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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Die politische Entwicklung Elsaß-Lothringens
seit Einführung der neuen Verfassung
Max ZVinterberg- von

! is der Reichskanzler von Bethmann Hollweg in Übereinstimmung
> mit dem kaiserlichen Statthalter Grafen von Wedel sich entschloß,
eine Reform der reichsgesetzlichen Bestimmungen über die Ver¬
fassung Elsaß-Lothringens in Angriff zu nehmen, stützte er sich
in allen wesentlichen Punkten seines Gesetzentwurfs auf Wünsche
und Anregungen, die im Laufe mehrerer Jahrzehnte aus Elsaß-Lothringen an
die Landes- und die Reichsregierung gerichtet worden waren. Die elsaß-
lvthrmgische Frage hat nie vollständig geruht, so wenig man in der Öffent¬
lichkeit auch davon wahrnehmen konnte, daß die zuständigen Reichsinstanzen
mehr taten, als die Wünsche des reichsländischen Landesausschusses und die
Vorschläge der Landesregierung mit passivem Wohlwollen in Empfang zu
nehmen. Wiederholt habe ich während der Amtstätigkeit des Grafen
Posadowsky mit ihm und dem damaligen Unterstaatssekretär Wermuth über
die elsaß-lothringische Verfassungsfrage gesprochen, und jedesmal empfing ich
den Eindruck, daß beide Herren ihr nicht nur platonische Aufmerksamkeit
widmeten, sondern ernstlich bemüht waren, eine praktische, erfolgverheißende
Lösung des so überaus schwierigen Problems zu finden. Wenn die An¬
gelegenheit damals trotzdem nicht von der Stelle kam, so dürfte der Grund
dafür in erster Linie in dem relativ geringen Interesse, das der Reichs¬
kanzler Fürst von Bülow ihr entgegenbrachte, sowie in der geringen Initiative
der Negierung des Fürsten zu Hohenlohe-Langenburg zu suchen sein. Ferner
freilich auch in den großen Bedenken, die Graf Posadowsky selbst wegen der
Wirkungen einer Reform hegte, wie er sie verantworten zu können glaubte.
Denn sein staatsmännischcs Gewissen erlaubte ihn: nicht, soweit zu gehen, wie
später Herr von Bethmann Hollweg ging, und anderseits kannte er die Psyche


Grenzboten IV 1912 20


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Die politische Entwicklung Elsaß-Lothringens
seit Einführung der neuen Verfassung
Max ZVinterberg- von

! is der Reichskanzler von Bethmann Hollweg in Übereinstimmung
> mit dem kaiserlichen Statthalter Grafen von Wedel sich entschloß,
eine Reform der reichsgesetzlichen Bestimmungen über die Ver¬
fassung Elsaß-Lothringens in Angriff zu nehmen, stützte er sich
in allen wesentlichen Punkten seines Gesetzentwurfs auf Wünsche
und Anregungen, die im Laufe mehrerer Jahrzehnte aus Elsaß-Lothringen an
die Landes- und die Reichsregierung gerichtet worden waren. Die elsaß-
lvthrmgische Frage hat nie vollständig geruht, so wenig man in der Öffent¬
lichkeit auch davon wahrnehmen konnte, daß die zuständigen Reichsinstanzen
mehr taten, als die Wünsche des reichsländischen Landesausschusses und die
Vorschläge der Landesregierung mit passivem Wohlwollen in Empfang zu
nehmen. Wiederholt habe ich während der Amtstätigkeit des Grafen
Posadowsky mit ihm und dem damaligen Unterstaatssekretär Wermuth über
die elsaß-lothringische Verfassungsfrage gesprochen, und jedesmal empfing ich
den Eindruck, daß beide Herren ihr nicht nur platonische Aufmerksamkeit
widmeten, sondern ernstlich bemüht waren, eine praktische, erfolgverheißende
Lösung des so überaus schwierigen Problems zu finden. Wenn die An¬
gelegenheit damals trotzdem nicht von der Stelle kam, so dürfte der Grund
dafür in erster Linie in dem relativ geringen Interesse, das der Reichs¬
kanzler Fürst von Bülow ihr entgegenbrachte, sowie in der geringen Initiative
der Negierung des Fürsten zu Hohenlohe-Langenburg zu suchen sein. Ferner
freilich auch in den großen Bedenken, die Graf Posadowsky selbst wegen der
Wirkungen einer Reform hegte, wie er sie verantworten zu können glaubte.
Denn sein staatsmännischcs Gewissen erlaubte ihn: nicht, soweit zu gehen, wie
später Herr von Bethmann Hollweg ging, und anderseits kannte er die Psyche


Grenzboten IV 1912 20
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/160>, abgerufen am 15.01.2025.