notwendigkeit denselben Ge¬ Die Zeit steht im Siegeszeichen der liberalen Bürgerschaft. Sie allein <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0317" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322719"/> <fw type="header" place="top"> Prometheus und Zarathustra</fw><lb/> <p xml:id="ID_1490" prev="#ID_1489"> ragende Geister zu gleicher Zeit mit historischer Notwendigkeit denselben Ge¬<lb/> danken schöpfen mußten: eben den Übermenschen. Zweifach ist die Quelle. Die<lb/> Deszendenztheorie, der Darwinismus erfüllte die Geister in der zweiten Hälfte<lb/> des vorigen Jahrhunderts. Aus der Auffassung, daß der Mensch seinen Weg<lb/> vom einzelligen Urbazillus durch die ganze Skala der organischen Welt hindurch<lb/> genommen, daß der Aufstieg von Art zu Art erfolgt ist, daß auch der einzelne<lb/> Mensch dieses jahrtausendalte Werden als Embryo mit der Geschwindigkeit der<lb/> Biogenose in den neun Monaten immer wieder durchmacht, dieser Gedankengang<lb/> weist doch notwendig in die Zukunft, in der wir auch die jetzige Art werden<lb/> überwunden haben, und der Mensch den Übermenschen gebiert. Muß nicht ein<lb/> visionär-optimistisch veranlagter Geist aus dem frischen Eindruck der Deszendenz<lb/> den Übermenschen ersehen? Müssen sie es nicht alle? Spitteler, Nietzsche —<lb/> und weit weg von Basel: Ibsen? Hat er nicht zur selben Zeit um den stolzen,<lb/> freien Adelsmenschen gerungen? Und nur beiläufig: die Deszendenztheorie<lb/> knüpft ein enges Verwandschaftsband, ein Blutband zwischen Mensch und Tier.<lb/> Jedes Tier sagt uns von nun an: auch du warst einst, was ich bin. Damit<lb/> legt sie doch auch dem Dichter nahe, in diese Vergangenheit hinabzusteigen, den<lb/> Menschen, der zwischen Tier und Übermensch steht, zum Teil in die über¬<lb/> wundenen Stufen wieder einzukleiden, sein Inneres ihm als Adler, Schlange.<lb/> Löwe, Hund verkörpert an die Seite zu stellen. Die Erzählung und die<lb/> erzählende Dichtung ist eine Betätigung der menschlichen Erinnerungsgabe.<lb/> Die Deszendenztheorie erscheint in der poetischen Umgestaltung als das gro߬<lb/> artige Epos der Menschwerdung und sie selbst führt notwendig jeden Dichter,<lb/> der sich in diese philogenetische Menschheitserinnerung vertieft, zur ästhetischen<lb/> Krönung der Gattungsapotheose: zum Übermenschen. Doch nicht der Darwinsche<lb/> Gedanke allein förderte den in den achtziger Jahren vielerorts auftauchenden<lb/> Gedanken des Übermenschen. Der Weltmoment selbst rief ihn als Widerspruch<lb/> mit lauter Stimme.</p><lb/> <p xml:id="ID_1491" next="#ID_1492"> Die Zeit steht im Siegeszeichen der liberalen Bürgerschaft. Sie allein<lb/> vermag die günstige Konjunktur nach dem Kriege zu ergreifen und. durch den<lb/> materiellen Aufschwung dem bisherigen papiernen Recht die Tatsache ihrer<lb/> politischen Gleichstellung hinzuzuerwerben. Dieser politische Höhenstand ent¬<lb/> spricht naturgemäß einem ästhetischen Tiefstand. Ohne formale Tradition, ohne<lb/> Gesittung, ohne Lebenskultur steht plötzlich die neue Klasse als herrschende Macht<lb/> da. Sie fordert die Opposition heraus. Aus ihrer eigenen Mitte wird der<lb/> neue Adel hervorgehen, der die liberale Demokratie selbst bis zum Ende des<lb/> Jahrhunderts so vollständig umgestaltet, daß sie sich plötzlich als konservative<lb/> Adelskaste dem quatnöms stat, dem Proletariat, feindlich gegenüber sieht. Die<lb/> ersten Opponenten aus ihrer Mitte, die ersten Adelsucher in der Ära des<lb/> nivellierenden Bürgertums, waren eben Spitteler. Ibsen, Nietzsche. Nietzsche<lb/> war ein Aristokrat, dem die Baseler Adelsherrschaft — denn da fiel sie noch<lb/> nicht, sie verlor nur die Provinz Baselland im Bürgerkrieg — begreiflicher war</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0317]
