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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Balkanbnnd und Dreibund

Denn nun steht mitten an den nördlichen Küsten des Mittelmeeres und
mit einem Fuß am afrikanischen Nordufer das in sich geschlossene Mitteleuropa,
hoffentlich (im Hinblick auf die weiteren tripolitanischen Arbeiten Italiens) von
dem Hemmschuh der adriatischen Eifersüchteleien befreit und damit imstande,
das ganze ungeheure Schwergewicht der Dreibundskraft sowie die familiären
Beziehungen des italienischen Königshauses zum montenegrinischen zu einer ersprie߬
lichen Gestaltung der wirtschaftlichen Beziehungen Mitteleuropas zum Balkan¬
bunde ausnutzen zu können. Das Neue Wiener Tagblatt hat am 2. November
mit einer Äußerung von besonderer Seite auf die Interessengemeinschaft Öster¬
reich - Ungarns und Italiens in der Balkanpolitik hingewiesen. Daß diese
Interessengemeinschaft auf dem Boden einer weisen Selbstbeschränkung fußt,
wissen wir aus einer vom gleichen Tage datierten Auslassung des Pester Lloyd,
daß Österreich ° Ungarn am Balkan "saturiert" ist und nicht auf territoriale
Eroberungen ausgeht. Die Habsburgischen Interessen, so sagt das offiziöse
Organ des Österreich und Ungarn gemeinsamen Ministeriums des Äußern,
zielen nur auf möglichst gute Beziehungen zu den Balkanstaaten ab. Diese
"aus freiem Entschlüsse auferlegte Selbstbeschränkung", dieses "Programm der
territorialen Enthaltsamkeit" zielt auf "ein bleibend gutes Verhältnis zu den
Balkanstaaten in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht" ab. Österreich-Ungarn,
das auf den territorialen Zusammenhang mit dem Ägäischen Meere freiwillig
verzichtet, kann und will den Verkehrs- und wirtschaftspolitischen Zugang mit
dem östlichen Becken des Mittelmeeres nicht entbehren. Es bietet dem Balkan¬
bund und in erster Linie Serbien die Hand zu einer solchen Interessengemein¬
schaft. Ob diese in der Form eines Zollbündnisses oder eines Zollvergünstigungs¬
vertrages in die Erscheinung tritt, das ist eine Frage der Zweckmäßigkeit.

In Serbien und vor allem in Bulgarien dürfte diese Frage nicht von
vornherein abgewiesen werden. Man mag sich noch nicht festlegen wollen, aber
soviel ist sicher, daß die Eifersucht Rußlands auf die bulgarischen Erfolge und
die Möglichkeit eines Zusammenpralls bulgarischer und russischer Interessen am
Goldenen Horn die Diplomaten in Sofia jetzt schon ihre Blicke auf den Drei¬
bund lenken läßt. Am 1. November schrieb der halbamtliche Mir in einer
Polemik gegen den Temps deutlich genug, daß sich Bulgarien zwischen einer
mißgünstigen Tripleentente und dem Dreibund auch für diesen entscheiden
könne.

Auf diesem Stande also ist heute die Frage einer Verkehrs- und wirtschafts¬
politischen Vorzugsstellung Österreich-Ungarns bei den Balkanbundstaaten. Ich für
meine Person neige zu der Ansicht, daß eine wirtschaftspolitische Begünstigung
der Habsburgischen Monarchie der erste Schritt sein kann sür die Herstellung
einer mitteleuropäisch-balkanstaatlichen Zollunion auf dem Grunde des Systems
der Vorzugszölle. Ein Ziel aufs innigste zu wünschen und auf die Dauer
kaum zu vermeiden, wenn diese Union in die Form eines wirtschaftspolitischen
Schiedsgerichtsbundes gegossen wird.


Balkanbnnd und Dreibund

Denn nun steht mitten an den nördlichen Küsten des Mittelmeeres und
mit einem Fuß am afrikanischen Nordufer das in sich geschlossene Mitteleuropa,
hoffentlich (im Hinblick auf die weiteren tripolitanischen Arbeiten Italiens) von
dem Hemmschuh der adriatischen Eifersüchteleien befreit und damit imstande,
das ganze ungeheure Schwergewicht der Dreibundskraft sowie die familiären
Beziehungen des italienischen Königshauses zum montenegrinischen zu einer ersprie߬
lichen Gestaltung der wirtschaftlichen Beziehungen Mitteleuropas zum Balkan¬
bunde ausnutzen zu können. Das Neue Wiener Tagblatt hat am 2. November
mit einer Äußerung von besonderer Seite auf die Interessengemeinschaft Öster¬
reich - Ungarns und Italiens in der Balkanpolitik hingewiesen. Daß diese
Interessengemeinschaft auf dem Boden einer weisen Selbstbeschränkung fußt,
wissen wir aus einer vom gleichen Tage datierten Auslassung des Pester Lloyd,
daß Österreich ° Ungarn am Balkan „saturiert" ist und nicht auf territoriale
Eroberungen ausgeht. Die Habsburgischen Interessen, so sagt das offiziöse
Organ des Österreich und Ungarn gemeinsamen Ministeriums des Äußern,
zielen nur auf möglichst gute Beziehungen zu den Balkanstaaten ab. Diese
„aus freiem Entschlüsse auferlegte Selbstbeschränkung", dieses „Programm der
territorialen Enthaltsamkeit" zielt auf „ein bleibend gutes Verhältnis zu den
Balkanstaaten in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht" ab. Österreich-Ungarn,
das auf den territorialen Zusammenhang mit dem Ägäischen Meere freiwillig
verzichtet, kann und will den Verkehrs- und wirtschaftspolitischen Zugang mit
dem östlichen Becken des Mittelmeeres nicht entbehren. Es bietet dem Balkan¬
bund und in erster Linie Serbien die Hand zu einer solchen Interessengemein¬
schaft. Ob diese in der Form eines Zollbündnisses oder eines Zollvergünstigungs¬
vertrages in die Erscheinung tritt, das ist eine Frage der Zweckmäßigkeit.

