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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Agrare Reformen in Rußland

agrarbank geführt, deren Aufgabe es sein sollte, den Verkauf von Land an die
Bauern zu vermitteln. Dieselbe Überzeugung beherrschte mehr als zwanzig
Jahre später (1905/06) auch jene Bauern, die mit Sense, Knüttel und Feuer¬
zeug auszogen, um dem Gutsbesitzer den roten Hahn aufs Dach zu setzen und
sich in den Besitz seiner Ländereien zu bringen. "Beseitigung des Landhungers"
war auch die Parole, unter der die bäuerlichen Abgeordneten sich in die erste
Reichsduma wählen ließen. Und diese erste, am 17. (30.) Oktober 1905 ins
Leben gerufene russische Volksvertretung selbst war von den angeblich alles
auflösenden Wirkungen des Landmangels so durchaus durchdrungen, daß sie in
die Adresse, mit der sie die Eröffnungsthronrede des Zaren beantwortete, die
Sätze aufnahm: "Die Klarstellung der Bedürfnisse der Landbevölkerung und
entsprechende gesetzgeberische Maßnahmen bilden die nächste Aufgabe der Duma.
Die bäuerische Bevölkerung harrt ungeduldig auf Befriedigung der Agrar-
bedürfnisse. Die erste Neichsduma würde nicht ihre Pflicht erfüllen, wenn sie
nicht ein Gesetz schüfe zur Befriedigung dieser Bedürfnisse mit Hilfe der Staats-,
Apanagen- und Klosterländereien und durch zwangsweise Enteignung des Land¬
grundbesitzes." Die Frage, wie schaffen wir den Bauern Land, war auch in
der Folge eine der Kardinalfragen, mit denen sich die erste Duma beschäftigte;
sie sollte an diesem Problem scheitern. Die von den Volksvertretern erhobenen
gesetzwidrigen und willkürlichen Forderungen hinsichtlich der Zwangsenteignung
beantwortete der Zar mit dem Auflösungsmanifest vom 8. (21.) Juli 1906, in
dem sich die Worte finden: "Der russische Bauer wird ohne fremdes Eigentum
anzutasten, da wo die ländlichen Besitzungen zu klein sind, ein gesetzliches Recht,
ein gesetzliches rechtschaffenes Mittel erhalten, um seinen Landbesitz zu erweitern."
Die Einberufung der zweiten Duma wurde auf den 5. (18.) März 1907 fest¬
gesetzt; auch diese wollte die Agrarfrage unter dem Zeichen des Landmangels
lösen. In uferlosen Debatten wurde die Angelegenheit erörtert, Behauptungen,
denen jede stichhaltige Begründung fehlte, wurden aufgestellt, jeder Logik bare
Vorschläge wurden gemacht, aber etwas Entscheidendes und Durchführbares
wurde nicht zutage gefördert. Im übrigen hatte die zweite Duma eine fast
ebenso kurze Lebensdauer als ihre Vorgängerin; nach drei Monaten wurde sie
aufgelöst.

Inzwischen hatte die Regierung seit geraumer Weile unmittelbar in die
Agrarfrage eingegriffen. Daß in einem gewissen Umfange Landmangel herrschte,
mag zugegeben werden, da in der Tat die bäuerliche Bevölkerung weit mehr
als das den Bauern zur Verfügung stehende Anteilsland und die von ihnen
durch Kauf erworbenen Ländereien gewachsen war. Aber daß der Landhunger
gewaltig überschätzt oder nicht richtig gewürdigt wurde, ergiebt sich aus der
Tatsache, daß 1905 -- zu Beginn der Reformen -- der Landanteil von nur
23 Prozent der bäuerlichen Wirtschaften geringer als 5 Dessjätinen war,
während 77 Prozent mehr als 5 Dessjätinen bearbeiteten. Immerhin -- auch
die Negierung ließ sich bei ihren ersten Maßnahmen zur Hebung der dauer-


