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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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rufum Wissenschaft ganz neue Bahnen ge¬
wiesen, welche weit ab führten von der bis
dahin beliebten rein mechanischen Beschreibung
rhythmischer Formen.

Dieser Zug ins Große, der immer all¬
gemeinen Gesetzen und Prinzipien zustrebte,
paarte sich bei Minor sehr Wohl mit jener
peinlichen Feinfühligkeit, mit welcher der
Philologe auch die kleinsten Details mühe¬
voller Forschung als wertvoll erachtet, solange
auch nur ein Schatten der Unklarheit reine und
volle Erkenntnis hindert. Als einen Diener
am Wort hat er sich selbst bezeichnet und
seinen philologischen Scharfsinn vereint mit der
ihm eigenen Gabe poetischen Nachempfindens
in seinem großen Faustkommentar erprobt.

Aber bei aller Vertiefung in seine fach¬
wissenschaftlichen Studien hat Minor niemals
die Fühlung mit dem Leben verloren. Er
war auch der Literarhistoriker der Gegenwart,
-- wenn der Ausdruck erlaubt ist -- der
allen Erscheinungen der Bühne und der Lite¬
ratur des Tages das lebhafteste Interesse
entgegenbrachte. So besitzen wir von ihm
mehrere Schauspielerporträts aus der klassi¬
schen Zeit des Wiener Burgtheaters, Meister¬
stücke der Charakterisierungskunst; bis in die
letzte Zeit war er als Burgtheater-Rezensent
für die Osterreichische Rundschau tätig, und
in zahlreichen Zeitungsartikeln hat er zu
literarischen Tagesfragen aller Art mit der
ihm eigenen lebendigen Kraft ein entschiedenes
Wort geäußert.

Der Gelehrte Minor ist in seinen Schriften
der Allgemeinheit zugänglich, und was er
geschaffen, wird bleiben. Anders der Mensch:
viele haben ihn gekannt -- viel mehr hätten
ihn kennen müssen; und unvergessen wird er
immer denen sein, die sich rühmen dürfen,
seine Schüler gewesen zu sein. Man brauchte
nur einmal seine Vorlesung zu besuchen, um
sein warmfühlcndes, aufrichtiger Empfindung
volles Herz kennen zu lernen. Er Pflegte
sich so in seinen Gegenstand zu vertiefen, daß
er von dem Blatt, auf dem die Borlesungs¬
materie nur in Schlagworten skizziert war,
kaum aufzuschauen Pflegte. Er sprach nicht
eigentlich zu seinen Hörern, dennoch fehlte
nicht der Kontakt. Denn in seiner Stimme
lebte es, das innere Pathos, welches den
Freimut der Gesinnung mit männlicher Kraft

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und menschliches Mitgefühl mit aus dem
Innersten bewegter Stimme unwillkürlich
zum Ausdruck brachte. Sprach er etwa von
Lessing, konnte er seinem modulationsfähigen
Organ Töne von Erz entlocken, wenn er den
Kämpfer Lessing schilderte, und seine Stimme
vibrierte von mühsam verhaltener innerer
Erregung, wenn er sein jähes Ende berührte.
Und diese Wirkung wurde ohne die billigen
Mittel der gerade bei Literarhistorikern nicht
selten beliebten blendenden Phrase erreicht.
Seine Vorlesungen trugen ebenso wie seine
Schriften immer den Stempel der strengsten
Sachlichkeit, ein Exzerpt davon anzufertigen
wäre eine schwierige, vielleicht unmögliche
Aufgabe gewesen; eS gab schlechthin nichts
Unwichtiges, keine überflüssigen Bemerkungen,
keine wortreichen Phrasieruugen, Minor
machte keine Konzessionen, auch nicht an die
Schöngeister. Immer steuerte er gerade auf
sein Ziel zu, immer nannte er das Kind
beim rechten Namen. Diese Aufrichtigkeit
seines Wesens und die Geradheit seines
Charakters haben denn auch seinem Wirken
ihr klares Gepräge aufgedrückt: er war ein
Professor im ursprünglichen, schönen Sinne
dieses Wortes.

