Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.Max Dreyer Am einsamsten steht er wohl in seinem musikalischen Gefühl. Er, der Krasser noch ist Dreyers musikalisches Bekenntnis über das Lied, das er Mögen diese Ausführungen von "tödlichem Radikalismus" sein, wir wollen Der ganzen großen Kunst geht Dreyers pietätloser Geist zu Leibe. Es ist eine große -- die größte Frage in der Kunst: wer muß denn Max Dreyer Am einsamsten steht er wohl in seinem musikalischen Gefühl. Er, der Krasser noch ist Dreyers musikalisches Bekenntnis über das Lied, das er Mögen diese Ausführungen von „tödlichem Radikalismus" sein, wir wollen Der ganzen großen Kunst geht Dreyers pietätloser Geist zu Leibe. Es ist eine große — die größte Frage in der Kunst: wer muß denn <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0103" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322504"/> <fw type="header" place="top"> Max Dreyer</fw><lb/> <p xml:id="ID_427"> Am einsamsten steht er wohl in seinem musikalischen Gefühl. Er, der<lb/> wahrlich kein musikverlassener Barbar ist — man lese, wie er die Seele der<lb/> Musik zu deuten weiß in manchem seiner Werke — lehnt dennoch mit Peter<lb/> Brandt die Öffentlichkeit der Musik ab, die „laut ohne Einsamkeit", die „nicht<lb/> die Reinheit der einsamen Stille hat".</p><lb/> <p xml:id="ID_428"> Krasser noch ist Dreyers musikalisches Bekenntnis über das Lied, das er<lb/> für eine minderwertige Kunstgattung erklärt. Eine Mischung zweier Künste,<lb/> wodurch beide unrein werden. Der feste und starke Sinn des Wortes werde<lb/> durch die Musik gewaltsam verändert. Und wiederum die Musik durch das<lb/> Wort gefesselt. „Die Musik ist da, wo das Wort noch nicht ist. Und<lb/> wiederum da, wo das Wort nicht mehr sein kann." „Drei Reiche sind<lb/> übereinander: die Wolken, über den Wolken die Sterne, über den Sternen<lb/> Sphärenklänge".</p><lb/> <p xml:id="ID_429"> Mögen diese Ausführungen von „tödlichem Radikalismus" sein, wir wollen<lb/> uus nicht bei Pastor Willers' Worten beruhigen: Starres Gedankentum der<lb/> Einseitigkeit, kalte Konstruktion einer Theorie. Wir wollen dem Dichter glauben,<lb/> daß er bei Liedern, und nun gar bei Opern, einen Zwiespalt gefühlt hat, eine<lb/> Unbefriedigung, über die er sich gedanklich Rechenschaft ablegte, um dann zu<lb/> so radikalen, aber gewiß ehrlichen und reinlichen Anschauungen zu kommen.</p><lb/> <p xml:id="ID_430"> Der ganzen großen Kunst geht Dreyers pietätloser Geist zu Leibe.<lb/> „Jeder Bauer, der die Erde pflügt, steht der Gottheit näher als der<lb/> Künstler." Und für die Menschheit sei das Wachstum des Korns wichtiger<lb/> als die Lösung irgend welcher Probleme. So grotesk das klingt, es ist ihm<lb/> keine Redensart. Mag es wieder einseitige Erfassung und Überspannung sein,<lb/> so ist es doch kein Wortspiel, obwohl er oft genug gezeigt hat, daß es ihm<lb/> heiliger Ernst mit der Kunst ist. Und dennoch: „Spiel ist Verstellung, spielen<lb/> sollte nur, wem's not tut, daß er sich verstellt". — Also ist die Kunst<lb/> ihm nur ein Spiel, und — so wird mancher sagen — es fehlt ihm nur<lb/> der tiefste Ernst und fehlt ihm nur die zwingende Notwendigkeit, daß er<lb/> schaffen muß?</p><lb/> <p xml:id="ID_431" next="#ID_432"> Es ist eine große — die größte Frage in der Kunst: wer muß denn<lb/> schaffen? Und wie viele glauben, schaffen zu müssen, über die in kurzen Jahren<lb/> der Wind der Vergessenheit weht? — Kunst und Leben, sie sind Schwestern,<lb/> urverwandt, die Äußerungen desselben Triebes. Alle Kunst ist Sehnsucht.<lb/> Manch einer hat die gewaltigsten Träume, Träume in Tönen, in Bildern,<lb/> Träume, die Dichtungen sind bis ins einzelste ausgeführt — und zum Kunst¬<lb/> werk für die anderen fehlt nur das eine, daß er Hand ans Werk legt. Das<lb/> Wichtigste allerdings — für die anderen, aber für den Künstler? Wäre Naffael<lb/> nicht auch ohne Hände der größte Maler gewesen? Buße nicht das Geist-<lb/> geschaffene seine größte Reinheit ein, wenn die Hand daran rührt? Und weiter:<lb/> entscheidet nicht oft der Zufall, ob ein Dichter zum „Künstler" wird? Wäre<lb/> Liliencron Schriftsteller geworden, wenn nicht das Leben sich ihm versagt hätte?</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0103]
Max Dreyer
Am einsamsten steht er wohl in seinem musikalischen Gefühl. Er, der
wahrlich kein musikverlassener Barbar ist — man lese, wie er die Seele der
Musik zu deuten weiß in manchem seiner Werke — lehnt dennoch mit Peter
Brandt die Öffentlichkeit der Musik ab, die „laut ohne Einsamkeit", die „nicht
die Reinheit der einsamen Stille hat".
