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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Im Anschluß an diese erste geordnete, nicht sporadisch unternommene
Kinderauswanderung nahmen auch andere Vereine die Auswanderung in ihre
Jugendfürsorge auf, z. B. Mr. Middlemore in Birmingham, The Manchester
and Salford Refuges und sehr bald auch Dr. Barnardo, "der Vater der
Niemandkinder".

Die ersten Jahre brachten in der Tat eitel Erfolg. Alles war des Lobes
voll, besonders Miß Rue, die am meisten mit der Öffentlichkeit arbeitete, erntete
ungeteilten Beifall. Indes, in jeder neuen Unternehmung, die sich erst eine
feste Operationsbasis selbst schaffen muß, sind Irrtum und Mißgriffe unver¬
meidlich. Das Prinzip war von Anfang an gut. Das was sich als ungenügend
oder mangelhaft in der Organisation herausstellte, wurde verbessert oder
abgeändert und man kann sagen, im allgemeinen vollzieht sich auch heute die
englische Kinderauswanderung in der durch die ersten Vereine, besonders durch
Miß Macpherson (deren Organisation noch heute besteht, während die Irrungen
und Wirrungen bei Miß Rue so verhängnisvoll wurden, daß ihre Arbeit die
Werits und Strerns Society der Kirche übernehmen mußte) erprobten Weise:
englische Erziehungsanstalt und kanadisches Heim, das den jungen Auswanderern
gleicherweise zum Empfang, zur Vermittelung ihrer Unterkunft in einer Familie
und als Zufluchtsort im Falle von Erkrankung, Wechsel der Pflegestelle und
anderem dient.

Erst in den letzten Jahren sind neue Ideen über Kinderauswanderung
aufgetaucht und in der Praxis versucht worden. Vor allem war es Mrs. Close,
die mit großer Begeisterung neue Gesichtspunkte vertrat. Im Interesse Englands
und des individuellen Kindes vertritt sie die Ansicht, daß die bisherige Gepflogenheit,
nur gesunde, leistungsfähige, vorwiegend ältere Kinder zu emigrieren, einerseits
den Nachwuchs in der Heimat kümmerlicher als notwendig macht, anderseits
zarten, schwächlichen Kindern die Vorteile einer Jugend in dem kräftigenden
Klima Kanadas und dem naturgemäßen Leben auf einer kanadischen Farm
versagt. Hier ausgleichend zu wirken ist Mrs. Close bestrebt. Die Emigration
schwächlicher Kinder muß aber natürlich unter anderen Bedingungen statt¬
finden als die übliche. Für ihre Unterbringung will sie in geeigneten
Gegenden eine Reihe von "Farmschools" errichten, in denen die Kinder neben
dem gewöhnlichen Schulunterricht mit den Dingen vertraut gemacht werden, die
sie später im kanadischen Leben brauchen: landwirtschaftliche Kenntnisse für die
Knaben, hauswirtschaftliche für die Mädchen. Um diesen Farmschulen das Odium
der Anstaltserziehung zu nehmen, sollen in jeder Farmschule nur zwölf bis
fünfzehn Kinder aufgenommen werden. Das spätere Verbleiben im Lande bleibt
freier Wahl überlassen. Auf Wunsch dürfen die Kinder auf Kosten des Vereins
nach England zurückkehren und dort einen Beruf ergreifen.

Mrs. Close, als reiche und großzügige Philantropin, verstand es, ihre Ideen
in die Praxis zu übersetzen. Sie fand bei der kanadischen Negierung reges
Interesse für ihren Plan, und in Neuschottland wurde ihr eine Farm von zwei


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Im Anschluß an diese erste geordnete, nicht sporadisch unternommene
Kinderauswanderung nahmen auch andere Vereine die Auswanderung in ihre
Jugendfürsorge auf, z. B. Mr. Middlemore in Birmingham, The Manchester
and Salford Refuges und sehr bald auch Dr. Barnardo, „der Vater der
Niemandkinder".

Die ersten Jahre brachten in der Tat eitel Erfolg. Alles war des Lobes
voll, besonders Miß Rue, die am meisten mit der Öffentlichkeit arbeitete, erntete
ungeteilten Beifall. Indes, in jeder neuen Unternehmung, die sich erst eine
feste Operationsbasis selbst schaffen muß, sind Irrtum und Mißgriffe unver¬
meidlich. Das Prinzip war von Anfang an gut. Das was sich als ungenügend
oder mangelhaft in der Organisation herausstellte, wurde verbessert oder
abgeändert und man kann sagen, im allgemeinen vollzieht sich auch heute die
englische Kinderauswanderung in der durch die ersten Vereine, besonders durch
Miß Macpherson (deren Organisation noch heute besteht, während die Irrungen
und Wirrungen bei Miß Rue so verhängnisvoll wurden, daß ihre Arbeit die
Werits und Strerns Society der Kirche übernehmen mußte) erprobten Weise:
englische Erziehungsanstalt und kanadisches Heim, das den jungen Auswanderern
gleicherweise zum Empfang, zur Vermittelung ihrer Unterkunft in einer Familie
und als Zufluchtsort im Falle von Erkrankung, Wechsel der Pflegestelle und
anderem dient.

