Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.Agrare Reformen in Rußland "Notparagraphen" stützte sich der Ukas vom 9. (22.) November 1906, auf Die beiden entscheidenden Bestimmungen dieses Gesetzes gehen dahin: Das ist in knappen Zügen der wesentliche Inhalt der Gesetze und Ver¬ Was ist erreicht worden? Blicken wir zunächst auf das Ergebnis der Grenzboten IV 1912 3
Agrare Reformen in Rußland „Notparagraphen" stützte sich der Ukas vom 9. (22.) November 1906, auf Die beiden entscheidenden Bestimmungen dieses Gesetzes gehen dahin: Das ist in knappen Zügen der wesentliche Inhalt der Gesetze und Ver¬ Was ist erreicht worden? Blicken wir zunächst auf das Ergebnis der Grenzboten IV 1912 3
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0029" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322430"/> <fw type="header" place="top"> Agrare Reformen in Rußland</fw><lb/> <p xml:id="ID_48" prev="#ID_47"> „Notparagraphen" stützte sich der Ukas vom 9. (22.) November 1906, auf<lb/> Grund dessen die grundsätzliche Reform der bäuerlichen Verhältnisse zunächst<lb/> durchgeführt wurde. Man hat die Legalität dieses Allerhöchsten Befehles mit<lb/> der Begründung angefochten, daß 1. die Verfassung nur plötzlich auftretende,<lb/> nicht längst bestehende Notfalle treffen wolle, wenn sie „in dringenden Fällen"<lb/> einseitige gesetzgeberische Akte der Negierung zulasse, und daß 2. Stolypin gegen<lb/> die Verfassung verstoßen habe, da er den Ukas vom 9. (22.) November der<lb/> zweiten Duma nicht innerhalb der gesetzlichen Frist von einem Monat nach<lb/> deren Zusammentritt vorgelegt habe. Der erste Einwand betrifft eine Frage<lb/> der Interpretation; der zweite war an sich richtig, muß aber als beseitigt<lb/> angesehen werden, da das Manifest vom 9. (22,) November 1906 durch ein<lb/> auf verfassungsmäßigen Wege zustande gekommenes Gesetz, im wesentlichen des<lb/> gleichen, zum Teil erheblich erweiterten Inhalts, vom 10. (23.) Juni 1910<lb/> ersetzt worden ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_49"> Die beiden entscheidenden Bestimmungen dieses Gesetzes gehen dahin:<lb/> s) Jeder an der Nutznießung des Gemeindebesitzes beteiligte Bauer kann ver¬<lb/> langen, daß ihm sein Anteil als Sonderbesitz zugewiesen werde; und b) in<lb/> allen Gemeinden, in denen keine allgemeinen Anleitungen seit der Landzuerteilung<lb/> stattgefunden haben, sollen so angesehen werden, als ob sie zum Sonderbesitz<lb/> übergegangen seien, das heißt die in diesen Gemeinden an der Feldgemeinschaft<lb/> beteiligten Bauern sollten ihren Anteil am Gemeindeland als ihren Sonder¬<lb/> besitz, ihr persönliches und vererbliches Eigentum betrachten können. Auf Grund<lb/> dieser Bestimmungen konnte sich der Bauer endlich frei machen von dem Zwange<lb/> des Mir; um ihn aber ganz auf sich selbst zu stellen, bedürfte es noch der<lb/> Beseitigung der Gemenglage. Auch in dieser Beziehung haben bereits der Ukas<lb/> vom November 1906 und das ihn ersetzende Gesetz von 1910 Bestimmungen<lb/> getroffen; inzwischen sind sie, um allen Bedürfnissen gerecht werden zu können,<lb/> in vielfach erweiterter Fassung in dem besonderen Landeinrichtungsgesetze vom<lb/> 29. Mai (11. Juni) 1911 niedergelegt worden. Der Zweck dieser Bestimmungen<lb/> war, die Ausscheidung des Sonderbesitzes aus dem Gemeindeland, die Schaffung<lb/> selbständiger, wohlarrondierter Bauernhöfe, die Eröffnung einer neuen Zukunft<lb/> für den russischen Bauernstand. Es wurde zur Erreichung dieses Zieles eine besondere<lb/> Landeinnchtungsorganisation (Bezirkskommissionen, Gouvernementskommissionen,<lb/> Komitee sür Landeinrichtungsangelegenheiten beim Landwirtschaftsministerium in<lb/> Se. Petersburg) geschaffen, der es oblag, die Absichten der Regierung auszuführen.</p><lb/> <p xml:id="ID_50"> Das ist in knappen Zügen der wesentliche Inhalt der Gesetze und Ver¬<lb/> ordnungen, die die jüngsten agraren Reformen in Rußland eingeleitet haben.