Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.Reichsspiegel letzten Hochkonjunktur bei weitem übertrifft. Noch nie hat die nationale Pro¬ Die große Frage ist aber, ob dieser so günstigen Wirtschaftslage von feiten Reichsspiegel letzten Hochkonjunktur bei weitem übertrifft. Noch nie hat die nationale Pro¬ Die große Frage ist aber, ob dieser so günstigen Wirtschaftslage von feiten <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0108" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322509"/> <fw type="header" place="top"> Reichsspiegel</fw><lb/> <p xml:id="ID_446" prev="#ID_445"> letzten Hochkonjunktur bei weitem übertrifft. Noch nie hat die nationale Pro¬<lb/> duktion der Hauptwirtschaftsländer, vornehmlich aber die Deutschlands, einen<lb/> solchen Umfang erreicht wie gegenwärtig. Die Eisenindustrie, die Kohlen¬<lb/> förderung, die weiter verarbeitenden Gewerbe, alle wissen mit ganz vereinzelten<lb/> Ausnahmen nur von Nekordzahlen über Tätigkeit und Absatz zu berichten.<lb/> Diese mächtige wirtschaftliche Bewegung ist aber noch in ihrem inneren Kern<lb/> gesund. Die fast unzertrennlichen Begleiterscheinungen jeder länger andauernden<lb/> Hochkonjunktur, Überspekulation, hochgespannte Warenpreise, Mißverhältnis<lb/> zwischen Produktion und Absatz, Kredit- und Geldnot, unerschwingliche Zinssätze,<lb/> lassen sich einstweilen noch überhaupt nicht oder doch nur vereinzelt feststellen.<lb/> Insbesondere hat der Geldmarkt eine sehr erfreuliche Erleichterung erfahren.<lb/> Es fehlen daher einstweilen alle Anzeichen dafür, daß der allerdings unaus¬<lb/> bleibliche Umschwung des Wirtschaftslebens in bedrohlicher Nähe ist. Zum<lb/> mindesten darf man die Behauptung wagen, daß die Voraussetzungen für einen<lb/> krisenhaften Zusammenbruch wie im Jahre 1907 heute nicht gegeben sind, und<lb/> daß daher ein solcher vorerst nicht zu befürchten ist, wie er anderseits auch bei<lb/> einiger Vorsicht wohl überhaupt vermieden werden kann.</p><lb/> <p xml:id="ID_447" next="#ID_448"> Die große Frage ist aber, ob dieser so günstigen Wirtschaftslage von feiten<lb/> der Politik ernsthafte Gefahren drohen. Die Börse hat offenbar in blindem<lb/> Schrecken die Frage zunächst vorbehaltslos bejaht, als sie die Mobilmachung<lb/> der Balkanstaaten erfuhr, gleich darauf aber fast mit derselben Bestimmtheit<lb/> verneint, als sie glaubte hoffen zu dürfen, daß der Balkankrieg lokalisiert bleiben<lb/> würde. Nun ist zwar bis zur Stunde eine wirkliche Klärung der politischen<lb/> Lage nicht eingetreten. Es ist der Mobilmachung einstweilen noch nicht die<lb/> Kriegserklärung oder die Eröffnung der Feindseligkeiten gefolgt. Selbst wenn<lb/> dies aber in den nächsten Tagen der Fall sein sollte, so liegt noch kein Grund<lb/> vor, deshalb einen Weltbrand für unausbleiblich zu erachten. Außerordentlich<lb/> beruhigend muß es wirken, daß der Balkonkonflikt zunächst den Frieden zwischen<lb/> Italien und der Türkei in greifbare Nähe gerückt und damit einen offenen<lb/> Interessengegensatz zwischen Nom und Wien beseitigt hat. Immerhin bleibt<lb/> natürlich, so lange nicht eine einmütige Erklärung der Großmächte vorliegt,<lb/> eine gewisse Unsicherheit und Bedrohlichkeit der Lage bestehen. Politische Ge¬<lb/> fahren, selbst wenn sie entfernt und nicht unmittelbar bedrohlich sind, müssen<lb/> naturgemäß der wirtschaftlichen Entwicklung einen starken Hemmschuh anlegen.<lb/> Schon ein lokalisierter Balkankrieg wäre für Deutschland, das mit allen in<lb/> Betracht kommenden Staaten, vornehmlich aber mit der Türkei durch starke<lb/> Gläubiger- und Wirtschaftsinteressen verknüpft ist, ein beklagenswertes Ereignis.<lb/> Doch dürfte angesichts der ganz ungenügenden finanziellen Rüstung der kleinen<lb/> Balkanstaaten ein langdauernder Krieg kaum im Bereich der Möglichkeit liegen.<lb/> Anders aber und weitaus bedrohlicher läge die Sache, wenn die Möglichkeit<lb/> weiterer Verwicklungen in Betracht gezogen werden müßte, selbst unter der<lb/> Voraussetzung, daß Deutschland an diesen nicht unmittelbar beteiligt wäre.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0108]
Reichsspiegel
letzten Hochkonjunktur bei weitem übertrifft. Noch nie hat die nationale Pro¬
duktion der Hauptwirtschaftsländer, vornehmlich aber die Deutschlands, einen
solchen Umfang erreicht wie gegenwärtig. Die Eisenindustrie, die Kohlen¬
förderung, die weiter verarbeitenden Gewerbe, alle wissen mit ganz vereinzelten
Ausnahmen nur von Nekordzahlen über Tätigkeit und Absatz zu berichten.