Agrare Reformen in Rußland

agrarbank geführt, deren Aufgabe es sein sollte, den Verkauf von Land an die
Bauern zu vermitteln. Dieselbe Überzeugung beherrschte mehr als zwanzig
Jahre später (1905/06) auch jene Bauern, die mit Sense, Knüttel und Feuer¬
zeug auszogen, um dem Gutsbesitzer den roten Hahn aufs Dach zu setzen und
sich in den Besitz seiner Ländereien zu bringen. „Beseitigung des Landhungers"
war auch die Parole, unter der die bäuerlichen Abgeordneten sich in die erste
Reichsduma wählen ließen. Und diese erste, am 17. (30.) Oktober 1905 ins
Leben gerufene russische Volksvertretung selbst war von den angeblich alles
auflösenden Wirkungen des Landmangels so durchaus durchdrungen, daß sie in
die Adresse, mit der sie die Eröffnungsthronrede des Zaren beantwortete, die
Sätze aufnahm: „Die Klarstellung der Bedürfnisse der Landbevölkerung und
entsprechende gesetzgeberische Maßnahmen bilden die nächste Aufgabe der Duma.
Die bäuerische Bevölkerung harrt ungeduldig auf Befriedigung der Agrar-
bedürfnisse. Die erste Neichsduma würde nicht ihre Pflicht erfüllen, wenn sie
nicht ein Gesetz schüfe zur Befriedigung dieser Bedürfnisse mit Hilfe der Staats-,
Apanagen- und Klosterländereien und durch zwangsweise Enteignung des Land¬
grundbesitzes." Die Frage, wie schaffen wir den Bauern Land, war auch in
der Folge eine der Kardinalfragen, mit denen sich die erste Duma beschäftigte;
sie sollte an diesem Problem scheitern. Die von den Volksvertretern erhobenen
gesetzwidrigen und willkürlichen Forderungen hinsichtlich der Zwangsenteignung
beantwortete der Zar mit dem Auflösungsmanifest vom 8. (21.) Juli 1906, in
dem sich die Worte finden: „Der russische Bauer wird ohne fremdes Eigentum
anzutasten, da wo die ländlichen Besitzungen zu klein sind, ein gesetzliches Recht,
ein gesetzliches rechtschaffenes Mittel erhalten, um seinen Landbesitz zu erweitern."
Die Einberufung der zweiten Duma wurde auf den 5. (18.) März 1907 fest¬
gesetzt; auch diese wollte die Agrarfrage unter dem Zeichen des Landmangels
lösen. In uferlosen Debatten wurde die Angelegenheit erörtert, Behauptungen,
denen jede stichhaltige Begründung fehlte, wurden aufgestellt, jeder Logik bare
Vorschläge wurden gemacht, aber etwas Entscheidendes und Durchführbares
wurde nicht zutage gefördert. Im übrigen hatte die zweite Duma eine fast
ebenso kurze Lebensdauer als ihre Vorgängerin; nach drei Monaten wurde sie
aufgelöst.

Inzwischen hatte die Regierung seit geraumer Weile unmittelbar in die
Agrarfrage eingegriffen. Daß in einem gewissen Umfange Landmangel herrschte,
mag zugegeben werden, da in der Tat die bäuerliche Bevölkerung weit mehr
als das den Bauern zur Verfügung stehende Anteilsland und die von ihnen
durch Kauf erworbenen Ländereien gewachsen war. Aber daß der Landhunger
gewaltig überschätzt oder nicht richtig gewürdigt wurde, ergiebt sich aus der
Tatsache, daß 1905 — zu Beginn der Reformen — der Landanteil von nur
23 Prozent der bäuerlichen Wirtschaften geringer als 5 Dessjätinen war,
während 77 Prozent mehr als 5 Dessjätinen bearbeiteten. Immerhin — auch
die Negierung ließ sich bei ihren ersten Maßnahmen zur Hebung der dauer-