Unvergeßlich wird der Eindruck bleiben,
den seine Festrede am Schillergedenktage des
Jahres 190S auf die Versammelten machte,
als er mit den Worten des "Unser Vater"
in weihevoller Stunde den Sieg des lichten
Dichtergenius, der immer sein Leitstern ge¬
wesen war, auf seine Vaterstadt herabflehte.
Dem Rückblickenden klingt es nach wie ein
Vermächtnis -- er konnte kein besseres hinter¬
Max Lederer lassen.

Musik

Wiener Lieder und Tänze. (Heraus¬
gegeben von Eduard Kreuser, Verlag Gerlach
u. Wiedling, Wien und Leipzig. Preis M. 16.)

Wie Gras und Blumen zwischen Steinen,
so wächst auf dem Wiener Boden das Volks¬
lied hervor. Es ist bodenbeständiges Eigen¬
gewächs wie der Wein, der rund um Wien
blüht. Es gibt kaum mehr einen anderen
Punkt in der Welt, wo der Volksgesang so
unmittelbar und echt aus der Empfindungs¬
weise der Bevölkerung hervorquillt, geradezu
unerschöpflich, wie gerade in der Wiener

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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rufum Wissenschaft ganz neue Bahnen ge¬
wiesen, welche weit ab führten von der bis
dahin beliebten rein mechanischen Beschreibung
rhythmischer Formen.

Dieser Zug ins Große, der immer all¬
gemeinen Gesetzen und Prinzipien zustrebte,
paarte sich bei Minor sehr Wohl mit jener
peinlichen Feinfühligkeit, mit welcher der
Philologe auch die kleinsten Details mühe¬
voller Forschung als wertvoll erachtet, solange
auch nur ein Schatten der Unklarheit reine und
volle Erkenntnis hindert. Als einen Diener
am Wort hat er sich selbst bezeichnet und
seinen philologischen Scharfsinn vereint mit der
ihm eigenen Gabe poetischen Nachempfindens
in seinem großen Faustkommentar erprobt.

Aber bei aller Vertiefung in seine fach¬
wissenschaftlichen Studien hat Minor niemals
die Fühlung mit dem Leben verloren. Er
war auch der Literarhistoriker der Gegenwart,
— wenn der Ausdruck erlaubt ist — der
allen Erscheinungen der Bühne und der Lite¬
ratur des Tages das lebhafteste Interesse
entgegenbrachte. So besitzen wir von ihm
mehrere Schauspielerporträts aus der klassi¬
schen Zeit des Wiener Burgtheaters, Meister¬
stücke der Charakterisierungskunst; bis in die
letzte Zeit war er als Burgtheater-Rezensent
für die Osterreichische Rundschau tätig, und
in zahlreichen Zeitungsartikeln hat er zu
literarischen Tagesfragen aller Art mit der
ihm eigenen lebendigen Kraft ein entschiedenes
Wort geäußert.

Der Gelehrte Minor ist in seinen Schriften
der Allgemeinheit zugänglich, und was er
geschaffen, wird bleiben. Anders der Mensch:
viele haben ihn gekannt — viel mehr hätten
ihn kennen müssen; und unvergessen wird er
immer denen sein, die sich rühmen dürfen,
seine Schüler gewesen zu sein. Man brauchte
nur einmal seine Vorlesung zu besuchen, um
sein warmfühlcndes, aufrichtiger Empfindung
volles Herz kennen zu lernen. Er Pflegte
sich so in seinen Gegenstand zu vertiefen, daß
er von dem Blatt, auf dem die Borlesungs¬
materie nur in Schlagworten skizziert war,
kaum aufzuschauen Pflegte. Er sprach nicht
eigentlich zu seinen Hörern, dennoch fehlte
nicht der Kontakt. Denn in seiner Stimme
lebte es, das innere Pathos, welches den
Freimut der Gesinnung mit männlicher Kraft