Diese mächtige wirtschaftliche Bewegung ist aber noch in ihrem inneren Kern
gesund. Die fast unzertrennlichen Begleiterscheinungen jeder länger andauernden
Hochkonjunktur, Überspekulation, hochgespannte Warenpreise, Mißverhältnis
zwischen Produktion und Absatz, Kredit- und Geldnot, unerschwingliche Zinssätze,
lassen sich einstweilen noch überhaupt nicht oder doch nur vereinzelt feststellen.
Insbesondere hat der Geldmarkt eine sehr erfreuliche Erleichterung erfahren.
Es fehlen daher einstweilen alle Anzeichen dafür, daß der allerdings unaus¬
bleibliche Umschwung des Wirtschaftslebens in bedrohlicher Nähe ist. Zum
mindesten darf man die Behauptung wagen, daß die Voraussetzungen für einen
krisenhaften Zusammenbruch wie im Jahre 1907 heute nicht gegeben sind, und
daß daher ein solcher vorerst nicht zu befürchten ist, wie er anderseits auch bei
einiger Vorsicht wohl überhaupt vermieden werden kann.
Die große Frage ist aber, ob dieser so günstigen Wirtschaftslage von feiten
der Politik ernsthafte Gefahren drohen. Die Börse hat offenbar in blindem
Schrecken die Frage zunächst vorbehaltslos bejaht, als sie die Mobilmachung
der Balkanstaaten erfuhr, gleich darauf aber fast mit derselben Bestimmtheit
verneint, als sie glaubte hoffen zu dürfen, daß der Balkankrieg lokalisiert bleiben
würde. Nun ist zwar bis zur Stunde eine wirkliche Klärung der politischen
Lage nicht eingetreten. Es ist der Mobilmachung einstweilen noch nicht die
Kriegserklärung oder die Eröffnung der Feindseligkeiten gefolgt. Selbst wenn
dies aber in den nächsten Tagen der Fall sein sollte, so liegt noch kein Grund
vor, deshalb einen Weltbrand für unausbleiblich zu erachten. Außerordentlich
beruhigend muß es wirken, daß der Balkonkonflikt zunächst den Frieden zwischen
Italien und der Türkei in greifbare Nähe gerückt und damit einen offenen
Interessengegensatz zwischen Nom und Wien beseitigt hat. Immerhin bleibt
natürlich, so lange nicht eine einmütige Erklärung der Großmächte vorliegt,
eine gewisse Unsicherheit und Bedrohlichkeit der Lage bestehen. Politische Ge¬
fahren, selbst wenn sie entfernt und nicht unmittelbar bedrohlich sind, müssen
naturgemäß der wirtschaftlichen Entwicklung einen starken Hemmschuh anlegen.
Schon ein lokalisierter Balkankrieg wäre für Deutschland, das mit allen in
Betracht kommenden Staaten, vornehmlich aber mit der Türkei durch starke
Gläubiger- und Wirtschaftsinteressen verknüpft ist, ein beklagenswertes Ereignis.
Doch dürfte angesichts der ganz ungenügenden finanziellen Rüstung der kleinen
Balkanstaaten ein langdauernder Krieg kaum im Bereich der Möglichkeit liegen.
Anders aber und weitaus bedrohlicher läge die Sache, wenn die Möglichkeit
weiterer Verwicklungen in Betracht gezogen werden müßte, selbst unter der
Voraussetzung, daß Deutschland an diesen nicht unmittelbar beteiligt wäre.
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |