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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Neuer Glauben

so geschah die materielle Entfaltung auf Kosten der höheren geistigen Leistungen;
Deutschland, bis in die fünfziger Jahre hinein zurückgehalten, entwickelte sich
besonders schnell in den bezeichneten Richtungen, da es so viel nachzuholen
hatte; man kann sich also nicht wundern, wenn hier die relative Barbarei
besonders auffällig war.

Die Kirche organisiert zwar das religiöse Leben der Völker, aber sie ver¬
äußerlicht es auch, und die natürliche Entwicklung, wenn keine Störung eintritt,
geht dahin, daß zuletzt der religiöse Inhalt schwindet und nur die leere Form
übrigbleibt. Irgend etwas Wertvolles steckt aber immer noch auch in der leeren
Form. Wenn schon die protestantische Gestalt des Christentums längst tot ist,
so ist erst recht tot die katholische Gestalt; trotzdem bricht selbst in so geringen
Verfolgungen wie der Kulturkampf in Deutschland, vor kurzem das entsprechende
staatliche Vorgehen in Frankreich, aus der toten Asche doch wieder eine Art
religiöser Begeisterung hervor. Sie ist nur durch den Druck hervorgerufen und
schwindet mit diesem: eine Bedeutung für die Zukunft der modernen Nationen
hat sie nicht. Wie tot das Christentum heute ist, das sieht man am besten an
der Geschichte der Heilsarmee. Die Bewegung wird ausgezeichnet geleitet; die
Mittel, durch welche man auf Menschen wirken kann, sind genial angewendet;
es ist sofort ein Bevölkerungsteil interessiert, welcher in seiner Not und Ver¬
zweiflung der Religion am zugänglichsten ist: und doch ist an Ernsthaftem
nichts weiter herausgekommen wie unzulängliche soziale Versuche, denn den
religiösen Erfolg kann man doch nicht ernsthaft nehmen, wenn er sich eben nur
auf die Leute beschränkt, die nach ihrer inneren oder äußeren Situation jeden
Strohhalm zu ihrer Rettung ergreifen.

Eine Bewegung, die im vergangenen Jahr ein gewisses Aufsehen machte,
wurde durch die Pensionierung des protestantischen Pfarrers Jatho verursacht.
Man hat die protestantische Kirche hart geschmäht wegen der "Verfolgung" des
Mannes und an ihn und an die Bewegung, welche sein ja nicht so außer¬
ordentliches Martyrium hervorrief, gewisse Erwartungen geknüpft.

Der Protestantismus ist entstanden aus der religiösen Freiheit des ein¬
zelnen, genau so wie das Christentum überhaupt; noch heute behauptet er die
Theorie von dem Laienpriestertum. Indem er sich dann mit jener nordi aciietio
in aäjeeto, die nun einmal jede historische Erscheinung auszeichnet, als prote¬
stantische Kirche konstituierte, kam es naturgemäß bald zu wirklichen Ketzer¬
verfolgungen, und er, wie der Katholizismus, würde sie noch heute betreiben,
wenn der moderne Staat es erlaubte. Die Pastoren sind Beamte dieser Kirche,
welche angestellt werden und Gehalt bekommen dafür, daß sie die einmal von
der Kirche angenommenen Ansichten lehren; bekanntlich müssen sie sich bei ihrem
Amtsantritt ausdrücklich dazu verpflichten. Wie nun alle diese Verhältnisse
durch bewußte und unbewußte Täuschung sehr verworren sind, kann ein Mann von
Überzeugungstreue auf die Idee kommen, daß er lehren müsse, nicht was ihm amts¬
mäßig aufgetragen ist und wofür er bezahlt bekommt, sondern was ihm sein "Ge-


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so geschah die materielle Entfaltung auf Kosten der höheren geistigen Leistungen;
Deutschland, bis in die fünfziger Jahre hinein zurückgehalten, entwickelte sich
besonders schnell in den bezeichneten Richtungen, da es so viel nachzuholen
hatte; man kann sich also nicht wundern, wenn hier die relative Barbarei
besonders auffällig war.

Die Kirche organisiert zwar das religiöse Leben der Völker, aber sie ver¬
äußerlicht es auch, und die natürliche Entwicklung, wenn keine Störung eintritt,
geht dahin, daß zuletzt der religiöse Inhalt schwindet und nur die leere Form
übrigbleibt. Irgend etwas Wertvolles steckt aber immer noch auch in der leeren
Form. Wenn schon die protestantische Gestalt des Christentums längst tot ist,
so ist erst recht tot die katholische Gestalt; trotzdem bricht selbst in so geringen
Verfolgungen wie der Kulturkampf in Deutschland, vor kurzem das entsprechende
staatliche Vorgehen in Frankreich, aus der toten Asche doch wieder eine Art
religiöser Begeisterung hervor. Sie ist nur durch den Druck hervorgerufen und
schwindet mit diesem: eine Bedeutung für die Zukunft der modernen Nationen
hat sie nicht. Wie tot das Christentum heute ist, das sieht man am besten an
der Geschichte der Heilsarmee. Die Bewegung wird ausgezeichnet geleitet; die
Mittel, durch welche man auf Menschen wirken kann, sind genial angewendet;
es ist sofort ein Bevölkerungsteil interessiert, welcher in seiner Not und Ver¬
zweiflung der Religion am zugänglichsten ist: und doch ist an Ernsthaftem
nichts weiter herausgekommen wie unzulängliche soziale Versuche, denn den
religiösen Erfolg kann man doch nicht ernsthaft nehmen, wenn er sich eben nur
auf die Leute beschränkt, die nach ihrer inneren oder äußeren Situation jeden
Strohhalm zu ihrer Rettung ergreifen.

