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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Städtische Musterlichtbildbühnen

jetzt im kinematographischen Filu seinen vollendetsten Ausdruck findet? Mit der
naturalistischen Kraft und Treue des kinematographischen Films kann aber das
Theater nicht mehr konkurrieren. Daher wird die moderne Bühne allerdings
das naturalistische Prinzip -- nicht zu ihrem eigenen Schaden -- immer mehr
und mehr aufgeben müssen, soweit sie es nicht schon jetzt getan hat.

Aber nicht nur formal hat unser Publikum im Theater eine Erziehung
für den Kinematographen erhalten. Unterscheiden sich denn die Stoffe moderner
Durchschnittsdramatik wirklich so außerordentlich stark von jenen Stoffen, die
man in den besseren Films behandelt sieht? Gleichen die Durchschnittslustspiele
in ihrer harmlosen Technik nicht vielfach dem amerikanischen Humor mancher
Films, die Paprikaerotik mancher importierter Schwank- und Gesellschaftsdramen
den Stoffen kinematographischer Sensationsfilms? Und steigt man gar erst zu
jenen Bühnen herab, die an der Grenze der Varietös stehen, so wird die
Übereinstimmung noch größer: man vergleiche gewisse Sketches mit Sensations¬
films, gewisse Burlesken mit der Komik italienischer oder französischer Films!

Jemand, dem die Blüte und der Hochstand unseres modernen Theaters
als eines wirklichen Kulturfaktors am Herzen liegt, der kann es nicht ungern
sehen, wenn das Theater auf den eben berührten Gebieten von dem Kinemato¬
graphentheater aus dem Felde geschlagen wird und wenn es deren Bearbeitung
in Zukunft vorzugsweise diesem überläßt. Wenn durch diese Gebietsverschiebung
manche "Theater" zugrunde gehen oder sich in Kinematographentheater um¬
wandeln, so wird hierdurch in der Tat ein kultureller Verlust kaum hervor¬
gerufen werden.

Auf dem Gebiete des bühnenmäßigen Theaterwesens kann sogar durch
eine solche reinliche Scheidung eine sehr heilsame Folgeerscheinung eintreten.
Man wird die Kräfte, die bisher für den Anbau jener untersten Gebiete des
Theaters gebraucht wurden, sparen, und man wird diese Summe von Energie
jener Aufgabe dienstbar machen können, deren Lösung allein dem Theater zum
Siege, zum wirtschaftlichen sowohl wie zum kulturellen Siege über seinen Kon¬
kurrenten verhelfen kann, nämlich der Reform des Theaters. Durch die Ver¬
drängung des Theaters aus jenen naturalistischen und realistischen Stoffgebieten
von dem Kinematographen wird auch allen denen, die es noch nicht gerne
zugeben möchten, die Erkenntnis aufgezwungen werden, daß die Reform der
Schaubühne bei der Verfolgung naturalistischer Prinzipien formeller oder inhalt¬
licher Art nicht erreicht werden kann.

Verzichtet die Bühne dagegen zugunsten der Lichtbildbühne auf das natura¬
listische Prinzip und kultiviert dafür die ihr bleibenden Ausdrucksmittel, stilisiert
ihre Formen- und Farbenwerte, pflegt die mimischen, sprachlichen, dichterischen
Mittel und Werte, die auf ihr allein zur Geltung kommen können, so wird
das Publikum vor der Schaubühne immer noch vielerlei finden, was ihm das
Kinematographentheater niemals bieten kann. Durch die Beschränkung und
Vertiefung zugunsten gewisser ihr allein eigentümlicher Probleme wird unsere


Städtische Musterlichtbildbühnen

jetzt im kinematographischen Filu seinen vollendetsten Ausdruck findet? Mit der
naturalistischen Kraft und Treue des kinematographischen Films kann aber das
Theater nicht mehr konkurrieren. Daher wird die moderne Bühne allerdings
das naturalistische Prinzip — nicht zu ihrem eigenen Schaden — immer mehr
und mehr aufgeben müssen, soweit sie es nicht schon jetzt getan hat.

Aber nicht nur formal hat unser Publikum im Theater eine Erziehung
für den Kinematographen erhalten. Unterscheiden sich denn die Stoffe moderner
Durchschnittsdramatik wirklich so außerordentlich stark von jenen Stoffen, die
man in den besseren Films behandelt sieht? Gleichen die Durchschnittslustspiele
in ihrer harmlosen Technik nicht vielfach dem amerikanischen Humor mancher
Films, die Paprikaerotik mancher importierter Schwank- und Gesellschaftsdramen
den Stoffen kinematographischer Sensationsfilms? Und steigt man gar erst zu
jenen Bühnen herab, die an der Grenze der Varietös stehen, so wird die
Übereinstimmung noch größer: man vergleiche gewisse Sketches mit Sensations¬
films, gewisse Burlesken mit der Komik italienischer oder französischer Films!

Jemand, dem die Blüte und der Hochstand unseres modernen Theaters
als eines wirklichen Kulturfaktors am Herzen liegt, der kann es nicht ungern
sehen, wenn das Theater auf den eben berührten Gebieten von dem Kinemato¬
graphentheater aus dem Felde geschlagen wird und wenn es deren Bearbeitung
in Zukunft vorzugsweise diesem überläßt. Wenn durch diese Gebietsverschiebung
manche „Theater" zugrunde gehen oder sich in Kinematographentheater um¬
wandeln, so wird hierdurch in der Tat ein kultureller Verlust kaum hervor¬
gerufen werden.