[Spaltenumbruch]

und menschliches Mitgefühl mit aus dem
Innersten bewegter Stimme unwillkürlich
zum Ausdruck brachte. Sprach er etwa von
Lessing, konnte er seinem modulationsfähigen
Organ Töne von Erz entlocken, wenn er den
Kämpfer Lessing schilderte, und seine Stimme
vibrierte von mühsam verhaltener innerer
Erregung, wenn er sein jähes Ende berührte.
Und diese Wirkung wurde ohne die billigen
Mittel der gerade bei Literarhistorikern nicht
selten beliebten blendenden Phrase erreicht.
Seine Vorlesungen trugen ebenso wie seine
Schriften immer den Stempel der strengsten
Sachlichkeit, ein Exzerpt davon anzufertigen
wäre eine schwierige, vielleicht unmögliche
Aufgabe gewesen; eS gab schlechthin nichts
Unwichtiges, keine überflüssigen Bemerkungen,
keine wortreichen Phrasieruugen, Minor
machte keine Konzessionen, auch nicht an die
Schöngeister. Immer steuerte er gerade auf
sein Ziel zu, immer nannte er das Kind
beim rechten Namen. Diese Aufrichtigkeit
seines Wesens und die Geradheit seines
Charakters haben denn auch seinem Wirken
ihr klares Gepräge aufgedrückt: er war ein
Professor im ursprünglichen, schönen Sinne
dieses Wortes.

Unvergeßlich wird der Eindruck bleiben,
den seine Festrede am Schillergedenktage des
Jahres 190S auf die Versammelten machte,
als er mit den Worten des „Unser Vater"
in weihevoller Stunde den Sieg des lichten
Dichtergenius, der immer sein Leitstern ge¬
wesen war, auf seine Vaterstadt herabflehte.
Dem Rückblickenden klingt es nach wie ein
Vermächtnis — er konnte kein besseres hinter¬
Max Lederer lassen.

Musik

Wiener Lieder und Tänze. (Heraus¬
gegeben von Eduard Kreuser, Verlag Gerlach
u. Wiedling, Wien und Leipzig. Preis M. 16.)

Wie Gras und Blumen zwischen Steinen,
so wächst auf dem Wiener Boden das Volks¬
lied hervor. Es ist bodenbeständiges Eigen¬
gewächs wie der Wein, der rund um Wien
blüht. Es gibt kaum mehr einen anderen
Punkt in der Welt, wo der Volksgesang so
unmittelbar und echt aus der Empfindungs¬
weise der Bevölkerung hervorquillt, geradezu
unerschöpflich, wie gerade in der Wiener

