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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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derer unter ihnen verletzen, die auf der falschen Seite standen. Welches aber
ist die richtige Seite?

Wir stehen erst am Anfang des Ringens. Die großen Gegner sind Türken
und Bulgaren. Ihre Heere scheinen einander ebenbürtig. Für den Krieg selbst
scheint Bulgarien in seinen Bundesgenossen eine willkommene Kräftigung zu er¬
halten; ob beim Friedensschluß die Freundschaft besonders Serbiens noch als
Vorteil empfunden werden wird, scheint mir fraglich. -- So läßt sich denn auch
heute noch nicht sagen, wer denn die Zeche bezahlen wird und auf Prophe¬
zeiungen möchte ich mich nicht einlassen. Für Deutschlands Handel und sonstige
Interessen als ganzes genommen erscheint es mir gleichgültig, wer die Balkan¬
halbinsel beherrscht -- die Türkei oder Bulgarien. Ein Wechsel der bisherigen
Verhältnisse würde einige Unbequemlichkeiten nach sich ziehn, würde einige Per¬
sonalveränderungen bedingen, würde vielleicht die Chancen einiger Privatunter¬
nehmer verschieben -- aber mehr auch nicht.

Anders steht es für die Mächte des Dreiverbandes.

Als der erste Schuß auf dem Balkan fiel war es nicht so sehr die Tat¬
sache, daß ihn der Kronprinz von Montenegro abfeuerte, die den Dreiverband¬
diplomaten den Schreck in die Glieder jagte, als vielmehr das Schießen an
sich. An der Themse und an der Newa fühlt man sich so ähnlich wie der
Zauberlehrling in Goethes Gedicht. Der Krieg ist da und man glaubte doch,
mit einem Bluff zu erreichen, was nun auch durch den Krieg nicht erreicht
werden dürfte. Jetzt, wo es Ernst wird, wünschen die Herren den Krieg
schleunigst beendigt zu sehen. Im Stillen hofft man. der Himmel werde ein
Erbarmen haben und die Wege auf dem Kriegsschauplatz in Sümpfe verwandeln
oder aber so viel Schnee herniedersenden, daß an Kriegführen nicht zu denken
wäre. Dem gleichen Mißbehagen scheint auch der Konferenzgedanke ent¬
sprungen, den Frankreich eifrig propagiert und der von England und Rußland
verständnisvoll aufgenommen wurde. Frankreichs Sorge um die schleunige
Wiederherstellung des Friedens ist verständlich; seine Interessen an Balkan¬
fragen lassen sich durch die Zahl 4000000000 veranschaulichen und der
bisherige 8tatu8 quo ist den französischen Kapitalisten genehm gewesen. Von
einer Verschiebung der Kräfte läßt sich aber eine Erweiterung des französischen
Einflusses um so weniger erwarten, als die geographische Lage Frankreichs dieses
mit Heer und Flotte noch mehr in den Hintergrund drängt, wie Deutschland.
Frankreich ist ebenso wie Deutschland durch je eine Dreibundmacht von der
Balkanhalbinsel getrennt. Während Frankreich und Deutschland an diesem
Balkankriege schon aus wirtschaftlichen Gründen kein Interesse hatten,
haben England und Rußland ihr Interesse von dem Augenblick an ver¬
loren, seit es feststeht, daß auch nach dem Kriege am territorialen Besitz der
Türkei nichts geändert, daß also nur das erreicht werden soll, was die Türkei selbst
schon längst freiwillig zugestanden hat: Reformen in Albanien und Maze¬
donien. Beim Dreibund liegen die Interessen heute etwas anders. Nachdem


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derer unter ihnen verletzen, die auf der falschen Seite standen. Welches aber
ist die richtige Seite?

Wir stehen erst am Anfang des Ringens. Die großen Gegner sind Türken
und Bulgaren. Ihre Heere scheinen einander ebenbürtig. Für den Krieg selbst
scheint Bulgarien in seinen Bundesgenossen eine willkommene Kräftigung zu er¬
halten; ob beim Friedensschluß die Freundschaft besonders Serbiens noch als
Vorteil empfunden werden wird, scheint mir fraglich. — So läßt sich denn auch
heute noch nicht sagen, wer denn die Zeche bezahlen wird und auf Prophe¬
zeiungen möchte ich mich nicht einlassen. Für Deutschlands Handel und sonstige
Interessen als ganzes genommen erscheint es mir gleichgültig, wer die Balkan¬
halbinsel beherrscht — die Türkei oder Bulgarien. Ein Wechsel der bisherigen
Verhältnisse würde einige Unbequemlichkeiten nach sich ziehn, würde einige Per¬
sonalveränderungen bedingen, würde vielleicht die Chancen einiger Privatunter¬
nehmer verschieben — aber mehr auch nicht.

Anders steht es für die Mächte des Dreiverbandes.

