Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Mensch und Technik

Zwei Zeitalter: das eine, für uns Deutsche wenigstens, ausdrückbar in
allen seinen geistigen Zügen und Empfindungen durch den Namen eines einzigen
Mannes, das andere nur verständlich, wenn man es erfaßt in seinen alles
Einzelne und Persönliche verschlingenden Massenerscheinungen.

Goethes Zeit, eine Zeit des frohen Nebeneinanders von Natur und Mensch.
Die Natur war dem Menschen nicht mehr das geheimnisvolle Wesen, bald Freund
und bald Feind, als das der Aberglaube von Jahrtausenden sie angesehen hatte,
aber auch noch nicht der unentbehrliche Diener, den zu bändigen und in seinem
Dienst festzuhalten, die nervenzerrüttende Aufgabe der Gegenwart scheint.

In das große, bunte Gewebe, in dem wir Menschen der Gegenwart allem
und jedem seinen unverrückbaren Platz zugewiesen haben, haben wir uns selbst
mitverwebt. Wir konnten nicht anders, denn wir haben die Weltkraft als solche
nicht bezwungen, nur an einzelne ihrer Erscheinungsformen haben wir uns
geklammert, wie ein kleines Tier, das sich von den Flügeln des Adlers mit in
die Lüfte nehmen läßt.

Unsere vermeintlichen Schöpfungen strahlen uns einen eigenen Geist ent¬
gegen, der tief in unser äußeres und inneres Leben eingegriffen hat. Wir sind
andere Menschen geworden. Die Nutzung der Natur in Maschinen und Apparaten
hat uns selbst in unserer Gesamtheit etwas von einer Maschine gegeben, in
einem ganz anderen Umfange, als es jemals vorher der Fall gewesen ist.

Eine weit zwingendere Bedeutung haben für uns Zeit und Ort, als
sie es für einen Menschen der Goethescher Zeit hatten. Tausend Dienste tut
uns die in unsere Wege geleitete Natur, aber sie tut sie nicht freiwillig; sie
will dazu angehalten sein; wie ein wohlgeregeltes Uhrwerk müssen wir uns
daher selber abrollen bei Tage und bei Nacht. Nicht mehr wacht hier und da
nur ein einzelner über der verschlafenen Stadt; für tausend Menschen ist die
Nacht zum Tage geworden, unzählige Arme regen sich in ihr. Die Maschinen
in den elektrischen Stationen singen, die Pumpen in den Wasserwerken stampfen,
es rollen die Züge an den Kammern vorbei, in denen wir schlafen, einteilt
senden die Telegraphen ihre Nachrichten unaufhörlich um den Erdball. Alle
diese Dinge, sie dienen uns, aber sie fordern auch unsere Dienste in Massen
und unerbittlicher Pünktlichkeit.

Das überspannte Herrengefühl des neunzehnten Jahrhunderts, das sich an
der mechanischen Meisterung der Naturkräfte fast zum Größenwahnstnn gesteigert
hatte, bricht in uns zusammen! Der Mensch des neunzehnten Jahrhunderts,
so groß er war, sein letztes Ziel war unerfüllbar und daher falsch. Hinter
keine der Grundfragen der Schöpfung sind wir gedrungen. Die Geheimnisse
des Lebens und des Schaffens liegen in den gleichen blauen Fernen, wie nur
jemals zuvor.

Damit kommt mit Riesenmacht der lange beiseite geschobene Gedanke
zurück: Natur und Mensch, keiner des anderen Herr, zwei Unterkräfte einer
und derselben Überkraft, in tausend Beziehungen zueinander gestellt, jeder kleiner


Mensch und Technik

Zwei Zeitalter: das eine, für uns Deutsche wenigstens, ausdrückbar in
allen seinen geistigen Zügen und Empfindungen durch den Namen eines einzigen
Mannes, das andere nur verständlich, wenn man es erfaßt in seinen alles
Einzelne und Persönliche verschlingenden Massenerscheinungen.

Goethes Zeit, eine Zeit des frohen Nebeneinanders von Natur und Mensch.
Die Natur war dem Menschen nicht mehr das geheimnisvolle Wesen, bald Freund
und bald Feind, als das der Aberglaube von Jahrtausenden sie angesehen hatte,
aber auch noch nicht der unentbehrliche Diener, den zu bändigen und in seinem
Dienst festzuhalten, die nervenzerrüttende Aufgabe der Gegenwart scheint.

In das große, bunte Gewebe, in dem wir Menschen der Gegenwart allem
und jedem seinen unverrückbaren Platz zugewiesen haben, haben wir uns selbst
mitverwebt. Wir konnten nicht anders, denn wir haben die Weltkraft als solche
nicht bezwungen, nur an einzelne ihrer Erscheinungsformen haben wir uns
geklammert, wie ein kleines Tier, das sich von den Flügeln des Adlers mit in
die Lüfte nehmen läßt.