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[0026] Agrare Reformen in Rußland agrarbank geführt, deren Aufgabe es sein sollte, den Verkauf von Land an die Bauern zu vermitteln. Dieselbe Überzeugung beherrschte mehr als zwanzig Jahre später (1905/06) auch jene Bauern, die mit Sense, Knüttel und Feuer¬ zeug auszogen, um dem Gutsbesitzer den roten Hahn aufs Dach zu setzen und sich in den Besitz seiner Ländereien zu bringen. „Beseitigung des Landhungers" war auch die Parole, unter der die bäuerlichen Abgeordneten sich in die erste Reichsduma wählen ließen. Und diese erste, am 17. (30.) Oktober 1905 ins Leben gerufene russische Volksvertretung selbst war von den angeblich alles auflösenden Wirkungen des Landmangels so durchaus durchdrungen, daß sie in die Adresse, mit der sie die Eröffnungsthronrede des Zaren beantwortete, die Sätze aufnahm: „Die Klarstellung der Bedürfnisse der Landbevölkerung und entsprechende gesetzgeberische Maßnahmen bilden die nächste Aufgabe der Duma. Die bäuerische Bevölkerung harrt ungeduldig auf Befriedigung der Agrar- bedürfnisse. Die erste Neichsduma würde nicht ihre Pflicht erfüllen, wenn sie nicht ein Gesetz schüfe zur Befriedigung dieser Bedürfnisse mit Hilfe der Staats-, Apanagen- und Klosterländereien und durch zwangsweise Enteignung des Land¬ grundbesitzes." Die Frage, wie schaffen wir den Bauern Land, war auch in der Folge eine der Kardinalfragen, mit denen sich die erste Duma beschäftigte; sie sollte an diesem Problem scheitern. Die von den Volksvertretern erhobenen gesetzwidrigen und willkürlichen Forderungen hinsichtlich der Zwangsenteignung beantwortete der Zar mit dem Auflösungsmanifest vom 8. (21.) Juli 1906, in dem sich die Worte finden: „Der russische Bauer wird ohne fremdes Eigentum anzutasten, da wo die ländlichen Besitzungen zu klein sind, ein gesetzliches Recht, ein gesetzliches rechtschaffenes Mittel erhalten, um seinen Landbesitz zu erweitern." Die Einberufung der zweiten Duma wurde auf den 5. (18.) März 1907 fest¬ gesetzt; auch diese wollte die Agrarfrage unter dem Zeichen des Landmangels lösen. In uferlosen Debatten wurde die Angelegenheit erörtert, Behauptungen, denen jede stichhaltige Begründung fehlte, wurden aufgestellt, jeder Logik bare Vorschläge wurden gemacht, aber etwas Entscheidendes und Durchführbares wurde nicht zutage gefördert. Im übrigen hatte die zweite Duma eine fast ebenso kurze Lebensdauer als ihre Vorgängerin; nach drei Monaten wurde sie aufgelöst. Inzwischen hatte die Regierung seit geraumer Weile unmittelbar in die Agrarfrage eingegriffen. Daß in einem gewissen Umfange Landmangel herrschte, mag zugegeben werden, da in der Tat die bäuerliche Bevölkerung weit mehr als das den Bauern zur Verfügung stehende Anteilsland und die von ihnen durch Kauf erworbenen Ländereien gewachsen war. Aber daß der Landhunger gewaltig überschätzt oder nicht richtig gewürdigt wurde, ergiebt sich aus der Tatsache, daß 1905 — zu Beginn der Reformen — der Landanteil von nur 23 Prozent der bäuerlichen Wirtschaften geringer als 5 Dessjätinen war, während 77 Prozent mehr als 5 Dessjätinen bearbeiteten. Immerhin — auch die Negierung ließ sich bei ihren ersten Maßnahmen zur Hebung der dauer-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/26>, abgerufen am 15.01.2025.