Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die politische Entwicklung Llsaß-Lothringens

war für den Außenstehenden schwer zu erkennen. Für den Kenner der Persön¬
lichkeiten, die in Elsaß-Lothringen die Politik machen, war die Erklärung aber
nicht schwer. Der Teil der elsaß-lothringischen Politiker, der durch Schürung
der Unzufriedenheit mit den bis dahin bestehenden Zuständen zu Einfluß und
Ansehen gelangt war, sah in der über Erwarten umfangreichen Erweiterung
der Rechte des Landes nichts als eine Gefährdung der eigenen, mit zweifel¬
haften Mitteln errungenen Bedeutung. Ein zufriedenes Volk, eine stetige Ent¬
wicklung des Landes lag nicht in der Richtung der persönlichen Pläne dieser
Männer. Das Elsaß-Lothringen der alten Verfassung hatte ihnen Stoff in
Hülle und Fülle geboten, als Volkstribunen für die Rechte und Freiheiten der
Bevölkerung das Wort und die Feder zu führen. Die veränderten Verhältnisse
hätten das nicht mehr erlaubt, wenn man sie nicht von vornherein mit dem
Odium der Volksfeindlichkeit, der germanisatorischen Zwangsmache belastet hätte.
Und das geschah denn auch mit unübertrefflicher Gründlichkeit.

An sich war dieses Vorgehen eher albern als tragisch. Etwas Überzeugungs¬
mut und Ehrlichkeit der übrigen Bevölkerung hätte die wenigen Schreier dem
Fluche der Lächerlichkeit preisgegeben; denn sie bestanden ursprünglich nur aus
dem kleinen Kreis der oberelsässischen Nationalisten, die nach dem Verschwinden
des offenen Protestes in kleinlichen Nörgeleien gegen die deutsche Verwaltung
und das Deutschtum im allgemeinen, sowie in ostentativer Begünstigung alles
Französischen eine Entschädigung für den Verlust ihres Ansehens als nationale
Märtyrer gesucht hatten. Leider zeigte sich aber sehr bald, daß diese Männer
die "Mentalität" ihrer Landsleute nur zu richtig beurteilt hatten. Offen Farbe
zu bekennen, sich unter Umstünden sogar Anfeindungen von Verwandten und
Bekannten auszusetzen, ist im allgemeinen noch nicht die Sache der Elsaß-
Lothringer. Zwar gibt es sehr viel rühmliche Ausnahmen, und man kann die
Persönlichkeiten, die sich lieber mit allem, was ihr einstiges Lebensmilieu aus¬
gemacht hat, überwerfen, als auf das ehrliche Bekenntnis ihrer nationalen und
politischen Überzeugungen verzichten, gar nicht hoch genug schätzen, aber im
großen und ganzen ist der Elsässer und der Lothringer von heute zum Märtyrer
seiner Überzeugungen herzlich wenig veranlagt. Einzig und allein dieser Tat¬
sache war es zuzuschreiben, daß das Vabanquespiel der paar Nationalisten statt
mit einer vernichtenden Niederlage mit einem alle Welt überraschenden Erfolge
endete und den Ausgangspunkt für die ganze politische Entwicklung Elsaß-
Lothringens nach Einführung der neuen Verfassung bilden konnte.

Man muß sich, um die gegenwärtig in Elsaß-Lothringen bestehenden
politischen Verhältnisse richtig würdigen zu können, vor Augen halten, daß die
Nationalisten, die gegen die Verfassungsreform Front machten, sämtlich dem
elsaß - lothringischen Zentrum angehörten oder ihm nahe standen. Nur dadurch
erklärt es sich, daß ihr Vorgehen sofort ein Echo in weiteren Kreisen fand;
denn die nächste Folge der Verfassungsreform waren die ersten Landtagswahlen,
und sür diese war die Parteikonstellation so, daß der Klerikalismus als die stärkste


