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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Agrare Reformen in Rußland
Dr. rsr, pol. Max Lind von

or einiger Zeit fielen im preußischen Abgeordnetenhause diese
Worte: "Wir haben von Rußland aus den Zeitungen recht
mangelhafte Vorstellungen; wir lesen von Rußland im allgemeinen
nur, wenn dort Attentate verübt, wenn dort Bestechungen und
sonstige Schandtaten vorgekommen sind." In diesen Worten liegt
unzweifelhaft eine gewisse Übertreibung, aber ihrem entscheidenden Inhalte nach
treffen sie zu. In der Tat haben wir Deutschen eine durchaus unzulängliche
Kenntnis der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse unseres großen östlichen
Nachbarn und tatsächlich gehen wir ziemlich gleichgültig, wenn nicht gar ganz
verständnislos an den großzügigen Reformen vorüber, die in den letzten Jahren
in Rußland eingeführt worden sind und bereits beachtliche Ergebnisse gezeitigt
haben. Wenn auch der Gründe für unsere mangelhafte Vertrautheit mit den
russischen Verhältnissen gar viele sind -- ich erinnere nur an die Schwierigkeiten,
die die russische Sprache für uns Deutsche bietet, die darauf beruhende völlig
unzureichende Kenntnis der wissenschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen Literatur
Rußlands, an die Schwierigkeit, Land und Leute kennen zu lernen und sich von
den Zuständen des weiten Reiches durch eigene Anschauung zu überzeugen --,
so bleibt doch die Tatsache bestehen, daß diese "mangelhafte Vertrautheit"
bedauerlich und geeignet ist, die vielfältigen deutsch-russischen Beziehungen
bedenklich zu beeinträchtigen. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die wirt¬
schaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Nußland, wie in jüngster Zeit
des öfteren von sachverständiger Seite betont worden ist. Wir haben lange
Zeit von Rußland als dem "Koloß auf tönernen Füßen" gesprochen. Ich glaube,
daß dieser Vergleich heute nicht mehr zutrifft. Ich meine vielmehr, daß wir
nicht vergessen dürfen, daß sich hinter unserer östlichen Grenze ein Reich dehnt
von unermeßlicher Ausdehnung, in dessen nördlichen Teilen zwar der Boden
kaum anstand, in dessen Süden dagegen Palmen im Freien wachsen, dessen
Boden Schätze von ungeheurem Werte birgt, dessen meilenweite Wälder zu
einem großen Teile darauf warten, nutzbar gemacht zu werden, und dessen land¬
wirtschaftlich nutzbare Fläche imstande ist, weit größere Erträge als bisher zu
liefern. Dieses weite Reich, dessen europäischer Teil allein die zehnfache Größe


