Die Reformbedürftigkeit der jetzigen Ordnung beginnt da, wo die Ent¬ scheidung nicht durch den unmittelbaren Vorgesetzten, sondern durch die vor¬ gesetzte Behörde erfolgt.
In solchen Fällen gehen alle Schriftstücke des Untergebenen durch die Hand des Vorgesetzten; ebenso erfährt dieser alles, was der Untergebene etwa bei mündlichen Vernehmungen sagt. Der Untergebene erfährt von den Berichten des Vorgesetzten nur das, was die Behörde ihm glaubt mitteilen zu sollen; er erfährt es durch Vermittlung des Vorgesetzten, der seinerseits in der Lage ist, zu den neuen Auslassungen des Untergebenen wieder seine Bemerkungen zu machen, von denen der Untergebene abermals nichts weiß.
Auf diese Weise werden Unrichtigkeiten und Einseitigkeiten des Unter¬ gebenen durch deu Vorgesetzten aufgedeckt, die Darstellung des Vorgesetzten aber ist nicht in genügender Weise der Berichtigung durch die Gegenseite unter¬ worfen; denn die Behörde ist gar nicht in der Lage, immer zu erkennen, wo Entstellungen und Irrtümer vorliegen können, wo sie also noch weiter beim Untergebenen nachfragen müßte. Sie bekommt zudem die Auslassungen des Untergebenen zugleich mit der Beleuchtung durch den Vorgesetzten. Es ist unvermeidlich, daß sie da oft gleich von vornherein zu einer falschen Auf¬ fassung der Sachlage sowohl wie der Ausführungen des Untergebenen kommt.
Besonders leicht werden Irrtümer in der Auffassung der begleitenden Nebenumstände vorkommen, betreffs deren häufig überhaupt kein Bericht der Untergebenen eingefordert werden dürfte.
Viel schlimmer noch steht es, wenn zu den sachlichen Gegensätzen persön¬ liche kommen. Da ist bei dem üblichen Verfahren der Vorgesetzte in der Lage, zu allen subjektiven Erörterungen des Untergebenen seine Kritik zu geben, nicht aber kann dieser es in gleicher Weise gegenüber der Gegenpartei, die überdies immer das letzte Wort hat. Das widerspricht allem, was im Gerichtsleben als Erfordernis der Gerechtigkeit anerkannt ist. '
Es muß darum gefordert werden, daß in Streitfällen zwischen Vorgesetzten und Untergebenen grundsätzlich beiden Parteien volle Kenntnis über das gesamte Material gegeben wird, soweit es für die Beurteilung des vorliegenden Falles in Betracht kommt, insbesondere daß also auch dem Untergebenen ein Einblick in die Berichte des Vorgesetzten über ihn gewährt wird.
Eine weitere Quelle für ein falsches Urteil der Behörde kann in der Art liegen, wie sie den Beschuldigten zur Sache vernimmt.
Zum Glück sind doch Disziplinarsachen für die meisten Beamten etwas Ungewohntes, und die nicht juristisch vorgebildeten sind von vornherein in Gefahr, ihre Sache ungeschickt zu führen. Diese Gefahr wird aber unberech¬ tigter Weise ganz erheblich gesteigert, wenn dem Beschuldigten ohne genaue Angabe dessen, was ihm vorgeworfen wird, nur einfach aufgegeben wird, sich über diesen oder jenen Vorgang zu äußern; doppelt wird sie gesteigert, wenn er weiter gezwungen wird, plötzlich, ohne Vorbereitung, ohne Beratung mit
vom Disziplinarverfahren '
Die Reformbedürftigkeit der jetzigen Ordnung beginnt da, wo die Ent¬ scheidung nicht durch den unmittelbaren Vorgesetzten, sondern durch die vor¬ gesetzte Behörde erfolgt.
In solchen Fällen gehen alle Schriftstücke des Untergebenen durch die Hand des Vorgesetzten; ebenso erfährt dieser alles, was der Untergebene etwa bei mündlichen Vernehmungen sagt. Der Untergebene erfährt von den Berichten des Vorgesetzten nur das, was die Behörde ihm glaubt mitteilen zu sollen; er erfährt es durch Vermittlung des Vorgesetzten, der seinerseits in der Lage ist, zu den neuen Auslassungen des Untergebenen wieder seine Bemerkungen zu machen, von denen der Untergebene abermals nichts weiß.
Auf diese Weise werden Unrichtigkeiten und Einseitigkeiten des Unter¬ gebenen durch deu Vorgesetzten aufgedeckt, die Darstellung des Vorgesetzten aber ist nicht in genügender Weise der Berichtigung durch die Gegenseite unter¬ worfen; denn die Behörde ist gar nicht in der Lage, immer zu erkennen, wo Entstellungen und Irrtümer vorliegen können, wo sie also noch weiter beim Untergebenen nachfragen müßte. Sie bekommt zudem die Auslassungen des Untergebenen zugleich mit der Beleuchtung durch den Vorgesetzten. Es ist unvermeidlich, daß sie da oft gleich von vornherein zu einer falschen Auf¬ fassung der Sachlage sowohl wie der Ausführungen des Untergebenen kommt.
Besonders leicht werden Irrtümer in der Auffassung der begleitenden Nebenumstände vorkommen, betreffs deren häufig überhaupt kein Bericht der Untergebenen eingefordert werden dürfte.