Krasser noch ist Dreyers musikalisches Bekenntnis über das Lied, das er
für eine minderwertige Kunstgattung erklärt. Eine Mischung zweier Künste,
wodurch beide unrein werden. Der feste und starke Sinn des Wortes werde
durch die Musik gewaltsam verändert. Und wiederum die Musik durch das
Wort gefesselt. „Die Musik ist da, wo das Wort noch nicht ist. Und
wiederum da, wo das Wort nicht mehr sein kann." „Drei Reiche sind
übereinander: die Wolken, über den Wolken die Sterne, über den Sternen
Sphärenklänge".
Mögen diese Ausführungen von „tödlichem Radikalismus" sein, wir wollen
uus nicht bei Pastor Willers' Worten beruhigen: Starres Gedankentum der
Einseitigkeit, kalte Konstruktion einer Theorie. Wir wollen dem Dichter glauben,
daß er bei Liedern, und nun gar bei Opern, einen Zwiespalt gefühlt hat, eine
Unbefriedigung, über die er sich gedanklich Rechenschaft ablegte, um dann zu
so radikalen, aber gewiß ehrlichen und reinlichen Anschauungen zu kommen.
Der ganzen großen Kunst geht Dreyers pietätloser Geist zu Leibe.
„Jeder Bauer, der die Erde pflügt, steht der Gottheit näher als der
Künstler." Und für die Menschheit sei das Wachstum des Korns wichtiger
als die Lösung irgend welcher Probleme. So grotesk das klingt, es ist ihm
keine Redensart. Mag es wieder einseitige Erfassung und Überspannung sein,
so ist es doch kein Wortspiel, obwohl er oft genug gezeigt hat, daß es ihm
heiliger Ernst mit der Kunst ist. Und dennoch: „Spiel ist Verstellung, spielen
sollte nur, wem's not tut, daß er sich verstellt". — Also ist die Kunst
ihm nur ein Spiel, und — so wird mancher sagen — es fehlt ihm nur
der tiefste Ernst und fehlt ihm nur die zwingende Notwendigkeit, daß er
schaffen muß?
Es ist eine große — die größte Frage in der Kunst: wer muß denn
schaffen? Und wie viele glauben, schaffen zu müssen, über die in kurzen Jahren
der Wind der Vergessenheit weht? — Kunst und Leben, sie sind Schwestern,
urverwandt, die Äußerungen desselben Triebes. Alle Kunst ist Sehnsucht.
Manch einer hat die gewaltigsten Träume, Träume in Tönen, in Bildern,
Träume, die Dichtungen sind bis ins einzelste ausgeführt — und zum Kunst¬
werk für die anderen fehlt nur das eine, daß er Hand ans Werk legt. Das
Wichtigste allerdings — für die anderen, aber für den Künstler? Wäre Naffael
nicht auch ohne Hände der größte Maler gewesen? Buße nicht das Geist-
geschaffene seine größte Reinheit ein, wenn die Hand daran rührt? Und weiter:
entscheidet nicht oft der Zufall, ob ein Dichter zum „Künstler" wird? Wäre
Liliencron Schriftsteller geworden, wenn nicht das Leben sich ihm versagt hätte?
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