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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Der Reichskanzler und die Parteien

Solche Losungen aber liegen meist in Gefühlsmomenten, vielfach in bösen
Instinkten, im Machtkitzel usw. Bei den konservativ gerichteten Parteien wacht
dann gewöhnlich der Antisemitismus auf und treibt Blasen, während die
Liberalen gegen die Verfassung Sturm laufen und sich schrecklich demo¬
kratisch geben. Die Regierung aber wird zwar in Einzelfragen selten eine ge¬
schlossene Opposition, aber auch ebenso selten eine geschlossene Gefolgschaft haben.

Diese theoretische Erwägung findet sür die Verhältnisse in Deutschland-
Preußen eine bestätigende Illustration: der fünfte Kanzler hat in den drei
Jahren seiner Amtstätigkeit keine geschlossene Opposition zustande kommen lassen,
aber er hat auch noch keine Gefolgschaft, die mit ihm durch dick und dünn
ginge. Immerhin läßt sich eins nicht verkennen: die Zahl der Stimmen, die dem
Kanzler zu vertrauen beginnen, wächst -- sie wächst langsam, dafür aber in
allen Lagern. Es wird erkannt, daß Herrn von Bethmann eines fremd ist:
Genügsamkeit in Scheinerfolgen. Diese Erkenntnis muß in allen positiv
gestimmten Charakteren zum wenigsten Sympathie, wenn nicht gar Vertrauen
auslösen, gleichgültig, ob man im übrigen konservativ, liberal oder demo¬
kratisch denkt.

Dieser zweifellosen Eroberung stehen aber als hemmende Momente gegen¬
über: die Beobachtung, daß der fünfte Kanzler im politischen Kampf scheinbar
eilig kapituliert, wo nach anderer Auffassung noch Mittel angewendet werden
könnten, den Willen der Negierung durchzusetzen und zweitens die allgemeine
Unkenntnis der Ziele des Kanzlers.

Über die Mittel für die Durchsetzung von konkreten Aufgaben wird sich
immer streiten lassen: der Temperamentvolle wird zu wenig heißen, was der
Kühle schon zu viel nennt; der Politiker konservativer Richtung wird ein Aus¬
nahmegesetz gut nennen, wo der Liberale sich in seinen heiligsten Empfindungen
getroffen fühlt; der Chauvinist beurteilt wirtschaftliche Vorgänge nach Gefühls¬
momenten, der kühle Volkswirt unterschätzt nur zu leicht die Imponderabilien.
Das wichtigste aber: nicht alle, die in der Politik glauben mitsprechen zu müssen,
find in der Materie so bewandert, wie man nach der Schroffheit ihrer Kritik
sollte annehmen dürfen. Für den Publizisten, dessen Aufgabe es u. a. ist, die in der
Tagespolitik tatsächlich gegeneinander wirkenden Kräfte zu erkennen und bewertend
darzustellen, ist daher mit solchen Urteilen und Äußerungen wenig anzufangen,
sie werden in erster Linie den Chronisten interessieren; wirkliche Klarheit aber
wird aus ihnen eigentlich nur der nach uns lebende Historiker gewinnen, dem
sich besser als dem Zeitgenossen die Ziele unserer Regierenden offenbaren können.
Erst wenn man die Absichten und allgemeinen Ziele des Reichskanzlers kennt,
wird man ermessen können, ob die von ihm angewandten Mittel zu ihrer Durch¬
setzung ausgereicht haben oder nicht, ob in diesem Staatsmanne ein starker Wille
zur Tat klug gehemmt wird, oder ob wir mit scheuem Zurückweichen vor ent¬
scheidenden Zugriff zu rechnen haben.

Wie weit sind wir nun über die Ziele des Kanzlers unterrichtet?


Der Reichskanzler und die Parteien

Solche Losungen aber liegen meist in Gefühlsmomenten, vielfach in bösen
Instinkten, im Machtkitzel usw. Bei den konservativ gerichteten Parteien wacht
dann gewöhnlich der Antisemitismus auf und treibt Blasen, während die
Liberalen gegen die Verfassung Sturm laufen und sich schrecklich demo¬
kratisch geben. Die Regierung aber wird zwar in Einzelfragen selten eine ge¬
schlossene Opposition, aber auch ebenso selten eine geschlossene Gefolgschaft haben.

Diese theoretische Erwägung findet sür die Verhältnisse in Deutschland-
Preußen eine bestätigende Illustration: der fünfte Kanzler hat in den drei
Jahren seiner Amtstätigkeit keine geschlossene Opposition zustande kommen lassen,
aber er hat auch noch keine Gefolgschaft, die mit ihm durch dick und dünn
ginge. Immerhin läßt sich eins nicht verkennen: die Zahl der Stimmen, die dem
Kanzler zu vertrauen beginnen, wächst — sie wächst langsam, dafür aber in
allen Lagern. Es wird erkannt, daß Herrn von Bethmann eines fremd ist:
Genügsamkeit in Scheinerfolgen. Diese Erkenntnis muß in allen positiv
gestimmten Charakteren zum wenigsten Sympathie, wenn nicht gar Vertrauen
auslösen, gleichgültig, ob man im übrigen konservativ, liberal oder demo¬
kratisch denkt.

Dieser zweifellosen Eroberung stehen aber als hemmende Momente gegen¬
über: die Beobachtung, daß der fünfte Kanzler im politischen Kampf scheinbar
eilig kapituliert, wo nach anderer Auffassung noch Mittel angewendet werden
könnten, den Willen der Negierung durchzusetzen und zweitens die allgemeine
Unkenntnis der Ziele des Kanzlers.

Über die Mittel für die Durchsetzung von konkreten Aufgaben wird sich
immer streiten lassen: der Temperamentvolle wird zu wenig heißen, was der
Kühle schon zu viel nennt; der Politiker konservativer Richtung wird ein Aus¬
nahmegesetz gut nennen, wo der Liberale sich in seinen heiligsten Empfindungen
getroffen fühlt; der Chauvinist beurteilt wirtschaftliche Vorgänge nach Gefühls¬
momenten, der kühle Volkswirt unterschätzt nur zu leicht die Imponderabilien.
Das wichtigste aber: nicht alle, die in der Politik glauben mitsprechen zu müssen,
find in der Materie so bewandert, wie man nach der Schroffheit ihrer Kritik
sollte annehmen dürfen. Für den Publizisten, dessen Aufgabe es u. a. ist, die in der
Tagespolitik tatsächlich gegeneinander wirkenden Kräfte zu erkennen und bewertend
darzustellen, ist daher mit solchen Urteilen und Äußerungen wenig anzufangen,
sie werden in erster Linie den Chronisten interessieren; wirkliche Klarheit aber
wird aus ihnen eigentlich nur der nach uns lebende Historiker gewinnen, dem
sich besser als dem Zeitgenossen die Ziele unserer Regierenden offenbaren können.
Erst wenn man die Absichten und allgemeinen Ziele des Reichskanzlers kennt,
wird man ermessen können, ob die von ihm angewandten Mittel zu ihrer Durch¬
setzung ausgereicht haben oder nicht, ob in diesem Staatsmanne ein starker Wille
zur Tat klug gehemmt wird, oder ob wir mit scheuem Zurückweichen vor ent¬
scheidenden Zugriff zu rechnen haben.

Wie weit sind wir nun über die Ziele des Kanzlers unterrichtet?


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/546>, abgerufen am 01.07.2024.