Die politische Entwicklung Llsaß-Lothringens

war für den Außenstehenden schwer zu erkennen. Für den Kenner der Persön¬
lichkeiten, die in Elsaß-Lothringen die Politik machen, war die Erklärung aber
nicht schwer. Der Teil der elsaß-lothringischen Politiker, der durch Schürung
der Unzufriedenheit mit den bis dahin bestehenden Zuständen zu Einfluß und
Ansehen gelangt war, sah in der über Erwarten umfangreichen Erweiterung
der Rechte des Landes nichts als eine Gefährdung der eigenen, mit zweifel¬
haften Mitteln errungenen Bedeutung. Ein zufriedenes Volk, eine stetige Ent¬
wicklung des Landes lag nicht in der Richtung der persönlichen Pläne dieser
Männer. Das Elsaß-Lothringen der alten Verfassung hatte ihnen Stoff in
Hülle und Fülle geboten, als Volkstribunen für die Rechte und Freiheiten der
Bevölkerung das Wort und die Feder zu führen. Die veränderten Verhältnisse
hätten das nicht mehr erlaubt, wenn man sie nicht von vornherein mit dem
Odium der Volksfeindlichkeit, der germanisatorischen Zwangsmache belastet hätte.
Und das geschah denn auch mit unübertrefflicher Gründlichkeit.

An sich war dieses Vorgehen eher albern als tragisch. Etwas Überzeugungs¬
mut und Ehrlichkeit der übrigen Bevölkerung hätte die wenigen Schreier dem
Fluche der Lächerlichkeit preisgegeben; denn sie bestanden ursprünglich nur aus
dem kleinen Kreis der oberelsässischen Nationalisten, die nach dem Verschwinden
des offenen Protestes in kleinlichen Nörgeleien gegen die deutsche Verwaltung
und das Deutschtum im allgemeinen, sowie in ostentativer Begünstigung alles
Französischen eine Entschädigung für den Verlust ihres Ansehens als nationale
Märtyrer gesucht hatten. Leider zeigte sich aber sehr bald, daß diese Männer
die „Mentalität" ihrer Landsleute nur zu richtig beurteilt hatten. Offen Farbe
zu bekennen, sich unter Umstünden sogar Anfeindungen von Verwandten und
Bekannten auszusetzen, ist im allgemeinen noch nicht die Sache der Elsaß-
Lothringer. Zwar gibt es sehr viel rühmliche Ausnahmen, und man kann die
Persönlichkeiten, die sich lieber mit allem, was ihr einstiges Lebensmilieu aus¬
gemacht hat, überwerfen, als auf das ehrliche Bekenntnis ihrer nationalen und
politischen Überzeugungen verzichten, gar nicht hoch genug schätzen, aber im
großen und ganzen ist der Elsässer und der Lothringer von heute zum Märtyrer
seiner Überzeugungen herzlich wenig veranlagt. Einzig und allein dieser Tat¬
sache war es zuzuschreiben, daß das Vabanquespiel der paar Nationalisten statt
mit einer vernichtenden Niederlage mit einem alle Welt überraschenden Erfolge
endete und den Ausgangspunkt für die ganze politische Entwicklung Elsaß-
Lothringens nach Einführung der neuen Verfassung bilden konnte.

Man muß sich, um die gegenwärtig in Elsaß-Lothringen bestehenden
politischen Verhältnisse richtig würdigen zu können, vor Augen halten, daß die
Nationalisten, die gegen die Verfassungsreform Front machten, sämtlich dem
elsaß - lothringischen Zentrum angehörten oder ihm nahe standen. Nur dadurch
erklärt es sich, daß ihr Vorgehen sofort ein Echo in weiteren Kreisen fand;
denn die nächste Folge der Verfassungsreform waren die ersten Landtagswahlen,
und sür diese war die Parteikonstellation so, daß der Klerikalismus als die stärkste