Grenzvoten IV 1912 2


Agrare Reformen in Rußland
Dr. rsr, pol. Max Lind von

or einiger Zeit fielen im preußischen Abgeordnetenhause diese
Worte: „Wir haben von Rußland aus den Zeitungen recht
mangelhafte Vorstellungen; wir lesen von Rußland im allgemeinen
nur, wenn dort Attentate verübt, wenn dort Bestechungen und
sonstige Schandtaten vorgekommen sind." In diesen Worten liegt
unzweifelhaft eine gewisse Übertreibung, aber ihrem entscheidenden Inhalte nach
treffen sie zu. In der Tat haben wir Deutschen eine durchaus unzulängliche
Kenntnis der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse unseres großen östlichen
Nachbarn und tatsächlich gehen wir ziemlich gleichgültig, wenn nicht gar ganz
verständnislos an den großzügigen Reformen vorüber, die in den letzten Jahren
in Rußland eingeführt worden sind und bereits beachtliche Ergebnisse gezeitigt
haben. Wenn auch der Gründe für unsere mangelhafte Vertrautheit mit den
russischen Verhältnissen gar viele sind — ich erinnere nur an die Schwierigkeiten,
die die russische Sprache für uns Deutsche bietet, die darauf beruhende völlig
unzureichende Kenntnis der wissenschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen Literatur
Rußlands, an die Schwierigkeit, Land und Leute kennen zu lernen und sich von
den Zuständen des weiten Reiches durch eigene Anschauung zu überzeugen —,
so bleibt doch die Tatsache bestehen, daß diese „mangelhafte Vertrautheit"
bedauerlich und geeignet ist, die vielfältigen deutsch-russischen Beziehungen
bedenklich zu beeinträchtigen. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die wirt¬
schaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Nußland, wie in jüngster Zeit
des öfteren von sachverständiger Seite betont worden ist. Wir haben lange
Zeit von Rußland als dem „Koloß auf tönernen Füßen" gesprochen. Ich glaube,
daß dieser Vergleich heute nicht mehr zutrifft. Ich meine vielmehr, daß wir
nicht vergessen dürfen, daß sich hinter unserer östlichen Grenze ein Reich dehnt
von unermeßlicher Ausdehnung, in dessen nördlichen Teilen zwar der Boden
kaum anstand, in dessen Süden dagegen Palmen im Freien wachsen, dessen
Boden Schätze von ungeheurem Werte birgt, dessen meilenweite Wälder zu
einem großen Teile darauf warten, nutzbar gemacht zu werden, und dessen land¬
wirtschaftlich nutzbare Fläche imstande ist, weit größere Erträge als bisher zu
liefern. Dieses weite Reich, dessen europäischer Teil allein die zehnfache Größe


Grenzvoten IV 1912 2
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[0021] [Abbildung] Agrare Reformen in Rußland Dr. rsr, pol. Max Lind von or einiger Zeit fielen im preußischen Abgeordnetenhause diese Worte: „Wir haben von Rußland aus den Zeitungen recht mangelhafte Vorstellungen; wir lesen von Rußland im allgemeinen nur, wenn dort Attentate verübt, wenn dort Bestechungen und sonstige Schandtaten vorgekommen sind." In diesen Worten liegt unzweifelhaft eine gewisse Übertreibung, aber ihrem entscheidenden Inhalte nach treffen sie zu. In der Tat haben wir Deutschen eine durchaus unzulängliche Kenntnis der politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse unseres großen östlichen Nachbarn und tatsächlich gehen wir ziemlich gleichgültig, wenn nicht gar ganz verständnislos an den großzügigen Reformen vorüber, die in den letzten Jahren in Rußland eingeführt worden sind und bereits beachtliche Ergebnisse gezeitigt haben. Wenn auch der Gründe für unsere mangelhafte Vertrautheit mit den russischen Verhältnissen gar viele sind — ich erinnere nur an die Schwierigkeiten, die die russische Sprache für uns Deutsche bietet, die darauf beruhende völlig unzureichende Kenntnis der wissenschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen Literatur Rußlands, an die Schwierigkeit, Land und Leute kennen zu lernen und sich von den Zuständen des weiten Reiches durch eigene Anschauung zu überzeugen —, so bleibt doch die Tatsache bestehen, daß diese „mangelhafte Vertrautheit" bedauerlich und geeignet ist, die vielfältigen deutsch-russischen Beziehungen bedenklich zu beeinträchtigen. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die wirt¬ schaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Nußland, wie in jüngster Zeit des öfteren von sachverständiger Seite betont worden ist. Wir haben lange Zeit von Rußland als dem „Koloß auf tönernen Füßen" gesprochen. Ich glaube, daß dieser Vergleich heute nicht mehr zutrifft. Ich meine vielmehr, daß wir nicht vergessen dürfen, daß sich hinter unserer östlichen Grenze ein Reich dehnt von unermeßlicher Ausdehnung, in dessen nördlichen Teilen zwar der Boden kaum anstand, in dessen Süden dagegen Palmen im Freien wachsen, dessen Boden Schätze von ungeheurem Werte birgt, dessen meilenweite Wälder zu einem großen Teile darauf warten, nutzbar gemacht zu werden, und dessen land¬ wirtschaftlich nutzbare Fläche imstande ist, weit größere Erträge als bisher zu liefern. Dieses weite Reich, dessen europäischer Teil allein die zehnfache Größe Grenzvoten IV 1912 2

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/21>, abgerufen am 15.01.2025.