Auf dem Gebiete des bühnenmäßigen Theaterwesens kann sogar durch
eine solche reinliche Scheidung eine sehr heilsame Folgeerscheinung eintreten.
Man wird die Kräfte, die bisher für den Anbau jener untersten Gebiete des
Theaters gebraucht wurden, sparen, und man wird diese Summe von Energie
jener Aufgabe dienstbar machen können, deren Lösung allein dem Theater zum
Siege, zum wirtschaftlichen sowohl wie zum kulturellen Siege über seinen Kon¬
kurrenten verhelfen kann, nämlich der Reform des Theaters. Durch die Ver¬
drängung des Theaters aus jenen naturalistischen und realistischen Stoffgebieten
von dem Kinematographen wird auch allen denen, die es noch nicht gerne
zugeben möchten, die Erkenntnis aufgezwungen werden, daß die Reform der
Schaubühne bei der Verfolgung naturalistischer Prinzipien formeller oder inhalt¬
licher Art nicht erreicht werden kann.

Verzichtet die Bühne dagegen zugunsten der Lichtbildbühne auf das natura¬
listische Prinzip und kultiviert dafür die ihr bleibenden Ausdrucksmittel, stilisiert
ihre Formen- und Farbenwerte, pflegt die mimischen, sprachlichen, dichterischen
Mittel und Werte, die auf ihr allein zur Geltung kommen können, so wird
das Publikum vor der Schaubühne immer noch vielerlei finden, was ihm das
Kinematographentheater niemals bieten kann. Durch die Beschränkung und
Vertiefung zugunsten gewisser ihr allein eigentümlicher Probleme wird unsere


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[0618] Städtische Musterlichtbildbühnen jetzt im kinematographischen Filu seinen vollendetsten Ausdruck findet? Mit der naturalistischen Kraft und Treue des kinematographischen Films kann aber das Theater nicht mehr konkurrieren. Daher wird die moderne Bühne allerdings das naturalistische Prinzip — nicht zu ihrem eigenen Schaden — immer mehr und mehr aufgeben müssen, soweit sie es nicht schon jetzt getan hat. Aber nicht nur formal hat unser Publikum im Theater eine Erziehung für den Kinematographen erhalten. Unterscheiden sich denn die Stoffe moderner Durchschnittsdramatik wirklich so außerordentlich stark von jenen Stoffen, die man in den besseren Films behandelt sieht? Gleichen die Durchschnittslustspiele in ihrer harmlosen Technik nicht vielfach dem amerikanischen Humor mancher Films, die Paprikaerotik mancher importierter Schwank- und Gesellschaftsdramen den Stoffen kinematographischer Sensationsfilms? Und steigt man gar erst zu jenen Bühnen herab, die an der Grenze der Varietös stehen, so wird die Übereinstimmung noch größer: man vergleiche gewisse Sketches mit Sensations¬ films, gewisse Burlesken mit der Komik italienischer oder französischer Films! Jemand, dem die Blüte und der Hochstand unseres modernen Theaters als eines wirklichen Kulturfaktors am Herzen liegt, der kann es nicht ungern sehen, wenn das Theater auf den eben berührten Gebieten von dem Kinemato¬ graphentheater aus dem Felde geschlagen wird und wenn es deren Bearbeitung in Zukunft vorzugsweise diesem überläßt. Wenn durch diese Gebietsverschiebung manche „Theater" zugrunde gehen oder sich in Kinematographentheater um¬ wandeln, so wird hierdurch in der Tat ein kultureller Verlust kaum hervor¬ gerufen werden. Auf dem Gebiete des bühnenmäßigen Theaterwesens kann sogar durch eine solche reinliche Scheidung eine sehr heilsame Folgeerscheinung eintreten. Man wird die Kräfte, die bisher für den Anbau jener untersten Gebiete des Theaters gebraucht wurden, sparen, und man wird diese Summe von Energie jener Aufgabe dienstbar machen können, deren Lösung allein dem Theater zum Siege, zum wirtschaftlichen sowohl wie zum kulturellen Siege über seinen Kon¬ kurrenten verhelfen kann, nämlich der Reform des Theaters. Durch die Ver¬ drängung des Theaters aus jenen naturalistischen und realistischen Stoffgebieten von dem Kinematographen wird auch allen denen, die es noch nicht gerne zugeben möchten, die Erkenntnis aufgezwungen werden, daß die Reform der Schaubühne bei der Verfolgung naturalistischer Prinzipien formeller oder inhalt¬ licher Art nicht erreicht werden kann. Verzichtet die Bühne dagegen zugunsten der Lichtbildbühne auf das natura¬ listische Prinzip und kultiviert dafür die ihr bleibenden Ausdrucksmittel, stilisiert ihre Formen- und Farbenwerte, pflegt die mimischen, sprachlichen, dichterischen Mittel und Werte, die auf ihr allein zur Geltung kommen können, so wird das Publikum vor der Schaubühne immer noch vielerlei finden, was ihm das Kinematographentheater niemals bieten kann. Durch die Beschränkung und Vertiefung zugunsten gewisser ihr allein eigentümlicher Probleme wird unsere

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/618>, abgerufen am 22.07.2024.