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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Der Arme Heinrich

Hauptmanns dritter und vierter Akt zeigen Heinrich innerlich ringend und
äußerlich kämpfend, bis schließlich die schwer verhaltene Not der Selbsterhaltung
siegt. Er ist mit reicher äußerer Geschichte umgeben, die von Hauptmann nach
manchem historischen Motiv gefügt und frei gestaltet ist. Heinrichs Vetter Konrad
möchte sich des Schlosses und Besitzes zu Ane bemächtigen; er macht die Welt
in einem betrügerischen Begräbnis an Heinrichs Abscheiden glauben, stellt ihm
nach und sucht ihn zu töten. (Dieser böse Vetter stirbt schließlich unrühmlich.)
Heinrich ist vom Meierhof in die Wildnis geflohen und fristet dort sein aus¬
sätziges Dasein in Elend und Verfolgung. An diesen drohenden äußeren Ge¬
fahren erwacht die innere, die künstlich eingedämmte Lebenslust aufs neue zu
wildem Feuer, und gegen sein früher, ach, so festbegründetes Wissen und seine
bessere Überzeugung macht er sich auf, mit Ottegebe nach Italien zu ziehen.
Ottegebe geht gegen den Willen der Eltern und Benedikts. Bei Hartmann
begleitet sie der Schmerz, aber auch der Segen der Zurückbleibenden hin nach
Salerne zur Blutkur, von deren Erfolg Heinrich und alle Beteiligten überzeugt
sind. -- Longfellow hat diese Reise in szenischen Bildern vorgeführt, die den
Hauptstock des episch zerflatternden Dramas ausmachen. Hauptmann führt die
ganze Zeitstrecke bis zur Wiederkehr in die Heimat wie die Vorgeschichte in
eingesprengtem epischen Berichte vor.

Des Arztes eindringliche Warnung, die Aufzählung aller Schrecknisse der
Operation und des bitteren Todes verhallen an des Mädchens festem Willen.
So schließt sich der Arzt mit dem Kinde ein. Von Ludwig Uhland, der sich
auch mit dem Heinrich - Stoff getragen hat, ist das Bruchstück einer Szene
erhalten, das eine ausführliche Unterredung des Arztes mit dem opferbereiten
Kinde zum Gegenstande hat. -- Hartmann allein hat ein liebliches Motiv
gestaltet: der Arme Heinrich erblickt durch eine Spalte in der Tür des
Mädchens nackten Leib festgebunden auf dem Operationstisch. Da faßt ihn
unbezwingliches Mitleid, Gott kehrt ihm den Sinn und füllt ihn mit frischem
Mut, und er hält den Arzt vom todbringenden Schritt noch zur rechten Zeit
zurück. Selbst Chamisso hat, wie die anderen, die zierliche Erfindung ver¬
ändert: den Armen Heinrich reut das grausame Opfer, als das Mädchen schon
mit dem Arzte eingeschlossen ist, er erbricht gewaltsam die Tür, jetzt erst erspäht
er das Kind und er verhindert seinen Tod.

Und so genest Heinrich durch den Sieg, den sein besserer Teil über die
Selbstsucht errang. Ganz schlicht berichtet Hartmann: Gott hat ihn erlöst.
Bei Hauptmann ist dafür die Liebe gesetzt, die ihn befreit und gesund macht.
Und er zieht mit Ottegebe über die Alpen zurück in die Heimat. Longfellow
hat sich's nicht versagt, in arger Pedanterie die allzu verständige und entsetzlich
nüchterne Bemerkung des Försters anzuhängen: "Er fand alsdann auch Heilung
durch die Tugend Von Sankt Matthäus heiligem Gebein. Doch glaub' ich
fest, daß Luft und Sonnenschein Und die Bewegung in den Reisetagen Zu
seiner Heilung vieles beigetragen."


Der Arme Heinrich

Hauptmanns dritter und vierter Akt zeigen Heinrich innerlich ringend und
äußerlich kämpfend, bis schließlich die schwer verhaltene Not der Selbsterhaltung
siegt. Er ist mit reicher äußerer Geschichte umgeben, die von Hauptmann nach
manchem historischen Motiv gefügt und frei gestaltet ist. Heinrichs Vetter Konrad
möchte sich des Schlosses und Besitzes zu Ane bemächtigen; er macht die Welt
in einem betrügerischen Begräbnis an Heinrichs Abscheiden glauben, stellt ihm
nach und sucht ihn zu töten. (Dieser böse Vetter stirbt schließlich unrühmlich.)
Heinrich ist vom Meierhof in die Wildnis geflohen und fristet dort sein aus¬
sätziges Dasein in Elend und Verfolgung. An diesen drohenden äußeren Ge¬
fahren erwacht die innere, die künstlich eingedämmte Lebenslust aufs neue zu
wildem Feuer, und gegen sein früher, ach, so festbegründetes Wissen und seine
bessere Überzeugung macht er sich auf, mit Ottegebe nach Italien zu ziehen.
Ottegebe geht gegen den Willen der Eltern und Benedikts. Bei Hartmann
begleitet sie der Schmerz, aber auch der Segen der Zurückbleibenden hin nach
Salerne zur Blutkur, von deren Erfolg Heinrich und alle Beteiligten überzeugt
sind. — Longfellow hat diese Reise in szenischen Bildern vorgeführt, die den
Hauptstock des episch zerflatternden Dramas ausmachen. Hauptmann führt die
ganze Zeitstrecke bis zur Wiederkehr in die Heimat wie die Vorgeschichte in
eingesprengtem epischen Berichte vor.