Eine Bewegung, die im vergangenen Jahr ein gewisses Aufsehen machte,
wurde durch die Pensionierung des protestantischen Pfarrers Jatho verursacht.
Man hat die protestantische Kirche hart geschmäht wegen der „Verfolgung" des
Mannes und an ihn und an die Bewegung, welche sein ja nicht so außer¬
ordentliches Martyrium hervorrief, gewisse Erwartungen geknüpft.

Der Protestantismus ist entstanden aus der religiösen Freiheit des ein¬
zelnen, genau so wie das Christentum überhaupt; noch heute behauptet er die
Theorie von dem Laienpriestertum. Indem er sich dann mit jener nordi aciietio
in aäjeeto, die nun einmal jede historische Erscheinung auszeichnet, als prote¬
stantische Kirche konstituierte, kam es naturgemäß bald zu wirklichen Ketzer¬
verfolgungen, und er, wie der Katholizismus, würde sie noch heute betreiben,
wenn der moderne Staat es erlaubte. Die Pastoren sind Beamte dieser Kirche,
welche angestellt werden und Gehalt bekommen dafür, daß sie die einmal von
der Kirche angenommenen Ansichten lehren; bekanntlich müssen sie sich bei ihrem
Amtsantritt ausdrücklich dazu verpflichten. Wie nun alle diese Verhältnisse
durch bewußte und unbewußte Täuschung sehr verworren sind, kann ein Mann von
Überzeugungstreue auf die Idee kommen, daß er lehren müsse, nicht was ihm amts¬
mäßig aufgetragen ist und wofür er bezahlt bekommt, sondern was ihm sein „Ge-


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[0604] Neuer Glauben so geschah die materielle Entfaltung auf Kosten der höheren geistigen Leistungen; Deutschland, bis in die fünfziger Jahre hinein zurückgehalten, entwickelte sich besonders schnell in den bezeichneten Richtungen, da es so viel nachzuholen hatte; man kann sich also nicht wundern, wenn hier die relative Barbarei besonders auffällig war. Die Kirche organisiert zwar das religiöse Leben der Völker, aber sie ver¬ äußerlicht es auch, und die natürliche Entwicklung, wenn keine Störung eintritt, geht dahin, daß zuletzt der religiöse Inhalt schwindet und nur die leere Form übrigbleibt. Irgend etwas Wertvolles steckt aber immer noch auch in der leeren Form. Wenn schon die protestantische Gestalt des Christentums längst tot ist, so ist erst recht tot die katholische Gestalt; trotzdem bricht selbst in so geringen Verfolgungen wie der Kulturkampf in Deutschland, vor kurzem das entsprechende staatliche Vorgehen in Frankreich, aus der toten Asche doch wieder eine Art religiöser Begeisterung hervor. Sie ist nur durch den Druck hervorgerufen und schwindet mit diesem: eine Bedeutung für die Zukunft der modernen Nationen hat sie nicht. Wie tot das Christentum heute ist, das sieht man am besten an der Geschichte der Heilsarmee. Die Bewegung wird ausgezeichnet geleitet; die Mittel, durch welche man auf Menschen wirken kann, sind genial angewendet; es ist sofort ein Bevölkerungsteil interessiert, welcher in seiner Not und Ver¬ zweiflung der Religion am zugänglichsten ist: und doch ist an Ernsthaftem nichts weiter herausgekommen wie unzulängliche soziale Versuche, denn den religiösen Erfolg kann man doch nicht ernsthaft nehmen, wenn er sich eben nur auf die Leute beschränkt, die nach ihrer inneren oder äußeren Situation jeden Strohhalm zu ihrer Rettung ergreifen. Eine Bewegung, die im vergangenen Jahr ein gewisses Aufsehen machte, wurde durch die Pensionierung des protestantischen Pfarrers Jatho verursacht. Man hat die protestantische Kirche hart geschmäht wegen der „Verfolgung" des Mannes und an ihn und an die Bewegung, welche sein ja nicht so außer¬ ordentliches Martyrium hervorrief, gewisse Erwartungen geknüpft. Der Protestantismus ist entstanden aus der religiösen Freiheit des ein¬ zelnen, genau so wie das Christentum überhaupt; noch heute behauptet er die Theorie von dem Laienpriestertum. Indem er sich dann mit jener nordi aciietio in aäjeeto, die nun einmal jede historische Erscheinung auszeichnet, als prote¬ stantische Kirche konstituierte, kam es naturgemäß bald zu wirklichen Ketzer¬ verfolgungen, und er, wie der Katholizismus, würde sie noch heute betreiben, wenn der moderne Staat es erlaubte. Die Pastoren sind Beamte dieser Kirche, welche angestellt werden und Gehalt bekommen dafür, daß sie die einmal von der Kirche angenommenen Ansichten lehren; bekanntlich müssen sie sich bei ihrem Amtsantritt ausdrücklich dazu verpflichten. Wie nun alle diese Verhältnisse durch bewußte und unbewußte Täuschung sehr verworren sind, kann ein Mann von Überzeugungstreue auf die Idee kommen, daß er lehren müsse, nicht was ihm amts¬ mäßig aufgetragen ist und wofür er bezahlt bekommt, sondern was ihm sein „Ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/604>, abgerufen am 22.07.2024.