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0162" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322564"/>
          <fw type="header" place="top"> Die politische Entwicklung Llsaß-Lothringens</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_752" prev="#ID_751"> war für den Außenstehenden schwer zu erkennen. Für den Kenner der Persön¬<lb/>
lichkeiten, die in Elsaß-Lothringen die Politik machen, war die Erklärung aber<lb/>
nicht schwer. Der Teil der elsaß-lothringischen Politiker, der durch Schürung<lb/>
der Unzufriedenheit mit den bis dahin bestehenden Zuständen zu Einfluß und<lb/>
Ansehen gelangt war, sah in der über Erwarten umfangreichen Erweiterung<lb/>
der Rechte des Landes nichts als eine Gefährdung der eigenen, mit zweifel¬<lb/>
haften Mitteln errungenen Bedeutung. Ein zufriedenes Volk, eine stetige Ent¬<lb/>
wicklung des Landes lag nicht in der Richtung der persönlichen Pläne dieser<lb/>
Männer. Das Elsaß-Lothringen der alten Verfassung hatte ihnen Stoff in<lb/>
Hülle und Fülle geboten, als Volkstribunen für die Rechte und Freiheiten der<lb/>
Bevölkerung das Wort und die Feder zu führen. Die veränderten Verhältnisse<lb/>
hätten das nicht mehr erlaubt, wenn man sie nicht von vornherein mit dem<lb/>
Odium der Volksfeindlichkeit, der germanisatorischen Zwangsmache belastet hätte.<lb/>
Und das geschah denn auch mit unübertrefflicher Gründlichkeit.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_753"> An sich war dieses Vorgehen eher albern als tragisch. Etwas Überzeugungs¬<lb/>
mut und Ehrlichkeit der übrigen Bevölkerung hätte die wenigen Schreier dem<lb/>
Fluche der Lächerlichkeit preisgegeben; denn sie bestanden ursprünglich nur aus<lb/>
dem kleinen Kreis der oberelsässischen Nationalisten, die nach dem Verschwinden<lb/>
des offenen Protestes in kleinlichen Nörgeleien gegen die deutsche Verwaltung<lb/>
und das Deutschtum im allgemeinen, sowie in ostentativer Begünstigung alles<lb/>
Französischen eine Entschädigung für den Verlust ihres Ansehens als nationale<lb/>
Märtyrer gesucht hatten. Leider zeigte sich aber sehr bald, daß diese Männer<lb/>
die &#x201E;Mentalität" ihrer Landsleute nur zu richtig beurteilt hatten. Offen Farbe<lb/>
zu bekennen, sich unter Umstünden sogar Anfeindungen von Verwandten und<lb/>
Bekannten auszusetzen, ist im allgemeinen noch nicht die Sache der Elsaß-<lb/>
Lothringer. Zwar gibt es sehr viel rühmliche Ausnahmen, und man kann die<lb/>
Persönlichkeiten, die sich lieber mit allem, was ihr einstiges Lebensmilieu aus¬<lb/>
gemacht hat, überwerfen, als auf das ehrliche Bekenntnis ihrer nationalen und<lb/>
politischen Überzeugungen verzichten, gar nicht hoch genug schätzen, aber im<lb/>
großen und ganzen ist der Elsässer und der Lothringer von heute zum Märtyrer<lb/>
seiner Überzeugungen herzlich wenig veranlagt. Einzig und allein dieser Tat¬<lb/>
sache war es zuzuschreiben, daß das Vabanquespiel der paar Nationalisten statt<lb/>
mit einer vernichtenden Niederlage mit einem alle Welt überraschenden Erfolge<lb/>
endete und den Ausgangspunkt für die ganze politische Entwicklung Elsaß-<lb/>
Lothringens nach Einführung der neuen Verfassung bilden konnte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_754" next="#ID_755"> Man muß sich, um die gegenwärtig in Elsaß-Lothringen bestehenden<lb/>
politischen Verhältnisse richtig würdigen zu können, vor Augen halten, daß die<lb/>
Nationalisten, die gegen die Verfassungsreform Front machten, sämtlich dem<lb/>
elsaß - lothringischen Zentrum angehörten oder ihm nahe standen. Nur dadurch<lb/>
erklärt es sich, daß ihr Vorgehen sofort ein Echo in weiteren Kreisen fand;<lb/>