Des Arztes eindringliche Warnung, die Aufzählung aller Schrecknisse der
Operation und des bitteren Todes verhallen an des Mädchens festem Willen.
So schließt sich der Arzt mit dem Kinde ein. Von Ludwig Uhland, der sich
auch mit dem Heinrich - Stoff getragen hat, ist das Bruchstück einer Szene
erhalten, das eine ausführliche Unterredung des Arztes mit dem opferbereiten
Kinde zum Gegenstande hat. — Hartmann allein hat ein liebliches Motiv
gestaltet: der Arme Heinrich erblickt durch eine Spalte in der Tür des
Mädchens nackten Leib festgebunden auf dem Operationstisch. Da faßt ihn
unbezwingliches Mitleid, Gott kehrt ihm den Sinn und füllt ihn mit frischem
Mut, und er hält den Arzt vom todbringenden Schritt noch zur rechten Zeit
zurück. Selbst Chamisso hat, wie die anderen, die zierliche Erfindung ver¬
ändert: den Armen Heinrich reut das grausame Opfer, als das Mädchen schon
mit dem Arzte eingeschlossen ist, er erbricht gewaltsam die Tür, jetzt erst erspäht
er das Kind und er verhindert seinen Tod.

Und so genest Heinrich durch den Sieg, den sein besserer Teil über die
Selbstsucht errang. Ganz schlicht berichtet Hartmann: Gott hat ihn erlöst.
Bei Hauptmann ist dafür die Liebe gesetzt, die ihn befreit und gesund macht.
Und er zieht mit Ottegebe über die Alpen zurück in die Heimat. Longfellow
hat sich's nicht versagt, in arger Pedanterie die allzu verständige und entsetzlich
nüchterne Bemerkung des Försters anzuhängen: „Er fand alsdann auch Heilung
durch die Tugend Von Sankt Matthäus heiligem Gebein. Doch glaub' ich
fest, daß Luft und Sonnenschein Und die Bewegung in den Reisetagen Zu
seiner Heilung vieles beigetragen."


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[0125] Der Arme Heinrich Hauptmanns dritter und vierter Akt zeigen Heinrich innerlich ringend und äußerlich kämpfend, bis schließlich die schwer verhaltene Not der Selbsterhaltung siegt. Er ist mit reicher äußerer Geschichte umgeben, die von Hauptmann nach manchem historischen Motiv gefügt und frei gestaltet ist. Heinrichs Vetter Konrad möchte sich des Schlosses und Besitzes zu Ane bemächtigen; er macht die Welt in einem betrügerischen Begräbnis an Heinrichs Abscheiden glauben, stellt ihm nach und sucht ihn zu töten. (Dieser böse Vetter stirbt schließlich unrühmlich.) Heinrich ist vom Meierhof in die Wildnis geflohen und fristet dort sein aus¬ sätziges Dasein in Elend und Verfolgung. An diesen drohenden äußeren Ge¬ fahren erwacht die innere, die künstlich eingedämmte Lebenslust aufs neue zu wildem Feuer, und gegen sein früher, ach, so festbegründetes Wissen und seine bessere Überzeugung macht er sich auf, mit Ottegebe nach Italien zu ziehen. Ottegebe geht gegen den Willen der Eltern und Benedikts. Bei Hartmann begleitet sie der Schmerz, aber auch der Segen der Zurückbleibenden hin nach Salerne zur Blutkur, von deren Erfolg Heinrich und alle Beteiligten überzeugt sind. — Longfellow hat diese Reise in szenischen Bildern vorgeführt, die den Hauptstock des episch zerflatternden Dramas ausmachen. Hauptmann führt die ganze Zeitstrecke bis zur Wiederkehr in die Heimat wie die Vorgeschichte in eingesprengtem epischen Berichte vor. Des Arztes eindringliche Warnung, die Aufzählung aller Schrecknisse der Operation und des bitteren Todes verhallen an des Mädchens festem Willen. So schließt sich der Arzt mit dem Kinde ein. Von Ludwig Uhland, der sich auch mit dem Heinrich - Stoff getragen hat, ist das Bruchstück einer Szene erhalten, das eine ausführliche Unterredung des Arztes mit dem opferbereiten Kinde zum Gegenstande hat. — Hartmann allein hat ein liebliches Motiv gestaltet: der Arme Heinrich erblickt durch eine Spalte in der Tür des Mädchens nackten Leib festgebunden auf dem Operationstisch. Da faßt ihn unbezwingliches Mitleid, Gott kehrt ihm den Sinn und füllt ihn mit frischem Mut, und er hält den Arzt vom todbringenden Schritt noch zur rechten Zeit zurück. Selbst Chamisso hat, wie die anderen, die zierliche Erfindung ver¬ ändert: den Armen Heinrich reut das grausame Opfer, als das Mädchen schon mit dem Arzte eingeschlossen ist, er erbricht gewaltsam die Tür, jetzt erst erspäht er das Kind und er verhindert seinen Tod. Und so genest Heinrich durch den Sieg, den sein besserer Teil über die Selbstsucht errang. Ganz schlicht berichtet Hartmann: Gott hat ihn erlöst. Bei Hauptmann ist dafür die Liebe gesetzt, die ihn befreit und gesund macht. Und er zieht mit Ottegebe über die Alpen zurück in die Heimat. Longfellow hat sich's nicht versagt, in arger Pedanterie die allzu verständige und entsetzlich nüchterne Bemerkung des Försters anzuhängen: „Er fand alsdann auch Heilung durch die Tugend Von Sankt Matthäus heiligem Gebein. Doch glaub' ich fest, daß Luft und Sonnenschein Und die Bewegung in den Reisetagen Zu seiner Heilung vieles beigetragen."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/125>, abgerufen am 15.01.2025.