Unsere vermeintlichen Schöpfungen strahlen uns einen eigenen Geist ent¬
gegen, der tief in unser äußeres und inneres Leben eingegriffen hat. Wir sind
andere Menschen geworden. Die Nutzung der Natur in Maschinen und Apparaten
hat uns selbst in unserer Gesamtheit etwas von einer Maschine gegeben, in
einem ganz anderen Umfange, als es jemals vorher der Fall gewesen ist.

Eine weit zwingendere Bedeutung haben für uns Zeit und Ort, als
sie es für einen Menschen der Goethescher Zeit hatten. Tausend Dienste tut
uns die in unsere Wege geleitete Natur, aber sie tut sie nicht freiwillig; sie
will dazu angehalten sein; wie ein wohlgeregeltes Uhrwerk müssen wir uns
daher selber abrollen bei Tage und bei Nacht. Nicht mehr wacht hier und da
nur ein einzelner über der verschlafenen Stadt; für tausend Menschen ist die
Nacht zum Tage geworden, unzählige Arme regen sich in ihr. Die Maschinen
in den elektrischen Stationen singen, die Pumpen in den Wasserwerken stampfen,
es rollen die Züge an den Kammern vorbei, in denen wir schlafen, einteilt
senden die Telegraphen ihre Nachrichten unaufhörlich um den Erdball. Alle
diese Dinge, sie dienen uns, aber sie fordern auch unsere Dienste in Massen
und unerbittlicher Pünktlichkeit.

Das überspannte Herrengefühl des neunzehnten Jahrhunderts, das sich an
der mechanischen Meisterung der Naturkräfte fast zum Größenwahnstnn gesteigert
hatte, bricht in uns zusammen! Der Mensch des neunzehnten Jahrhunderts,
so groß er war, sein letztes Ziel war unerfüllbar und daher falsch. Hinter
keine der Grundfragen der Schöpfung sind wir gedrungen. Die Geheimnisse
des Lebens und des Schaffens liegen in den gleichen blauen Fernen, wie nur
jemals zuvor.

Damit kommt mit Riesenmacht der lange beiseite geschobene Gedanke
zurück: Natur und Mensch, keiner des anderen Herr, zwei Unterkräfte einer
und derselben Überkraft, in tausend Beziehungen zueinander gestellt, jeder kleiner