Viel schlimmer noch steht es, wenn zu den sachlichen Gegensätzen persön¬ liche kommen. Da ist bei dem üblichen Verfahren der Vorgesetzte in der Lage, zu allen subjektiven Erörterungen des Untergebenen seine Kritik zu geben, nicht aber kann dieser es in gleicher Weise gegenüber der Gegenpartei, die überdies immer das letzte Wort hat. Das widerspricht allem, was im Gerichtsleben als Erfordernis der Gerechtigkeit anerkannt ist. '
Es muß darum gefordert werden, daß in Streitfällen zwischen Vorgesetzten und Untergebenen grundsätzlich beiden Parteien volle Kenntnis über das gesamte Material gegeben wird, soweit es für die Beurteilung des vorliegenden Falles in Betracht kommt, insbesondere daß also auch dem Untergebenen ein Einblick in die Berichte des Vorgesetzten über ihn gewährt wird.
Eine weitere Quelle für ein falsches Urteil der Behörde kann in der Art liegen, wie sie den Beschuldigten zur Sache vernimmt.
Zum Glück sind doch Disziplinarsachen für die meisten Beamten etwas Ungewohntes, und die nicht juristisch vorgebildeten sind von vornherein in Gefahr, ihre Sache ungeschickt zu führen. Diese Gefahr wird aber unberech¬ tigter Weise ganz erheblich gesteigert, wenn dem Beschuldigten ohne genaue Angabe dessen, was ihm vorgeworfen wird, nur einfach aufgegeben wird, sich über diesen oder jenen Vorgang zu äußern; doppelt wird sie gesteigert, wenn er weiter gezwungen wird, plötzlich, ohne Vorbereitung, ohne Beratung mit
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Die Reformbedürftigkeit der jetzigen Ordnung beginnt da, wo die Ent¬
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gesetzte Behörde erfolgt.
In solchen Fällen gehen alle Schriftstücke des Untergebenen durch die
Hand des Vorgesetzten; ebenso erfährt dieser alles, was der Untergebene etwa
bei mündlichen Vernehmungen sagt. Der Untergebene erfährt von den Berichten
des Vorgesetzten nur das, was die Behörde ihm glaubt mitteilen zu sollen; er
erfährt es durch Vermittlung des Vorgesetzten, der seinerseits in der Lage ist,
zu den neuen Auslassungen des Untergebenen wieder seine Bemerkungen zu
machen, von denen der Untergebene abermals nichts weiß.
Auf diese Weise werden Unrichtigkeiten und Einseitigkeiten des Unter¬
gebenen durch deu Vorgesetzten aufgedeckt, die Darstellung des Vorgesetzten aber
ist nicht in genügender Weise der Berichtigung durch die Gegenseite unter¬
worfen; denn die Behörde ist gar nicht in der Lage, immer zu erkennen, wo
Entstellungen und Irrtümer vorliegen können, wo sie also noch weiter beim
Untergebenen nachfragen müßte. Sie bekommt zudem die Auslassungen des
Untergebenen zugleich mit der Beleuchtung durch den Vorgesetzten. Es ist
unvermeidlich, daß sie da oft gleich von vornherein zu einer falschen Auf¬
fassung der Sachlage sowohl wie der Ausführungen des Untergebenen kommt.
Besonders leicht werden Irrtümer in der Auffassung der begleitenden
Nebenumstände vorkommen, betreffs deren häufig überhaupt kein Bericht der
Untergebenen eingefordert werden dürfte.
Viel schlimmer noch steht es, wenn zu den sachlichen Gegensätzen persön¬
liche kommen. Da ist bei dem üblichen Verfahren der Vorgesetzte in der Lage,
zu allen subjektiven Erörterungen des Untergebenen seine Kritik zu geben, nicht
aber kann dieser es in gleicher Weise gegenüber der Gegenpartei, die überdies
immer das letzte Wort hat. Das widerspricht allem, was im Gerichtsleben als
Erfordernis der Gerechtigkeit anerkannt ist.
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Es muß darum gefordert werden, daß in Streitfällen zwischen Vorgesetzten
und Untergebenen grundsätzlich beiden Parteien volle Kenntnis über das gesamte
Material gegeben wird, soweit es für die Beurteilung des vorliegenden Falles
in Betracht kommt, insbesondere daß also auch dem Untergebenen ein Einblick
in die Berichte des Vorgesetzten über ihn gewährt wird.
Eine weitere Quelle für ein falsches Urteil der Behörde kann in der Art
liegen, wie sie den Beschuldigten zur Sache vernimmt.
Zum Glück sind doch Disziplinarsachen für die meisten Beamten etwas
Ungewohntes, und die nicht juristisch vorgebildeten sind von vornherein in
Gefahr, ihre Sache ungeschickt zu führen. Diese Gefahr wird aber unberech¬
tigter Weise ganz erheblich gesteigert, wenn dem Beschuldigten ohne genaue
Angabe dessen, was ihm vorgeworfen wird, nur einfach aufgegeben wird, sich
über diesen oder jenen Vorgang zu äußern; doppelt wird sie gesteigert, wenn
er weiter gezwungen wird, plötzlich, ohne Vorbereitung, ohne Beratung mit
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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/212>, abgerufen am 24.01.2025.
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