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[0245] Maßgebliches und Unmaßgebliches rufum Wissenschaft ganz neue Bahnen ge¬ wiesen, welche weit ab führten von der bis dahin beliebten rein mechanischen Beschreibung rhythmischer Formen. Dieser Zug ins Große, der immer all¬ gemeinen Gesetzen und Prinzipien zustrebte, paarte sich bei Minor sehr Wohl mit jener peinlichen Feinfühligkeit, mit welcher der Philologe auch die kleinsten Details mühe¬ voller Forschung als wertvoll erachtet, solange auch nur ein Schatten der Unklarheit reine und volle Erkenntnis hindert. Als einen Diener am Wort hat er sich selbst bezeichnet und seinen philologischen Scharfsinn vereint mit der ihm eigenen Gabe poetischen Nachempfindens in seinem großen Faustkommentar erprobt. Aber bei aller Vertiefung in seine fach¬ wissenschaftlichen Studien hat Minor niemals die Fühlung mit dem Leben verloren. Er war auch der Literarhistoriker der Gegenwart, — wenn der Ausdruck erlaubt ist — der allen Erscheinungen der Bühne und der Lite¬ ratur des Tages das lebhafteste Interesse entgegenbrachte. So besitzen wir von ihm mehrere Schauspielerporträts aus der klassi¬ schen Zeit des Wiener Burgtheaters, Meister¬ stücke der Charakterisierungskunst; bis in die letzte Zeit war er als Burgtheater-Rezensent für die Osterreichische Rundschau tätig, und in zahlreichen Zeitungsartikeln hat er zu literarischen Tagesfragen aller Art mit der ihm eigenen lebendigen Kraft ein entschiedenes Wort geäußert. Der Gelehrte Minor ist in seinen Schriften der Allgemeinheit zugänglich, und was er geschaffen, wird bleiben. Anders der Mensch: viele haben ihn gekannt — viel mehr hätten ihn kennen müssen; und unvergessen wird er immer denen sein, die sich rühmen dürfen, seine Schüler gewesen zu sein. Man brauchte nur einmal seine Vorlesung zu besuchen, um sein warmfühlcndes, aufrichtiger Empfindung volles Herz kennen zu lernen. Er Pflegte sich so in seinen Gegenstand zu vertiefen, daß er von dem Blatt, auf dem die Borlesungs¬ materie nur in Schlagworten skizziert war, kaum aufzuschauen Pflegte. Er sprach nicht eigentlich zu seinen Hörern, dennoch fehlte nicht der Kontakt. Denn in seiner Stimme lebte es, das innere Pathos, welches den Freimut der Gesinnung mit männlicher Kraft und menschliches Mitgefühl mit aus dem Innersten bewegter Stimme unwillkürlich zum Ausdruck brachte. Sprach er etwa von Lessing, konnte er seinem modulationsfähigen Organ Töne von Erz entlocken, wenn er den Kämpfer Lessing schilderte, und seine Stimme vibrierte von mühsam verhaltener innerer Erregung, wenn er sein jähes Ende berührte. Und diese Wirkung wurde ohne die billigen Mittel der gerade bei Literarhistorikern nicht selten beliebten blendenden Phrase erreicht. Seine Vorlesungen trugen ebenso wie seine Schriften immer den Stempel der strengsten Sachlichkeit, ein Exzerpt davon anzufertigen wäre eine schwierige, vielleicht unmögliche Aufgabe gewesen; eS gab schlechthin nichts Unwichtiges, keine überflüssigen Bemerkungen, keine wortreichen Phrasieruugen, Minor machte keine Konzessionen, auch nicht an die Schöngeister. Immer steuerte er gerade auf sein Ziel zu, immer nannte er das Kind beim rechten Namen. Diese Aufrichtigkeit seines Wesens und die Geradheit seines Charakters haben denn auch seinem Wirken ihr klares Gepräge aufgedrückt: er war ein Professor im ursprünglichen, schönen Sinne dieses Wortes. Unvergeßlich wird der Eindruck bleiben, den seine Festrede am Schillergedenktage des Jahres 190S auf die Versammelten machte, als er mit den Worten des „Unser Vater" in weihevoller Stunde den Sieg des lichten Dichtergenius, der immer sein Leitstern ge¬ wesen war, auf seine Vaterstadt herabflehte. Dem Rückblickenden klingt es nach wie ein Vermächtnis — er konnte kein besseres hinter¬ Max Lederer lassen. Musik Wiener Lieder und Tänze. (Heraus¬ gegeben von Eduard Kreuser, Verlag Gerlach u. Wiedling, Wien und Leipzig. Preis M. 16.) Wie Gras und Blumen zwischen Steinen, so wächst auf dem Wiener Boden das Volks¬ lied hervor. Es ist bodenbeständiges Eigen¬ gewächs wie der Wein, der rund um Wien blüht. Es gibt kaum mehr einen anderen Punkt in der Welt, wo der Volksgesang so unmittelbar und echt aus der Empfindungs¬ weise der Bevölkerung hervorquillt, geradezu unerschöpflich, wie gerade in der Wiener

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/245>, abgerufen am 15.01.2025.