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0282" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322684"/>
          <fw type="header" place="top"> Mensch und Technik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1333"> Zwei Zeitalter: das eine, für uns Deutsche wenigstens, ausdrückbar in<lb/>
allen seinen geistigen Zügen und Empfindungen durch den Namen eines einzigen<lb/>
Mannes, das andere nur verständlich, wenn man es erfaßt in seinen alles<lb/>
Einzelne und Persönliche verschlingenden Massenerscheinungen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1334"> Goethes Zeit, eine Zeit des frohen Nebeneinanders von Natur und Mensch.<lb/>
Die Natur war dem Menschen nicht mehr das geheimnisvolle Wesen, bald Freund<lb/>
und bald Feind, als das der Aberglaube von Jahrtausenden sie angesehen hatte,<lb/>
aber auch noch nicht der unentbehrliche Diener, den zu bändigen und in seinem<lb/>
Dienst festzuhalten, die nervenzerrüttende Aufgabe der Gegenwart scheint.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1335"> In das große, bunte Gewebe, in dem wir Menschen der Gegenwart allem<lb/>
und jedem seinen unverrückbaren Platz zugewiesen haben, haben wir uns selbst<lb/>
mitverwebt. Wir konnten nicht anders, denn wir haben die Weltkraft als solche<lb/>
nicht bezwungen, nur an einzelne ihrer Erscheinungsformen haben wir uns<lb/>
geklammert, wie ein kleines Tier, das sich von den Flügeln des Adlers mit in<lb/>
die Lüfte nehmen läßt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1336"> Unsere vermeintlichen Schöpfungen strahlen uns einen eigenen Geist ent¬<lb/>
gegen, der tief in unser äußeres und inneres Leben eingegriffen hat. Wir sind<lb/>
andere Menschen geworden. Die Nutzung der Natur in Maschinen und Apparaten<lb/>
hat uns selbst in unserer Gesamtheit etwas von einer Maschine gegeben, in<lb/>
einem ganz anderen Umfange, als es jemals vorher der Fall gewesen ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1337"> Eine weit zwingendere Bedeutung haben für uns Zeit und Ort, als<lb/>
sie es für einen Menschen der Goethescher Zeit hatten. Tausend Dienste tut<lb/>
uns die in unsere Wege geleitete Natur, aber sie tut sie nicht freiwillig; sie<lb/>
will dazu angehalten sein; wie ein wohlgeregeltes Uhrwerk müssen wir uns<lb/>
daher selber abrollen bei Tage und bei Nacht. Nicht mehr wacht hier und da<lb/>
nur ein einzelner über der verschlafenen Stadt; für tausend Menschen ist die<lb/>
Nacht zum Tage geworden, unzählige Arme regen sich in ihr. Die Maschinen<lb/>
in den elektrischen Stationen singen, die Pumpen in den Wasserwerken stampfen,<lb/>
es rollen die Züge an den Kammern vorbei, in denen wir schlafen, einteilt<lb/>
senden die Telegraphen ihre Nachrichten unaufhörlich um den Erdball. Alle<lb/>
diese Dinge, sie dienen uns, aber sie fordern auch unsere Dienste in Massen<lb/>
und unerbittlicher Pünktlichkeit.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1338"> Das überspannte Herrengefühl des neunzehnten Jahrhunderts, das sich an<lb/>
der mechanischen Meisterung der Naturkräfte fast zum Größenwahnstnn gesteigert<lb/>
hatte, bricht in uns zusammen! Der Mensch des neunzehnten Jahrhunderts,<lb/>
so groß er war, sein letztes Ziel war unerfüllbar und daher falsch. Hinter<lb/>
keine der Grundfragen der Schöpfung sind wir gedrungen. Die Geheimnisse<lb/>
des Lebens und des Schaffens liegen in den gleichen blauen Fernen, wie nur<lb/>
jemals zuvor.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1339" next="#ID_1340"> Damit kommt mit Riesenmacht der lange beiseite geschobene Gedanke<lb/>
zurück: Natur und Mensch, keiner des anderen Herr, zwei Unterkräfte einer<lb/>
und derselben Überkraft, in tausend Beziehungen zueinander gestellt, jeder kleiner</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0282] Mensch und Technik Zwei Zeitalter: das eine, für uns Deutsche wenigstens, ausdrückbar in allen seinen geistigen Zügen und Empfindungen durch den Namen eines einzigen Mannes, das andere nur verständlich, wenn man es erfaßt in seinen alles Einzelne und Persönliche verschlingenden Massenerscheinungen. Goethes Zeit, eine Zeit des frohen Nebeneinanders von Natur und Mensch. Die Natur war dem Menschen nicht mehr das geheimnisvolle Wesen, bald Freund und bald Feind, als das der Aberglaube von Jahrtausenden sie angesehen hatte, aber auch noch nicht der unentbehrliche Diener, den zu bändigen und in seinem Dienst festzuhalten, die nervenzerrüttende Aufgabe der Gegenwart scheint. In das große, bunte Gewebe, in dem wir Menschen der Gegenwart allem und jedem seinen unverrückbaren Platz zugewiesen haben, haben wir uns selbst mitverwebt. Wir konnten nicht anders, denn wir haben die Weltkraft als solche nicht bezwungen, nur an einzelne ihrer Erscheinungsformen haben wir uns geklammert, wie ein kleines Tier, das sich von den Flügeln des Adlers mit in die Lüfte nehmen läßt. Unsere vermeintlichen Schöpfungen strahlen uns einen eigenen Geist ent¬ gegen, der tief in unser äußeres und inneres Leben eingegriffen hat. Wir sind andere Menschen geworden. Die Nutzung der Natur in Maschinen und Apparaten hat uns selbst in unserer Gesamtheit etwas von einer Maschine gegeben, in einem ganz anderen Umfange, als es jemals vorher der Fall gewesen ist. Eine weit zwingendere Bedeutung haben für uns Zeit und Ort, als sie es für einen Menschen der Goethescher Zeit hatten. Tausend Dienste tut uns die in unsere Wege geleitete Natur, aber sie tut sie nicht freiwillig; sie will dazu angehalten sein; wie ein wohlgeregeltes Uhrwerk müssen wir uns daher selber abrollen bei Tage und bei Nacht. Nicht mehr wacht hier und da nur ein einzelner über der verschlafenen Stadt; für tausend Menschen ist die Nacht zum Tage geworden, unzählige Arme regen sich in ihr. Die Maschinen in den elektrischen Stationen singen, die Pumpen in den Wasserwerken stampfen, es rollen die Züge an den Kammern vorbei, in denen wir schlafen, einteilt senden die Telegraphen ihre Nachrichten unaufhörlich um den Erdball. Alle diese Dinge, sie dienen uns, aber sie fordern auch unsere Dienste in Massen und unerbittlicher Pünktlichkeit. Das überspannte Herrengefühl des neunzehnten Jahrhunderts, das sich an der mechanischen Meisterung der Naturkräfte fast zum Größenwahnstnn gesteigert hatte, bricht in uns zusammen! Der Mensch des neunzehnten Jahrhunderts, so groß er war, sein letztes Ziel war unerfüllbar und daher falsch. Hinter keine der Grundfragen der Schöpfung sind wir gedrungen. Die Geheimnisse des Lebens und des Schaffens liegen in den gleichen blauen Fernen, wie nur jemals zuvor. Damit kommt mit Riesenmacht der lange beiseite geschobene Gedanke zurück: Natur und Mensch, keiner des anderen Herr, zwei Unterkräfte einer und derselben Überkraft, in tausend Beziehungen zueinander gestellt, jeder kleiner

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/282
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/282>, abgerufen am 15.01.2025.