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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Agrare Reformen in Rußland

lichen Verhältnisse von dem Bestreben leiten, den Bauern "mehr Land" zu
schaffen.

Die erste Gruppe von Maßnahmen setzte sich aus den folgenden Vorgängen
zusammen:

1. Ein Allerhöchster Befehl vom 3. (16.) November 1905 gab der Bauern¬
agrarbank auf, in weitergehenden Maße als bisher private Ländereien aus¬
zulaufen, zu parzellieren und den Bauern weiter zu verkaufen. Mit diesem
Ukas trug die Negierung zugleich den innerpolitischen Verhältnissen Rußlands
zu jener Zeit Rechnung. Die Bauernbewegung von 1905/06, die sich teilweise
zu einem förmlichen Bauernkriege auswuchs, hatte viele Gutsbesitzer veranlaßt,
sich ihrer Liegenschaften durch Verkauf zu entäußern. Dem ungeheuren Angebot
von Land -- es betrug in der Zeit vom 1. November 1905 bis 31. Dezember
1906 nicht weniger als 8742825 Dessjätinen, während im Durchschnitt der
vorhergehenden zehn Jahre jährlich etwa 500000 Dessjätinen angeboten wurden
-- stand nur eine geringe Nachfrage gegenüber, so daß die Möglichkeit gegeben
war, unlautere Elemente (Wucherer, Güterschlächter usw.) könnten versuchen,
diese Verhältnisse sür sich auszunutzen, das Land billig auszulaufen, um es nach
Wiedereintritt normaler Verhältnisse an die Bauern zu (sür diese) ungünstigen
Bedingungen wieder zu veräußern. Um dem vorzubeugen, wurde die Bauern¬
agrarbank beauftragt, zum Vorteile der Bauern, aber auch zum Nutzen der
verkaufenden Gutsbesitzer in die anormalen Zustünde einzugreifen.

2. Ein Ukas vom selben Tage -- 3. (16.) November 1905 -- bereitete
die Abschaffung der Ablösungssteuern vor, dergestalt, daß der Bauernschaft zu-
nächst die Hälfte desjenigen Teiles der Loskaufszahlung (siehe oben), der noch nicht
entrichtet worden war, erlassen wurde. Später, Anfang 1907, ist die Abzahlung
der bis dahin noch nicht amortisierten Loskausszahlung ganz erlassen worden.
Durch diese Maßnahme wurde der gesamten Bauernschaft eine ganz beträcht¬
liche, sie außerordentlich drückende Schuldenlast von den Schultern genommen,
und unzweifelhaft hat sie die Bauern äußerst wohltätig berührt und ihre Lage
erleichtert. Von manchen Seiten (vgl. z. B. Schilder, "Entwicklungstendenzen
der Weltwirtschaft". Franz Siemenroth, Berlin 1912, Bd. I. S. 44) wird der
Erlaß dieser "Steuer", die in manchen Gouvernements den Reinertrag des
bäuerlichen Betriebes überstiegen haben soll und deren Eintreibung nach der
Ernte die Bauern zwang, ihre Erträgnisse so bald wie möglich zu veräußern,
"als eine der segensreichsten Folgen der großen russischen Revolution" angesehen.

3. Durch zwei Allerhöchste Befehle vom 12. (25.) August und 27. August
(9. September) 1906 wurden die Apanagenverwaltung und die Verwaltung der
Domänen angewiesen, landwirtschaftliche Ländereien und Teile des Waldlandes
an die Bauern, teils durch Vermittlung der Bauernagrarbank, teils direkt an
sie zu verkaufen.

4. Durch ein Gesetz vom 15. (28.) November 1906 wurde die Verpfändung
Von Anteilsland an die Bauernagrarbank zugelassen. Diese Maßnahme hatte


Agrare Reformen in Rußland

lichen Verhältnisse von dem Bestreben leiten, den Bauern „mehr Land" zu
schaffen.

Die erste Gruppe von Maßnahmen setzte sich aus den folgenden Vorgängen
zusammen:

1. Ein Allerhöchster Befehl vom 3. (16.) November 1905 gab der Bauern¬
agrarbank auf, in weitergehenden Maße als bisher private Ländereien aus¬
zulaufen, zu parzellieren und den Bauern weiter zu verkaufen. Mit diesem
Ukas trug die Negierung zugleich den innerpolitischen Verhältnissen Rußlands
zu jener Zeit Rechnung. Die Bauernbewegung von 1905/06, die sich teilweise
zu einem förmlichen Bauernkriege auswuchs, hatte viele Gutsbesitzer veranlaßt,
sich ihrer Liegenschaften durch Verkauf zu entäußern. Dem ungeheuren Angebot
von Land — es betrug in der Zeit vom 1. November 1905 bis 31. Dezember
1906 nicht weniger als 8742825 Dessjätinen, während im Durchschnitt der
vorhergehenden zehn Jahre jährlich etwa 500000 Dessjätinen angeboten wurden
— stand nur eine geringe Nachfrage gegenüber, so daß die Möglichkeit gegeben
war, unlautere Elemente (Wucherer, Güterschlächter usw.) könnten versuchen,
diese Verhältnisse sür sich auszunutzen, das Land billig auszulaufen, um es nach
Wiedereintritt normaler Verhältnisse an die Bauern zu (sür diese) ungünstigen
Bedingungen wieder zu veräußern. Um dem vorzubeugen, wurde die Bauern¬
agrarbank beauftragt, zum Vorteile der Bauern, aber auch zum Nutzen der
verkaufenden Gutsbesitzer in die anormalen Zustünde einzugreifen.

2. Ein Ukas vom selben Tage — 3. (16.) November 1905 — bereitete
die Abschaffung der Ablösungssteuern vor, dergestalt, daß der Bauernschaft zu-
nächst die Hälfte desjenigen Teiles der Loskaufszahlung (siehe oben), der noch nicht
entrichtet worden war, erlassen wurde. Später, Anfang 1907, ist die Abzahlung
der bis dahin noch nicht amortisierten Loskausszahlung ganz erlassen worden.
Durch diese Maßnahme wurde der gesamten Bauernschaft eine ganz beträcht¬
liche, sie außerordentlich drückende Schuldenlast von den Schultern genommen,
und unzweifelhaft hat sie die Bauern äußerst wohltätig berührt und ihre Lage
erleichtert. Von manchen Seiten (vgl. z. B. Schilder, „Entwicklungstendenzen
der Weltwirtschaft". Franz Siemenroth, Berlin 1912, Bd. I. S. 44) wird der
Erlaß dieser „Steuer", die in manchen Gouvernements den Reinertrag des
bäuerlichen Betriebes überstiegen haben soll und deren Eintreibung nach der
Ernte die Bauern zwang, ihre Erträgnisse so bald wie möglich zu veräußern,
„als eine der segensreichsten Folgen der großen russischen Revolution" angesehen.

3. Durch zwei Allerhöchste Befehle vom 12. (25.) August und 27. August
(9. September) 1906 wurden die Apanagenverwaltung und die Verwaltung der
Domänen angewiesen, landwirtschaftliche Ländereien und Teile des Waldlandes
an die Bauern, teils durch Vermittlung der Bauernagrarbank, teils direkt an
sie zu verkaufen.

4. Durch ein Gesetz vom 15. (28.) November 1906 wurde die Verpfändung
Von Anteilsland an die Bauernagrarbank zugelassen. Diese Maßnahme hatte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/27>, abgerufen am 15.01.2025.