Erst in den letzten Jahren sind neue Ideen über Kinderauswanderung
aufgetaucht und in der Praxis versucht worden. Vor allem war es Mrs. Close,
die mit großer Begeisterung neue Gesichtspunkte vertrat. Im Interesse Englands
und des individuellen Kindes vertritt sie die Ansicht, daß die bisherige Gepflogenheit,
nur gesunde, leistungsfähige, vorwiegend ältere Kinder zu emigrieren, einerseits
den Nachwuchs in der Heimat kümmerlicher als notwendig macht, anderseits
zarten, schwächlichen Kindern die Vorteile einer Jugend in dem kräftigenden
Klima Kanadas und dem naturgemäßen Leben auf einer kanadischen Farm
versagt. Hier ausgleichend zu wirken ist Mrs. Close bestrebt. Die Emigration
schwächlicher Kinder muß aber natürlich unter anderen Bedingungen statt¬
finden als die übliche. Für ihre Unterbringung will sie in geeigneten
Gegenden eine Reihe von „Farmschools" errichten, in denen die Kinder neben
dem gewöhnlichen Schulunterricht mit den Dingen vertraut gemacht werden, die
sie später im kanadischen Leben brauchen: landwirtschaftliche Kenntnisse für die
Knaben, hauswirtschaftliche für die Mädchen. Um diesen Farmschulen das Odium
der Anstaltserziehung zu nehmen, sollen in jeder Farmschule nur zwölf bis
fünfzehn Kinder aufgenommen werden. Das spätere Verbleiben im Lande bleibt
freier Wahl überlassen. Auf Wunsch dürfen die Kinder auf Kosten des Vereins
nach England zurückkehren und dort einen Beruf ergreifen.

Mrs. Close, als reiche und großzügige Philantropin, verstand es, ihre Ideen
in die Praxis zu übersetzen. Sie fand bei der kanadischen Negierung reges
Interesse für ihren Plan, und in Neuschottland wurde ihr eine Farm von zwei


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[0271] Uinderausivcmdernng aus Lnglcmd Im Anschluß an diese erste geordnete, nicht sporadisch unternommene Kinderauswanderung nahmen auch andere Vereine die Auswanderung in ihre Jugendfürsorge auf, z. B. Mr. Middlemore in Birmingham, The Manchester and Salford Refuges und sehr bald auch Dr. Barnardo, „der Vater der Niemandkinder". Die ersten Jahre brachten in der Tat eitel Erfolg. Alles war des Lobes voll, besonders Miß Rue, die am meisten mit der Öffentlichkeit arbeitete, erntete ungeteilten Beifall. Indes, in jeder neuen Unternehmung, die sich erst eine feste Operationsbasis selbst schaffen muß, sind Irrtum und Mißgriffe unver¬ meidlich. Das Prinzip war von Anfang an gut. Das was sich als ungenügend oder mangelhaft in der Organisation herausstellte, wurde verbessert oder abgeändert und man kann sagen, im allgemeinen vollzieht sich auch heute die englische Kinderauswanderung in der durch die ersten Vereine, besonders durch Miß Macpherson (deren Organisation noch heute besteht, während die Irrungen und Wirrungen bei Miß Rue so verhängnisvoll wurden, daß ihre Arbeit die Werits und Strerns Society der Kirche übernehmen mußte) erprobten Weise: englische Erziehungsanstalt und kanadisches Heim, das den jungen Auswanderern gleicherweise zum Empfang, zur Vermittelung ihrer Unterkunft in einer Familie und als Zufluchtsort im Falle von Erkrankung, Wechsel der Pflegestelle und anderem dient. Erst in den letzten Jahren sind neue Ideen über Kinderauswanderung aufgetaucht und in der Praxis versucht worden. Vor allem war es Mrs. Close, die mit großer Begeisterung neue Gesichtspunkte vertrat. Im Interesse Englands und des individuellen Kindes vertritt sie die Ansicht, daß die bisherige Gepflogenheit, nur gesunde, leistungsfähige, vorwiegend ältere Kinder zu emigrieren, einerseits den Nachwuchs in der Heimat kümmerlicher als notwendig macht, anderseits zarten, schwächlichen Kindern die Vorteile einer Jugend in dem kräftigenden Klima Kanadas und dem naturgemäßen Leben auf einer kanadischen Farm versagt. Hier ausgleichend zu wirken ist Mrs. Close bestrebt. Die Emigration schwächlicher Kinder muß aber natürlich unter anderen Bedingungen statt¬ finden als die übliche. Für ihre Unterbringung will sie in geeigneten Gegenden eine Reihe von „Farmschools" errichten, in denen die Kinder neben dem gewöhnlichen Schulunterricht mit den Dingen vertraut gemacht werden, die sie später im kanadischen Leben brauchen: landwirtschaftliche Kenntnisse für die Knaben, hauswirtschaftliche für die Mädchen. Um diesen Farmschulen das Odium der Anstaltserziehung zu nehmen, sollen in jeder Farmschule nur zwölf bis fünfzehn Kinder aufgenommen werden. Das spätere Verbleiben im Lande bleibt freier Wahl überlassen. Auf Wunsch dürfen die Kinder auf Kosten des Vereins nach England zurückkehren und dort einen Beruf ergreifen. Mrs. Close, als reiche und großzügige Philantropin, verstand es, ihre Ideen in die Praxis zu übersetzen. Sie fand bei der kanadischen Negierung reges Interesse für ihren Plan, und in Neuschottland wurde ihr eine Farm von zwei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/271>, abgerufen am 15.01.2025.