Als der erste Schuß auf dem Balkan fiel war es nicht so sehr die Tat¬
sache, daß ihn der Kronprinz von Montenegro abfeuerte, die den Dreiverband¬
diplomaten den Schreck in die Glieder jagte, als vielmehr das Schießen an
sich. An der Themse und an der Newa fühlt man sich so ähnlich wie der
Zauberlehrling in Goethes Gedicht. Der Krieg ist da und man glaubte doch,
mit einem Bluff zu erreichen, was nun auch durch den Krieg nicht erreicht
werden dürfte. Jetzt, wo es Ernst wird, wünschen die Herren den Krieg
schleunigst beendigt zu sehen. Im Stillen hofft man. der Himmel werde ein
Erbarmen haben und die Wege auf dem Kriegsschauplatz in Sümpfe verwandeln
oder aber so viel Schnee herniedersenden, daß an Kriegführen nicht zu denken
wäre. Dem gleichen Mißbehagen scheint auch der Konferenzgedanke ent¬
sprungen, den Frankreich eifrig propagiert und der von England und Rußland
verständnisvoll aufgenommen wurde. Frankreichs Sorge um die schleunige
Wiederherstellung des Friedens ist verständlich; seine Interessen an Balkan¬
fragen lassen sich durch die Zahl 4000000000 veranschaulichen und der
bisherige 8tatu8 quo ist den französischen Kapitalisten genehm gewesen. Von
einer Verschiebung der Kräfte läßt sich aber eine Erweiterung des französischen
Einflusses um so weniger erwarten, als die geographische Lage Frankreichs dieses
mit Heer und Flotte noch mehr in den Hintergrund drängt, wie Deutschland.
Frankreich ist ebenso wie Deutschland durch je eine Dreibundmacht von der
Balkanhalbinsel getrennt. Während Frankreich und Deutschland an diesem
Balkankriege schon aus wirtschaftlichen Gründen kein Interesse hatten,
haben England und Rußland ihr Interesse von dem Augenblick an ver¬
loren, seit es feststeht, daß auch nach dem Kriege am territorialen Besitz der
Türkei nichts geändert, daß also nur das erreicht werden soll, was die Türkei selbst
schon längst freiwillig zugestanden hat: Reformen in Albanien und Maze¬
donien. Beim Dreibund liegen die Interessen heute etwas anders. Nachdem


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[0199] Reichsspiegel derer unter ihnen verletzen, die auf der falschen Seite standen. Welches aber ist die richtige Seite? Wir stehen erst am Anfang des Ringens. Die großen Gegner sind Türken und Bulgaren. Ihre Heere scheinen einander ebenbürtig. Für den Krieg selbst scheint Bulgarien in seinen Bundesgenossen eine willkommene Kräftigung zu er¬ halten; ob beim Friedensschluß die Freundschaft besonders Serbiens noch als Vorteil empfunden werden wird, scheint mir fraglich. — So läßt sich denn auch heute noch nicht sagen, wer denn die Zeche bezahlen wird und auf Prophe¬ zeiungen möchte ich mich nicht einlassen. Für Deutschlands Handel und sonstige Interessen als ganzes genommen erscheint es mir gleichgültig, wer die Balkan¬ halbinsel beherrscht — die Türkei oder Bulgarien. Ein Wechsel der bisherigen Verhältnisse würde einige Unbequemlichkeiten nach sich ziehn, würde einige Per¬ sonalveränderungen bedingen, würde vielleicht die Chancen einiger Privatunter¬ nehmer verschieben — aber mehr auch nicht. Anders steht es für die Mächte des Dreiverbandes. Als der erste Schuß auf dem Balkan fiel war es nicht so sehr die Tat¬ sache, daß ihn der Kronprinz von Montenegro abfeuerte, die den Dreiverband¬ diplomaten den Schreck in die Glieder jagte, als vielmehr das Schießen an sich. An der Themse und an der Newa fühlt man sich so ähnlich wie der Zauberlehrling in Goethes Gedicht. Der Krieg ist da und man glaubte doch, mit einem Bluff zu erreichen, was nun auch durch den Krieg nicht erreicht werden dürfte. Jetzt, wo es Ernst wird, wünschen die Herren den Krieg schleunigst beendigt zu sehen. Im Stillen hofft man. der Himmel werde ein Erbarmen haben und die Wege auf dem Kriegsschauplatz in Sümpfe verwandeln oder aber so viel Schnee herniedersenden, daß an Kriegführen nicht zu denken wäre. Dem gleichen Mißbehagen scheint auch der Konferenzgedanke ent¬ sprungen, den Frankreich eifrig propagiert und der von England und Rußland verständnisvoll aufgenommen wurde. Frankreichs Sorge um die schleunige Wiederherstellung des Friedens ist verständlich; seine Interessen an Balkan¬ fragen lassen sich durch die Zahl 4000000000 veranschaulichen und der bisherige 8tatu8 quo ist den französischen Kapitalisten genehm gewesen. Von einer Verschiebung der Kräfte läßt sich aber eine Erweiterung des französischen Einflusses um so weniger erwarten, als die geographische Lage Frankreichs dieses mit Heer und Flotte noch mehr in den Hintergrund drängt, wie Deutschland. Frankreich ist ebenso wie Deutschland durch je eine Dreibundmacht von der Balkanhalbinsel getrennt. Während Frankreich und Deutschland an diesem Balkankriege schon aus wirtschaftlichen Gründen kein Interesse hatten, haben England und Rußland ihr Interesse von dem Augenblick an ver¬ loren, seit es feststeht, daß auch nach dem Kriege am territorialen Besitz der Türkei nichts geändert, daß also nur das erreicht werden soll, was die Türkei selbst schon längst freiwillig zugestanden hat: Reformen in Albanien und Maze¬ donien. Beim Dreibund liegen die Interessen heute etwas anders. Nachdem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/199>, abgerufen am 15.01.2025.