denn die nächste Folge der Verfassungsreform waren die ersten Landtagswahlen,<lb/>
und sür diese war die Parteikonstellation so, daß der Klerikalismus als die stärkste</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0162] Die politische Entwicklung Llsaß-Lothringens war für den Außenstehenden schwer zu erkennen. Für den Kenner der Persön¬ lichkeiten, die in Elsaß-Lothringen die Politik machen, war die Erklärung aber nicht schwer. Der Teil der elsaß-lothringischen Politiker, der durch Schürung der Unzufriedenheit mit den bis dahin bestehenden Zuständen zu Einfluß und Ansehen gelangt war, sah in der über Erwarten umfangreichen Erweiterung der Rechte des Landes nichts als eine Gefährdung der eigenen, mit zweifel¬ haften Mitteln errungenen Bedeutung. Ein zufriedenes Volk, eine stetige Ent¬ wicklung des Landes lag nicht in der Richtung der persönlichen Pläne dieser Männer. Das Elsaß-Lothringen der alten Verfassung hatte ihnen Stoff in Hülle und Fülle geboten, als Volkstribunen für die Rechte und Freiheiten der Bevölkerung das Wort und die Feder zu führen. Die veränderten Verhältnisse hätten das nicht mehr erlaubt, wenn man sie nicht von vornherein mit dem Odium der Volksfeindlichkeit, der germanisatorischen Zwangsmache belastet hätte. Und das geschah denn auch mit unübertrefflicher Gründlichkeit. An sich war dieses Vorgehen eher albern als tragisch. Etwas Überzeugungs¬ mut und Ehrlichkeit der übrigen Bevölkerung hätte die wenigen Schreier dem Fluche der Lächerlichkeit preisgegeben; denn sie bestanden ursprünglich nur aus dem kleinen Kreis der oberelsässischen Nationalisten, die nach dem Verschwinden des offenen Protestes in kleinlichen Nörgeleien gegen die deutsche Verwaltung und das Deutschtum im allgemeinen, sowie in ostentativer Begünstigung alles Französischen eine Entschädigung für den Verlust ihres Ansehens als nationale Märtyrer gesucht hatten. Leider zeigte sich aber sehr bald, daß diese Männer die „Mentalität" ihrer Landsleute nur zu richtig beurteilt hatten. Offen Farbe zu bekennen, sich unter Umstünden sogar Anfeindungen von Verwandten und Bekannten auszusetzen, ist im allgemeinen noch nicht die Sache der Elsaß- Lothringer. Zwar gibt es sehr viel rühmliche Ausnahmen, und man kann die Persönlichkeiten, die sich lieber mit allem, was ihr einstiges Lebensmilieu aus¬ gemacht hat, überwerfen, als auf das ehrliche Bekenntnis ihrer nationalen und politischen Überzeugungen verzichten, gar nicht hoch genug schätzen, aber im großen und ganzen ist der Elsässer und der Lothringer von heute zum Märtyrer seiner Überzeugungen herzlich wenig veranlagt. Einzig und allein dieser Tat¬ sache war es zuzuschreiben, daß das Vabanquespiel der paar Nationalisten statt mit einer vernichtenden Niederlage mit einem alle Welt überraschenden Erfolge endete und den Ausgangspunkt für die ganze politische Entwicklung Elsaß- Lothringens nach Einführung der neuen Verfassung bilden konnte. Man muß sich, um die gegenwärtig in Elsaß-Lothringen bestehenden politischen Verhältnisse richtig würdigen zu können, vor Augen halten, daß die Nationalisten, die gegen die Verfassungsreform Front machten, sämtlich dem elsaß - lothringischen Zentrum angehörten oder ihm nahe standen. Nur dadurch erklärt es sich, daß ihr Vorgehen sofort ein Echo in weiteren Kreisen fand; denn die nächste Folge der Verfassungsreform waren die ersten Landtagswahlen, und sür diese war die Parteikonstellation so, daß der Klerikalismus als die stärkste

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/162
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/162>, abgerufen am 15.01.2025.