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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Der Reichskanzler und die Parteien

Im Septemberheft der Deutschen Rundschau erschien ein Leitaufsatz, der von
der konservativen Presse zum mindesten als Ausfluß Bethmannscher Inspiration
hingenommen wurde; es gibt sogar Hellhörige, die glauben, den Kanzler direkt
für das Manuskript verantwortlich machen zu sollen. Gegen die letzte Auffassung
spricht zweierlei: der Ausfall gegen Rußland und die besonders scharfe Stellung¬
nahme gegen die konservative Partei. Einer Regierung, mit der ein Staats¬
mann eben zu freundschaftlicher Verständigung über ernsthafte Dinge gekommen
ist, sagt man nicht Malicen, wie sie über Rußland in dem Artikel enthalten
sind, lediglich um der Regierung eines anderen Landes, mit der man auf dem
Wege der Verständigung nicht so recht voran kommt, umso größere Avancen
machen zu können. Und einer Partei, ohne d"ren selbstloseste Unterstützung das
als wichtigste politische Aufgabe der inneren Politik bezeichnete Problem nicht
durchführbar ist, sagt man keine Grobheiten für eine längst überwundene und
verwundere Kränkung aus dem Wahlkampf. Selbst die Angriffe gegen die
sogenannten nationalen Vereine und Verbände erscheinen angesichts der Recht¬
fertigung, die die Reichsleitung für ihre Haltung in weltpolitischen Fragen
gefunden hat, im Augenblick überflüssig. Daß sie im übrigen zutreffend sind
und die Ansichten immer zahlreicher werdender Patrioten wiedergeben, ist eine
Sache für sich.

Immerhin steht so manches in dem Artikel, was auf eine tiefere Ver¬
trautheit mit den Absichten des Kanzlers schließen läßt. "Die derzeitigen Auf¬
gaben unserer auswärtigen Politik erschöpfen sich" in der Tat "nahezu in der
Lösung des deutsch-englischen Problems," was natürlich nicht ausschließt, daß
Einzelfragen, wie etwa gegenwärtig das Balkanproblem, zeitweilig in den Vorder¬
grund treten, alle anderen verdunkelnd. Auch in der kolonialen Betätigung
sieht der Kanzler "zurzeit noch keine" Existenzfrage; die Regierung des Kaisers
sieht ihr nächstes Ziel nicht in der Eroberung neuer Gebiete, sondern darin,
"die vorhandenen im Innern auszubauen". Der Kern des ganzen Artikels ist
aber in dem zu suchen, was über die Aufgaben der inneren Politik angedeutet
ist. Da heißt es: "Der Beweis für die Notwendigkeit eines wirklich
großen Kolonialreichs muß aus Prophezeiungen geschöpft werden,
die Gegenwart erbringt ihn nicht. Die Auswanderung hat nicht
zu- sondern abgenommen, und die innere Kolonisation verlangt
ihre Rechte; unsere Industrie blüht, ja nimmt eine beherrschende
Stellung ein. . . ."

In diesen beiden Sätzen steht ein den Bedürfnissen der Nation entsprechendes
Wirtschaftsprogramm, das den weltpolitischen Aufgaben des Deutschtums angepaßt
ist; hier kommt ein Nückschauen zum Ausdruck, das sich wohl bewußt geworden
ist, wie unser mächtiges Emporblühen nicht nur Gutes geschaffen, sondern auch
Gutes gefährdet hat. Darum dürfen die Worte "innere Kolonisation" ruhig
durch Konsolidation im Innern übersetzt werden. Und daß die Übersetzung
.zutreffend ist, lehrt die Haltung der für das Wirtschaftsleben maßgebenden


Der Reichskanzler und die Parteien

Im Septemberheft der Deutschen Rundschau erschien ein Leitaufsatz, der von
der konservativen Presse zum mindesten als Ausfluß Bethmannscher Inspiration
hingenommen wurde; es gibt sogar Hellhörige, die glauben, den Kanzler direkt
für das Manuskript verantwortlich machen zu sollen. Gegen die letzte Auffassung
spricht zweierlei: der Ausfall gegen Rußland und die besonders scharfe Stellung¬
nahme gegen die konservative Partei. Einer Regierung, mit der ein Staats¬
mann eben zu freundschaftlicher Verständigung über ernsthafte Dinge gekommen
ist, sagt man nicht Malicen, wie sie über Rußland in dem Artikel enthalten
sind, lediglich um der Regierung eines anderen Landes, mit der man auf dem
Wege der Verständigung nicht so recht voran kommt, umso größere Avancen
machen zu können. Und einer Partei, ohne d«ren selbstloseste Unterstützung das
als wichtigste politische Aufgabe der inneren Politik bezeichnete Problem nicht
durchführbar ist, sagt man keine Grobheiten für eine längst überwundene und
verwundere Kränkung aus dem Wahlkampf. Selbst die Angriffe gegen die
sogenannten nationalen Vereine und Verbände erscheinen angesichts der Recht¬
fertigung, die die Reichsleitung für ihre Haltung in weltpolitischen Fragen
gefunden hat, im Augenblick überflüssig. Daß sie im übrigen zutreffend sind
und die Ansichten immer zahlreicher werdender Patrioten wiedergeben, ist eine
Sache für sich.