In Serbien und vor allem in Bulgarien dürfte diese Frage nicht von
vornherein abgewiesen werden. Man mag sich noch nicht festlegen wollen, aber
soviel ist sicher, daß die Eifersucht Rußlands auf die bulgarischen Erfolge und
die Möglichkeit eines Zusammenpralls bulgarischer und russischer Interessen am
Goldenen Horn die Diplomaten in Sofia jetzt schon ihre Blicke auf den Drei¬
bund lenken läßt. Am 1. November schrieb der halbamtliche Mir in einer
Polemik gegen den Temps deutlich genug, daß sich Bulgarien zwischen einer
mißgünstigen Tripleentente und dem Dreibund auch für diesen entscheiden
könne.

Auf diesem Stande also ist heute die Frage einer Verkehrs- und wirtschafts¬
politischen Vorzugsstellung Österreich-Ungarns bei den Balkanbundstaaten. Ich für
meine Person neige zu der Ansicht, daß eine wirtschaftspolitische Begünstigung
der Habsburgischen Monarchie der erste Schritt sein kann sür die Herstellung
einer mitteleuropäisch-balkanstaatlichen Zollunion auf dem Grunde des Systems
der Vorzugszölle. Ein Ziel aufs innigste zu wünschen und auf die Dauer
kaum zu vermeiden, wenn diese Union in die Form eines wirtschaftspolitischen
Schiedsgerichtsbundes gegossen wird.


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[0307] Balkanbnnd und Dreibund Denn nun steht mitten an den nördlichen Küsten des Mittelmeeres und mit einem Fuß am afrikanischen Nordufer das in sich geschlossene Mitteleuropa, hoffentlich (im Hinblick auf die weiteren tripolitanischen Arbeiten Italiens) von dem Hemmschuh der adriatischen Eifersüchteleien befreit und damit imstande, das ganze ungeheure Schwergewicht der Dreibundskraft sowie die familiären Beziehungen des italienischen Königshauses zum montenegrinischen zu einer ersprie߬ lichen Gestaltung der wirtschaftlichen Beziehungen Mitteleuropas zum Balkan¬ bunde ausnutzen zu können. Das Neue Wiener Tagblatt hat am 2. November mit einer Äußerung von besonderer Seite auf die Interessengemeinschaft Öster¬ reich - Ungarns und Italiens in der Balkanpolitik hingewiesen. Daß diese Interessengemeinschaft auf dem Boden einer weisen Selbstbeschränkung fußt, wissen wir aus einer vom gleichen Tage datierten Auslassung des Pester Lloyd, daß Österreich ° Ungarn am Balkan „saturiert" ist und nicht auf territoriale Eroberungen ausgeht. Die Habsburgischen Interessen, so sagt das offiziöse Organ des Österreich und Ungarn gemeinsamen Ministeriums des Äußern, zielen nur auf möglichst gute Beziehungen zu den Balkanstaaten ab. Diese „aus freiem Entschlüsse auferlegte Selbstbeschränkung", dieses „Programm der territorialen Enthaltsamkeit" zielt auf „ein bleibend gutes Verhältnis zu den Balkanstaaten in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht" ab. Österreich-Ungarn, das auf den territorialen Zusammenhang mit dem Ägäischen Meere freiwillig verzichtet, kann und will den Verkehrs- und wirtschaftspolitischen Zugang mit dem östlichen Becken des Mittelmeeres nicht entbehren. Es bietet dem Balkan¬ bund und in erster Linie Serbien die Hand zu einer solchen Interessengemein¬ schaft. Ob diese in der Form eines Zollbündnisses oder eines Zollvergünstigungs¬ vertrages in die Erscheinung tritt, das ist eine Frage der Zweckmäßigkeit. In Serbien und vor allem in Bulgarien dürfte diese Frage nicht von vornherein abgewiesen werden. Man mag sich noch nicht festlegen wollen, aber soviel ist sicher, daß die Eifersucht Rußlands auf die bulgarischen Erfolge und die Möglichkeit eines Zusammenpralls bulgarischer und russischer Interessen am Goldenen Horn die Diplomaten in Sofia jetzt schon ihre Blicke auf den Drei¬ bund lenken läßt. Am 1. November schrieb der halbamtliche Mir in einer Polemik gegen den Temps deutlich genug, daß sich Bulgarien zwischen einer mißgünstigen Tripleentente und dem Dreibund auch für diesen entscheiden könne. Auf diesem Stande also ist heute die Frage einer Verkehrs- und wirtschafts¬ politischen Vorzugsstellung Österreich-Ungarns bei den Balkanbundstaaten. Ich für meine Person neige zu der Ansicht, daß eine wirtschaftspolitische Begünstigung der Habsburgischen Monarchie der erste Schritt sein kann sür die Herstellung einer mitteleuropäisch-balkanstaatlichen Zollunion auf dem Grunde des Systems der Vorzugszölle. Ein Ziel aufs innigste zu wünschen und auf die Dauer kaum zu vermeiden, wenn diese Union in die Form eines wirtschaftspolitischen Schiedsgerichtsbundes gegossen wird.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/307>, abgerufen am 15.01.2025.