<lb/> Es würde zu weit führen, hier darzustellen, wie diese Gesetze und Verordnungen<lb/> im einzelnen durchgeführt wurden, wir müssen uns vielmehr auf eine summa¬<lb/> rische Übersicht über die bisherigen Erfolge der Reform beschränken.</p><lb/> <p xml:id="ID_51" next="#ID_52"> Was ist erreicht worden? Blicken wir zunächst auf das Ergebnis der<lb/> Maßnahmen der Regierung, die sich an die Forderung: Mehr Bauernland!</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV 1912 3</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0029]
Agrare Reformen in Rußland
„Notparagraphen" stützte sich der Ukas vom 9. (22.) November 1906, auf
Grund dessen die grundsätzliche Reform der bäuerlichen Verhältnisse zunächst
durchgeführt wurde. Man hat die Legalität dieses Allerhöchsten Befehles mit
der Begründung angefochten, daß 1. die Verfassung nur plötzlich auftretende,
nicht längst bestehende Notfalle treffen wolle, wenn sie „in dringenden Fällen"
einseitige gesetzgeberische Akte der Negierung zulasse, und daß 2. Stolypin gegen
die Verfassung verstoßen habe, da er den Ukas vom 9. (22.) November der
zweiten Duma nicht innerhalb der gesetzlichen Frist von einem Monat nach
deren Zusammentritt vorgelegt habe. Der erste Einwand betrifft eine Frage
der Interpretation; der zweite war an sich richtig, muß aber als beseitigt
angesehen werden, da das Manifest vom 9. (22,) November 1906 durch ein
auf verfassungsmäßigen Wege zustande gekommenes Gesetz, im wesentlichen des
gleichen, zum Teil erheblich erweiterten Inhalts, vom 10. (23.) Juni 1910
ersetzt worden ist.
Die beiden entscheidenden Bestimmungen dieses Gesetzes gehen dahin:
s) Jeder an der Nutznießung des Gemeindebesitzes beteiligte Bauer kann ver¬
langen, daß ihm sein Anteil als Sonderbesitz zugewiesen werde; und b) in
allen Gemeinden, in denen keine allgemeinen Anleitungen seit der Landzuerteilung
stattgefunden haben, sollen so angesehen werden, als ob sie zum Sonderbesitz
übergegangen seien, das heißt die in diesen Gemeinden an der Feldgemeinschaft
beteiligten Bauern sollten ihren Anteil am Gemeindeland als ihren Sonder¬
besitz, ihr persönliches und vererbliches Eigentum betrachten können. Auf Grund
dieser Bestimmungen konnte sich der Bauer endlich frei machen von dem Zwange
des Mir; um ihn aber ganz auf sich selbst zu stellen, bedürfte es noch der
Beseitigung der Gemenglage. Auch in dieser Beziehung haben bereits der Ukas
vom November 1906 und das ihn ersetzende Gesetz von 1910 Bestimmungen
getroffen; inzwischen sind sie, um allen Bedürfnissen gerecht werden zu können,
in vielfach erweiterter Fassung in dem besonderen Landeinrichtungsgesetze vom
29. Mai (11. Juni) 1911 niedergelegt worden. Der Zweck dieser Bestimmungen
war, die Ausscheidung des Sonderbesitzes aus dem Gemeindeland, die Schaffung
selbständiger, wohlarrondierter Bauernhöfe, die Eröffnung einer neuen Zukunft
für den russischen Bauernstand. Es wurde zur Erreichung dieses Zieles eine besondere
Landeinnchtungsorganisation (Bezirkskommissionen, Gouvernementskommissionen,
Komitee sür Landeinrichtungsangelegenheiten beim Landwirtschaftsministerium in
Se. Petersburg) geschaffen, der es oblag, die Absichten der Regierung auszuführen.
Das ist in knappen Zügen der wesentliche Inhalt der Gesetze und Ver¬
ordnungen, die die jüngsten agraren Reformen in Rußland eingeleitet haben.
Es würde zu weit führen, hier darzustellen, wie diese Gesetze und Verordnungen
im einzelnen durchgeführt wurden, wir müssen uns vielmehr auf eine summa¬
rische Übersicht über die bisherigen Erfolge der Reform beschränken.
Was ist erreicht worden? Blicken wir zunächst auf das Ergebnis der
Maßnahmen der Regierung, die sich an die Forderung: Mehr Bauernland!
Grenzboten IV 1912 3
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