Immerhin steht so manches in dem Artikel, was auf eine tiefere Ver¬
trautheit mit den Absichten des Kanzlers schließen läßt. „Die derzeitigen Auf¬
gaben unserer auswärtigen Politik erschöpfen sich" in der Tat „nahezu in der
Lösung des deutsch-englischen Problems," was natürlich nicht ausschließt, daß
Einzelfragen, wie etwa gegenwärtig das Balkanproblem, zeitweilig in den Vorder¬
grund treten, alle anderen verdunkelnd. Auch in der kolonialen Betätigung
sieht der Kanzler „zurzeit noch keine" Existenzfrage; die Regierung des Kaisers
sieht ihr nächstes Ziel nicht in der Eroberung neuer Gebiete, sondern darin,
„die vorhandenen im Innern auszubauen". Der Kern des ganzen Artikels ist
aber in dem zu suchen, was über die Aufgaben der inneren Politik angedeutet
ist. Da heißt es: „Der Beweis für die Notwendigkeit eines wirklich
großen Kolonialreichs muß aus Prophezeiungen geschöpft werden,
die Gegenwart erbringt ihn nicht. Die Auswanderung hat nicht
zu- sondern abgenommen, und die innere Kolonisation verlangt
ihre Rechte; unsere Industrie blüht, ja nimmt eine beherrschende
Stellung ein. . . ."

In diesen beiden Sätzen steht ein den Bedürfnissen der Nation entsprechendes
Wirtschaftsprogramm, das den weltpolitischen Aufgaben des Deutschtums angepaßt
ist; hier kommt ein Nückschauen zum Ausdruck, das sich wohl bewußt geworden
ist, wie unser mächtiges Emporblühen nicht nur Gutes geschaffen, sondern auch
Gutes gefährdet hat. Darum dürfen die Worte „innere Kolonisation" ruhig
durch Konsolidation im Innern übersetzt werden. Und daß die Übersetzung
.zutreffend ist, lehrt die Haltung der für das Wirtschaftsleben maßgebenden


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[0547] Der Reichskanzler und die Parteien Im Septemberheft der Deutschen Rundschau erschien ein Leitaufsatz, der von der konservativen Presse zum mindesten als Ausfluß Bethmannscher Inspiration hingenommen wurde; es gibt sogar Hellhörige, die glauben, den Kanzler direkt für das Manuskript verantwortlich machen zu sollen. Gegen die letzte Auffassung spricht zweierlei: der Ausfall gegen Rußland und die besonders scharfe Stellung¬ nahme gegen die konservative Partei. Einer Regierung, mit der ein Staats¬ mann eben zu freundschaftlicher Verständigung über ernsthafte Dinge gekommen ist, sagt man nicht Malicen, wie sie über Rußland in dem Artikel enthalten sind, lediglich um der Regierung eines anderen Landes, mit der man auf dem Wege der Verständigung nicht so recht voran kommt, umso größere Avancen machen zu können. Und einer Partei, ohne d«ren selbstloseste Unterstützung das als wichtigste politische Aufgabe der inneren Politik bezeichnete Problem nicht durchführbar ist, sagt man keine Grobheiten für eine längst überwundene und verwundere Kränkung aus dem Wahlkampf. Selbst die Angriffe gegen die sogenannten nationalen Vereine und Verbände erscheinen angesichts der Recht¬ fertigung, die die Reichsleitung für ihre Haltung in weltpolitischen Fragen gefunden hat, im Augenblick überflüssig. Daß sie im übrigen zutreffend sind und die Ansichten immer zahlreicher werdender Patrioten wiedergeben, ist eine Sache für sich. Immerhin steht so manches in dem Artikel, was auf eine tiefere Ver¬ trautheit mit den Absichten des Kanzlers schließen läßt. „Die derzeitigen Auf¬ gaben unserer auswärtigen Politik erschöpfen sich" in der Tat „nahezu in der Lösung des deutsch-englischen Problems," was natürlich nicht ausschließt, daß Einzelfragen, wie etwa gegenwärtig das Balkanproblem, zeitweilig in den Vorder¬ grund treten, alle anderen verdunkelnd. Auch in der kolonialen Betätigung sieht der Kanzler „zurzeit noch keine" Existenzfrage; die Regierung des Kaisers sieht ihr nächstes Ziel nicht in der Eroberung neuer Gebiete, sondern darin, „die vorhandenen im Innern auszubauen". Der Kern des ganzen Artikels ist aber in dem zu suchen, was über die Aufgaben der inneren Politik angedeutet ist. Da heißt es: „Der Beweis für die Notwendigkeit eines wirklich großen Kolonialreichs muß aus Prophezeiungen geschöpft werden, die Gegenwart erbringt ihn nicht. Die Auswanderung hat nicht zu- sondern abgenommen, und die innere Kolonisation verlangt ihre Rechte; unsere Industrie blüht, ja nimmt eine beherrschende Stellung ein. . . ." In diesen beiden Sätzen steht ein den Bedürfnissen der Nation entsprechendes Wirtschaftsprogramm, das den weltpolitischen Aufgaben des Deutschtums angepaßt ist; hier kommt ein Nückschauen zum Ausdruck, das sich wohl bewußt geworden ist, wie unser mächtiges Emporblühen nicht nur Gutes geschaffen, sondern auch Gutes gefährdet hat. Darum dürfen die Worte „innere Kolonisation" ruhig durch Konsolidation im Innern übersetzt werden. Und daß die Übersetzung .zutreffend ist, lehrt die Haltung der für das Wirtschaftsleben maßgebenden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/547>, abgerufen am 03.07.2024.