Prometheus und Zarathustra
ragende Geister zu gleicher Zeit mit historischer Notwendigkeit denselben Ge¬
danken schöpfen mußten: eben den Übermenschen. Zweifach ist die Quelle. Die
Deszendenztheorie, der Darwinismus erfüllte die Geister in der zweiten Hälfte
des vorigen Jahrhunderts. Aus der Auffassung, daß der Mensch seinen Weg
vom einzelligen Urbazillus durch die ganze Skala der organischen Welt hindurch
genommen, daß der Aufstieg von Art zu Art erfolgt ist, daß auch der einzelne
Mensch dieses jahrtausendalte Werden als Embryo mit der Geschwindigkeit der
Biogenose in den neun Monaten immer wieder durchmacht, dieser Gedankengang
weist doch notwendig in die Zukunft, in der wir auch die jetzige Art werden
überwunden haben, und der Mensch den Übermenschen gebiert. Muß nicht ein
visionär-optimistisch veranlagter Geist aus dem frischen Eindruck der Deszendenz
den Übermenschen ersehen? Müssen sie es nicht alle? Spitteler, Nietzsche —
und weit weg von Basel: Ibsen? Hat er nicht zur selben Zeit um den stolzen,
freien Adelsmenschen gerungen? Und nur beiläufig: die Deszendenztheorie
knüpft ein enges Verwandschaftsband, ein Blutband zwischen Mensch und Tier.
Jedes Tier sagt uns von nun an: auch du warst einst, was ich bin. Damit
legt sie doch auch dem Dichter nahe, in diese Vergangenheit hinabzusteigen, den
Menschen, der zwischen Tier und Übermensch steht, zum Teil in die über¬
wundenen Stufen wieder einzukleiden, sein Inneres ihm als Adler, Schlange.
Löwe, Hund verkörpert an die Seite zu stellen. Die Erzählung und die
erzählende Dichtung ist eine Betätigung der menschlichen Erinnerungsgabe.
Die Deszendenztheorie erscheint in der poetischen Umgestaltung als das gro߬
artige Epos der Menschwerdung und sie selbst führt notwendig jeden Dichter,
der sich in diese philogenetische Menschheitserinnerung vertieft, zur ästhetischen
Krönung der Gattungsapotheose: zum Übermenschen. Doch nicht der Darwinsche
Gedanke allein förderte den in den achtziger Jahren vielerorts auftauchenden
Gedanken des Übermenschen. Der Weltmoment selbst rief ihn als Widerspruch
mit lauter Stimme.
Die Zeit steht im Siegeszeichen der liberalen Bürgerschaft. Sie allein
vermag die günstige Konjunktur nach dem Kriege zu ergreifen und. durch den
materiellen Aufschwung dem bisherigen papiernen Recht die Tatsache ihrer
politischen Gleichstellung hinzuzuerwerben. Dieser politische Höhenstand ent¬
spricht naturgemäß einem ästhetischen Tiefstand. Ohne formale Tradition, ohne
Gesittung, ohne Lebenskultur steht plötzlich die neue Klasse als herrschende Macht
da. Sie fordert die Opposition heraus. Aus ihrer eigenen Mitte wird der
neue Adel hervorgehen, der die liberale Demokratie selbst bis zum Ende des
Jahrhunderts so vollständig umgestaltet, daß sie sich plötzlich als konservative
Adelskaste dem quatnöms stat, dem Proletariat, feindlich gegenüber sieht. Die
ersten Opponenten aus ihrer Mitte, die ersten Adelsucher in der Ära des
nivellierenden Bürgertums, waren eben Spitteler. Ibsen, Nietzsche. Nietzsche
war ein Aristokrat, dem die Baseler Adelsherrschaft — denn da fiel sie noch
nicht, sie verlor nur die Provinz Baselland im Bürgerkrieg — begreiflicher war
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |